Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Zigeuner aller Länder vereinigt euch!

Im Umzug am 1. Mai mußten einem westeuropäischen Zuschauer die Gruppen schwarzhaariger, schwarzhäutiger und schwarzäugiger Menschen auffallen, auf deren Standarten solche Losungen standen: »Zigeuner aller Länder vereinigt euch!« – »Sollen wir ewig die Parasiten der Völker bleiben?« – »Hinein in den Zigeunerverband!«

Dieser Bewegung nachzugehen, war für besagten westlichen Beobachter aus Pflicht und Neigung unerläßlich, und so sah er sich wenige Tage später, in einem Hause der vom Petrowskipark abzweigenden Gasse, mit den Vorstandsmitgliedern des Verbandes konfrontiert. Die Unterhaltung verlief ohne sprachliche Schwierigkeiten, da die Funktionäre durchweg russisch sprechen können, und auch ihr Zigeunerisch sich nur in den Endungen von jenem der in Ungarn, in der Slowakei, in Böhmen und auf dem Balkan umherziehenden Stammesgenossen unterscheidet.

Der Allrussische Zigeunerverband (Name: »Wserossijski Sojus Cigan«, Adresse: Petrowski Park, Pierwi krasnoarmijski pereulok) ist eigentlich gar so allrussisch nicht, denn er ist vor kaum einem Jahre gegründet worden und stellt vorläufig nicht viel mehr als ein Amt in partibus infidelium dar. Die zwanzigtausend Zigeuner, die in Bessarabien, in der Ukraine und andern Teilen Rußlands, besonders im Süden, ein wahres Zigeunerleben führen, wissen noch nichts von ihrer in der Hauptstadt etablierten Vertretung oder wollen nichts von ihr wissen, geschweige denn ahnen die braunen Kesselflicker, Wahrsagerinnen, Zimbalschläger, Komödiantentruppen und Pferdemarktfieranten des übrigen Europa etwas von den Moskauer Bemühungen, daß im Konzert 168 der Nationen künftighin auch die Zigeunermusik mitspiele. Der externe Teil der Tätigkeit erstreckte sich bisher bloß auf Erlangung von statischem und Adressenmaterial und auf den Beginn einer Agitation, die vorläufig nur persönlich geführt werden muß, denn von den Zigeunern Rußlands sind neunzig Prozent Analphabeten, was um so weniger erstaunlich ist, als es überhaupt kein zigeunerisches Alphabet gibt. Der Verband faßt seine Protokolle in Zigeunersprache ab, die mit russischen Buchstaben geschrieben wird, aber in einer Sektion des Ministeriums für Volksaufklärung (Narkomproß) wird ein Alphabet und eine Grammatik der Zigeunersprache mit lateinischen Buchstaben zusammengestellt, damit sie wirklich für die Zigeuner aller Länder Bedeutung erhalten. In wirtschaftlicher Hinsicht wird intendiert, die Zigeuner von ihrem Nomaden- und Parasitenleben abzubringen, indem man ihnen Land zuweist. Über die Art der Durchführung bestehen zwei einander entgegengesetzte Projekte: die Zigeuner in den Gubernien möchten dort Ackerland bekommen, wo sie seit fast mehr als hundert Jahren »grundlos« ansässig waren und es auch noch heute sind, weil sie teils von einer Bodenverteilung nichts wußten oder von den Bauern davon ausgeschaltet worden sind. Die andere Richtung aber erstrebt die Schaffung einer rechtlich gesicherten Heimstätte, Wiedervereinigung der Zigeuner wie in ihrem Heimatlande, von dem sie freilich selbst nicht wissen, ob es am Ufer des Ganges oder am Ufer des Nils gewesen ist. Dieses Nichtwissen um die Urheimat hindert nicht, daß die zweite Richtung, die man einen »Zionismus der Zigeuner« nennen könnte, unter den Mitgliedern der zukünftigen Kolonialregierung die Majorität bildet.

