Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Putilow-Werke

Über, unter und zwischen Traversen, Laufkranen, Dampfhämmern, Treibriemen, Blöcken stolpert der Betrachter stundenlang hin und her.

Der gute Geruch heißen Eisens begleitet und erinnert ihn an Knabenzeiten, da er vor der Dorfschmiede stand.

Martinöfen arbeiten mit flackernden roten Augen, gefüllt mit frischem Gold sind die Coquillen, abgekühlt liegen die Stahlblöcke graublau da, wie Bausteine. In der Fassongießerei hocken Former mit Löffeln, Spachteln, Kellen, sie kopieren die Holzmodelle in den dünnen Sand der Formkästen. Schlanke Vasen aus Alabaster schmücken in langer Reihe einen Tempel, in dem unterirdische Feuer lodern. Nur Schamottetiegel sind diese Alabastervasen, sie haben die Mischung von Gusstahl, Ferrochrom, Nickel und Wolfram aufzunehmen; in den unterirdischen Opferfeuern, de facto Tiegelöfen, wird all das zusammengeschmolzen und in die Schränke gefüllt, die die Sandskulpturen einschließen. Ehedem diente der Formenguß ausschließlich den Produktionsmitteln und den Erzeugnissen des eigenen Hauses, jetzt wird auch für andere Unternehmungen gearbeitet, Schneidewerkzeuge und Maschinen an die einstige Konkurrenz geliefert, an die Leningrader Metallfabrik und die russischen Dieselmotorenwerke, vor allem aber an die hydroelektrische Station Wolchowstroj. (Die verwandelt die durch Stauung der Petropawlowsker Stromschnellen angesammelte Wasserkraft in elektrische Energie, in einen Strom von hundertzehntausend Volt: mit der Vollendung dieses Werkes, das dreißig Millionen Rubel kostet und an dem zehntausend Arbeiter beschäftigt sind, will Leningrad 1927 das zehnjährige 94 Jubiläum Sowjetrußlands feiern, ähnlich wie es Tiflis und Eriwan mit ihren Elektrizitätswerken und alle anderen Städte mit der Eröffnung öffentlicher Industrieanlagen zu begehen gedenken.)

Die Putilow-Werke bedürfen neuer Absatzgebiete, denn die alten sind eingeschränkt. Ohne Anordnung eines Friedensvertrages wurde der Hauptproduktionszweig, die Artilleriewerkstätten, beseitigt, Kanonen fabriziert auch Rußlands Krupp nicht mehr. Und die Lokomotiverzeugung ist stark zurückgegangen; während man im Frieden monatlich sechzehn neue Lokomotiven baute, genügen jetzt bloß zwei, das Eisenbahnnetz ist kleiner geworden, vom Warschauer Bahnhof gehen keine russischen Züge bis Polen mehr, vom Baltischeni keine bis Reval, Dorpat und Riga, vom Finnländischen keine bis Wiborg und Helsingfors; auch ist noch zu wenig Geld da, und man muß sich mit Reparaturen bescheiden.

In einer Backsteinhalle von hundertdreizehn Meter Länge und fünfunddreißig Meter Höhe sind die alten Maschinen auf Stellagen gehoben und sehen noch gigantischer aus als dort, wo sie leben und Kohlenfeuer zerkauen. Unter dem Laufkran, der in schwindlichter Höhe mit Lasten von siebzig Tonnen über dem Gehämmer dahinrollt, entstehen Lokomotiven des letzten Systems, solche, die mit einem Schwanz von dreißig Personenwaggons hundert Werst in der Stunde fahren. Neue Waggons werden gleichfalls zusammengefügt, und Straßenbahnwagen, – vierzig Stück hat eben »das sterbende Petersburg« bestellt, außer den hundert neuen Autobussen aus dem Ausland.

Der große Fabrikationszweig, den die Putilow-Werke inaugurieren, ist die Fabrikation von Fordson-Traktoren. In der Edelstahlschmiede senken sich, manchmal mit der unheimlichen Langsamkeit eines Tigerbisses, manchmal im knappen Niederfall der Guillotine, manchmal in sausendem Auf und Ab, die großen und kleinen Hämmer auf stählerne Blöcke, plattgeschlagen werden sie zu Flachstahl oder zylindrisch geformt zu Rundstahl von allerhand Profilen, die in der Sortierungsabteilung fertigzustellen und dann doch noch nicht fertig sind; denn die thermische Bearbeitung harrt ihrer. Die Kleinschmiede: Bolzen, Nieten, Kurbelwellen, Schrauben, Schraubenmuttern, Eisenbahnfedern, Details für Dampfpflüge und Textilmaschinen und Hebezüge 95 in statu nascendi. Eben hebt der Kran eine Kurbelwelle von zehn Tonnen Lebendgewicht aus dem Fegefeuer des Schmelzofens in die Hölle der hydraulischen Presse: der rote Kopf eines roten Nilpferdes – die Hängebacken zerfressen von der Flechte des Zunders – senkt sich auf die Schlachtbank, zehn Metzgerknechte mit Knüppeln und Stangen schieben ihn zurecht, sie setzen ein Messer auf den Dickhals, schlag' zu, hydraulischer Henker! der hydraulische Henker schlägt zu und der Nilpferdnacken wird schmäler um ein starkes Stück. Jetzt drehen ihn die zwanzig Schlächterarme auf die andere Seite, wieder der Hieb aufs Messer, wieder auf eine andere Seite und dann auf die vierte, und Meister Dickhals ist zum Meister Schwanenhals geworden – ein Knie der Kurbelwelle ist fertig.

Der Hof: Hof eines Eisenwerks. Schwarze Rauchfänge aus Rundblech und hohe rote Schornsteine, eine Holztribüne – Fallwerk zum Zerbröckeln von Gußeisen – und Naphthatanks gliedern ihn vertikal. Der Fuß des Betrachters aber strauchelt über Schwellen und Schienen, tappt in Ölpfützen, stößt auf Winkeleisen, besteigt Hügel von Kalkstein, Gematit, Gußeisen, Kohle und rotem und schwarzem Schrot, an Laboratorien vorbei, Gießereien, Kesselschmieden, Preßschmieden, Dampfzentrale, Motorzentrale, Administrationsgebäude, Montagewerkstätten, an metallurgischen und mechanischen Betrieben. Man kennt das alles vom Bochumer Verein her, von Krupp, von der Poldihütte, von den Arsenalen in Wien, Pola und Wilhelmshaven, von den Werften in Hamburg und London, man kennt den Zauber des Walzwerks, man weiß, wie der heiße Block unwillig sprüht, wenn ihn die Fänge der Walze packen, und daß es ihm nichts nützt, er muß durch, muß wieder durch, bis er transsubstanziert ist in eine Hydra mit sechs flammenden Köpfen, die sich gierig durch den Raum stößt und von neuem zurück muß, woher sie gekommen ist, und hervorspringt, ja springt, wer sah schon eine springende Schlange?, sie springt zweimal, dreimal, sie bäumt sich zum viertenmal und schlängelt sich kriechend weiter, rasch, aber bäuchlings, wie sich's für eine Schlange geziemt, und wäre sie noch so golden und noch so lang und noch so schmal – ließe sich erraten, daß sie vor kaum fünf Minuten 96 ein breiter Stahlblock war? Man kennt diesen Zauber, an dem alle Künste scheitern, man hat schon Stunden damit verbracht, ihm zuzusehen, und kann den Blick nicht wenden . . .

Kam man jedoch von Mitteleuropa hierher an den Finnländischen Meerbusen, neuerlich der Magie des Eisens zu unterliegen? Man kam hierher, die Putilow-Werke zu obduzieren; denn daß sie tot seien, war seit 1918 allenthalben gelehrt worden und überdies klipp und klar bewiesen, warum sie sterben mußten: weil ohne Initiative des Unternehmers, der seinerseits seine Initiative durch die Aussicht auf die Profitrate nährt, kein Betrieb bestehen könne . . . Wie man eben sieht, lebt Moribundus noch immer, ist recht rüstig und regt sich unaufhörlich. Elftausendachthundert Arbeiter sind in drei oder vier Schichten Tag und Nacht am Werk.