Daß der Zusammenschluß womöglich noch schwerer sein wird als der der Juden, darüber gibt man sich keinem Zweifel hin, denn die Diaspora der Zigeuner ist verzweigter und schütterer, und zu dem Analphabetentum kommt ein unbezähmbarer anarchischer Hang, zu der Disziplinlosigkeit die Asozialität, die Bohemenatur. Trotzdem, und trotzdem die Taxe für die Aufnahme in den Verband einen Rubel beträgt und eine Monatsgebühr von fünfzig Kopeken zu bezahlen ist, gelang es, die Mehrheil der Moskauer Zigeuner zu organisieren. Der Vorsitzende 169 des Verbandes stammt aus dem Gouvernement Kursk, wurde 1917 zur Roten Armee ausgehoben, nahm am Bürgerkrieg teil und erhielt politische Aufklärung, die ihn zum Eintritt in die Kommunistische Partei veranlaßte – der einzige Kommunist des Verbandes, kein Zigeuner ist sonst imstande, die Lasten strengen Parteilebens zu tragen und sich der Disziplin zu unterwerfen. Wohl aber sind von den dreihundert Verbandsmitgliedern sehr viele in der Sektion der Estradensänger des »Serabes« (Künstlergewerkschaft) organisiert, und einige Mädchen bei den Komsomolsen. Die übrigen Zigeuner befassen sich zumeist mit Pferdehandel, die Frauen mit Handlesekunst und Wahrsagerei.

Beträchtliche Erfolge hat die Kultursektion des Verbandes zu verzeichnen. Früher bestand nicht bloß keine Schule für Zigeuner, sondern die Kinder konnten auch an keinem öffentlichen Unterricht teilnehmen, da sich von seiten russischer Eltern Vorurteile geltend machten, denen die Behörden Sanktion gaben, indem sie den Schulbesuch der Zigeuner nicht überwachten. Im August 1925 hat der Verband die erste Zigeunerschule des Erdballs gegründet, an deren Spitze eine Zigeunerin und eine Russin stehen. Die Gründung zweier weiterer Anstalten folgte im Laufe eines Jahres, und nun besuchen bereits einhundertzwanzig Moskauer Zigeunerkinder die Schulen im Rogosko-Simonowski-Rayon, des Butyrkabezirkes und des Krasno-Prestinski-Bezirkes. Russisch und zigeunerisch wird der Unterricht erteilt, die Wandzeitung, die die Kinder redigieren, heißt »Romani glos«, »Die Zigeunerstimme« – vielleicht die Urzelle der künftigen zigeunerischen Weltpresse. Die Kulturabteilung (ihr Vorsitzender Pankow ist ein äußerst belesener Fabrikarbeiter) hat auch Liquidierungspunkte gegen den Analphabetismus geschaffen, eine Musikschule, bei der freilich das Notenlesen nicht gelehrt wird, um die zigeunerische Eigenart des Nach-dem-Gehör-Spielens nicht zu vernichten, und Kurse für Pferdearzneikunde werden bereits abgehalten. Der Gesangs- und Gitarrenchor gastiert fast jeden Abend in einem andern Arbeiterklub. Zahlreichen Kindern mußte der Verband erst Kleider kaufen, um ihnen den Weg zur Schule zu ermöglichen. Die Zigeuner des Butyrka-Rayons sind rumänischen Ursprungs und derartig abergläubisch 170 und konservativ, daß einmal alle Kinder dem Unterricht fernblieben, weil tags vorher im Schulhaus eine Zigeunerin in einer Versammlung öffentlich eine Rede gehalten hatte. Die Lehrerin ist eine Russin, das störte die rumänischen Zigeuner nicht, aber dadurch, daß eine Stammesgenossin vor fremden Männern stehend gesprochen hatte, war das Haus entweiht und mußte durch eine Zeremonie entsühnt werden, sonst hätten es die Kinder niemals wieder betreten dürfen.

In den längst vergangenen Jahren des Prassens hatten manche Zigeuner, die im »Jarr« und andern Nachtlokalen des Petrowski-Parkes den Großfürsten und Großgrundbesitzern zum Sektgelage aufspielten, ganz stattliche Vermögen und Einkünfte. Noch heute gehört der Zigeuner Poljakow, der Regens-chori einer Sänger- und Tanztruppe war, zu den populärsten Leuten Moskaus und wird in seiner Branche nur vom Russen Schaljapin übertroffen. Viele Zigeunermädchen heirateten Aristokraten, und der Arbeiter Pankow hat eine Tante, die als Gräfin und Generalswitwe Solski in Nizza wohnt, überdies ist er durch seine erst vierzig Jahre alte, in Warschau lebende Großtante sehr nah mit der Zarenfamilie verwandt: sie hat den Fürsten Jurjewski, den unehelichen Sohn Alexanders II. geheiratet. Auch berühmte Maler und Musiker gingen aus dem Zigeunerstamm hervor, aber im Moment des Aufstieges verloren alle jeden Zusammenhang mit den Volksgenossen.

Was heute in Moskau an Zigeunern haust, ist zumeist unsagbar arm. Wenn man in die Holzhäuser kommt, die die Kirche »Mutter Gottes von Jerusalem« umstehen, so beleuchtet das seit der Revolution eingeführte elektrische Licht eine braune Geige, braune Wäsche und braune Haut. Nackte Kinder von zwei Jahren rutschen die Holzstufen aufwärts, die von drei Jahren aufwärts rutschen das Geländer abwärts. Der Besucher kann nicht viel anderes erfahren, als daß er achtzig Jahre alt werden wird, daß sich eine schöne Frau in ihn verliebt hat, daß ihm ein angenehmer Besuch »zusteht« – all das, was klar, deutlich und unwiderlegbar die Handlinien sagen.

Eines Abends gerät man zufällig zum Geburtstagstee, den die Tochter eines Pferdehändlers veranstaltet. Der 171 Pferdehändler ist keineswegs reich, obwohl in dem Vorraum der Wohnung einige vernickelte Pferdegeschirre hängen und seine Stube ziemlich groß ist. In der Ecke wendet die Mutter Gottes ihr Profil nach rechts, neben ihr wendet Lenin sein Profil nach links, und darunter brennt beiden das ewige Lämpchen; im übrigen bilden Pferdeköpfe, ausgeschnitten aus illustrierten Zeitschriften, das künstlerische Inventar. In dem Zimmer sitzen an dreißig Personen aller Altersklassen. Einjährige und zweijährige Kinder kriechen auf dem Boden umher, die Mädchen hocken auf den Fensterbrettern und auf der Erde, die Frauen auf dem Bett und auf jenen Stühlen, die nicht von Männern und Burschen besetzt sind. Welche Typen! Nubierinnen, Italienerinnen, Araberinnen, alle haben große schwarze Augen und glänzendes schwarzes Haar, ganz dichte Augenbrauen, blitzendweiße Zähne und schmutzige Hände. Die Männer tragen die natürliche Form des Bartes, aus Wange und Hals bricht das Haar ungebändigt hervor und kennt keinen Bartscherer. Es gibt kaum einen Menschen in diesem Gedränge, der nicht schön wäre. Wie sie so in drei oder vier Reihen übereinander liegen, sitzen und stehen, transponieren sie den Besucher in einen Gottesdienst der vorchristlichen Zeit.

Zuerst muß selbstverständlich der Fremde erzählen, von der Lebensweise der Zigeuner in Ungarn, davon, wie das Zimbal aussieht, und wieviel ein Geigenspieler in Wien verdient, und ob es wahr ist, daß ein ehemaliger Kesselflicker aus Serbien jetzt die größte Kupferfabrik der Welt besitzt. Dann zeigen die Kleinen ihre Schulhefte, die Größeren ihre Bilder, einige Burschen gehen nach Hause ihre Gitarren zu holen, es wird gesungen, ein Chor, der wie gellendes Wehklagen klingt.

Plötzlich stellt sich ein sechsjähriges Mädchen, Magelonka Swanirskaja, mitten im Zimmer auf, als ob sie Hüften und Busen hätte, stellt sie sich hin, beginnt zu tanzen, ein wunderbares kleines Persönchen, geht Magelonka ganz langsam wiegend im Kreise, zuerst mit den Fingern kokett an einem eingebildeten Halskettchen spielend, nun streckt sie die Ärmchen aus, flattert mit den Händen, als wären sie Tamburine, läßt den ganzen Körper vibrieren, als wäre er mit Schellen behangen, 172 und schwenkt einen großen bunten Seidenschal, der nicht vorhanden ist. Schneller wird der Tanz, sie lockt einen imaginären Freier und entzieht sich ihm im letzten Augenblick, immer schneller klappen die Füßchen auf und nieder, wechseln von Spitze zu Ferse im Shimmyschritt, einem alten Shimmyschritt aus dem Orient. Die andern singen dazu die »Taganka«, klatschen vorgebeugten Körpers in die Hände, und je leidenschaftlicher das Kind tanzt, desto leidenschaftlicher klatschen sie, oder je leidenschaftlicher sie klatschen, desto leidenschaftlicher tanzt das Kind, bis Klein-Magelonka in einer siegreichen Pose, die Arme in die Höhe gestreckt, endigt. Jetzt ist der Bann gebrochen, die Gitarren sind da, alle tanzen, jedoch nur einzeln, denn der Raum ist zu eng. Wenn aber einmal das Zion der Zigeuner erstehen wird in weiten Ländern und Flächen, werden alle gleichzeitig tanzen und singen – jahraus, jahrein, Tag und Nacht.

 


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