»Jede Selbstverwaltung der Arbeiterschaft«, so hieß es in Zeitungen und Versammlungen, und höhnische Lustspiele und Witze illustrierten das Axiom, »jede Selbstverwaltung der Arbeiterschaft lähmt die Produktion derart, daß sie binnen kurzem eingestellt werden muß.« Wie steht's nun mit den Arbeitern? Sie arbeiten wie anderswo, man sieht ihnen, wenn sie mit dem hydraulischen Meißel eine Form von Schlacke reinigen, wenn sie in Kesseln hämmern, Öfen heizen, Karren schieben, Bandeisen schneiden, Krane treiben, Modelle nachformen und Stahl gießen, nicht an, daß sie die Herren der Fabrik und des Staates sind. Auf die weißen Asbestwände, die einen Arbeitsplatz von der Glut des angrenzenden Ofens schützen, sind satirische Bilder gekritzelt, von der gegossenen Hauskapelle in der Halle der Grobschmiede ist nur die Hinterwand stehengeblieben und dient als »Schwarzes Brett«, und an allen Mauern hängen bunte, eindringliche Bilderplakate des Arbeiterschutzes: »Während der Arbeit denke an die Arbeit« – eine Gruppe von hobelnden Arbeitern, einer liest das humoristische Wochenblatt »Krokodil« vor, und einem der lachenden Zuhörer gerät die Hand in den Seitenhobel. – »Eßt nicht in der Werkstatt« – ein gesunder Arbeiter verzehrt beim Gußofen sein Frühstück, Mikroben und Ruß fliegen auf das Butterbrot, und auf dem Gegenbild liegt der gesunde Arbeiter krank im Lazarett. »Bring' den 97 Treibriemen nicht mit der Hand in Ordnung!« – »Wirf kein brennendes Streichholz fort!« – »Wenn du stehend arbeitest, sitze in der Pause, wenn du sitzend arbeitest, erhole dich stehend!« – »Wenn du Alkohol getrunken hast, arbeite nicht!«

Streik gibt es nicht mehr. In den Putilow-Werken! Deren Arbeiter waren seit eh und je die radikalsten in der sozialistischen Bewegung Rußlands – wie überall die Arbeiter der Eisenreviere. Kohlenarbeiter sind dumpf und gedrückt, aus der Psychologie der Grube glauben sie an eine Lösung durch die Katastrophe, sie neigen zum Anarchismus, Metallarbeiter aber wissen, daß sich auch ein Stahlblock in Flächen und Linien verwandeln läßt, wenn man's versteht. Der Streik der Putilow-Werke leitete die Revolution von 1905 ein, von hier aus zogen sie am Sonntag, den 9. Januar unter Führung des Priesters Gapon durch die Narwaer Triumphpforte zum Zaren, um Gerechtigkeit zu suchen und Gewehrsalven zu finden, von hier aus wurde damals der erste Arbeiterrat Petersburgs organisiert, dessen Mitglieder mitsamt dem jungen Vorsitzenden, namens Trotzki, verhaftet, verurteilt und in die Verbannung geschickt wurden, und von hier aus wurde, nachdem während des Krieges 35 000 Menschen an der Herstellung von Kriegsmaterial gearbeitet hatten, das Schicksal Kerenskis in den Straßen Petrograds entschieden. Und jetzt sind die Metallarbeiter von Putilow staatserhaltende Elemente.

Über die Verhältnisse der Arbeiterschaft kann man im Bureau des Betriebsrates Auskunft bekommen. Zweiundachtzig Prozent beziehen Akkordlohn, also nur achtzehn Prozent sind Tagelöhner. Es gibt, wie in allen Industrieanlagen Rußlands, siebzehn Lohnkategorien (Rosrjady), der Mindestlohn der ersten Kategorie beträgt 16 Rubel 75 Kopeken (ohne Zulagen) und jeder nächste erhöht sich um einige Prozent, solcherart, daß der Mindestlohn der siebzehnten Kategorie achtmal so groß ist wie der der niedrigsten, demnach 134 Rubel. Der ersten Stufe gehören bloß die sechzehn bis achtzehn Jahre alten Schüler des Fabzautsch an, derzeit 220, die vier Stunden theoretischen Unterricht und vier Stunden Arbeitsunterweisung in der Fabriksbrigade nehmen. Die anderen verdienen ihren tarifmäßigen Stundenlohn plus Akkordlohn, der etwa 118 Prozent beträgt, in den höheren Kategorien 98 zusammen etwa 60 bis 62 Kopeken per Stunde. Auf der zweiten Stufe stehen elf Arbeiter, die 40 Rubel 24 Kopeken im Monat verdienen, auf der dritten Stufe 679 mit je 58 Rubel 73 Kopeken, auf der vierten 1368 Mann mit Monatseinkommen von 66 Rubeln, Stufe fünf: 1852 mit 78 Rubeln, Stufe sechs: 1739 mit 88 Rubeln, Stufe sieben: 1381 mit 101 Rubeln, Stufe acht: 853 mit 119 Rubeln und Stufe neun: 1932 mit 134 Rubeln. Die anderen acht Lohnkategorien sind (zum größten Teil ohne Akkordzuschuß) auf Kanzleikräfte, Ingenieure, kommerzielles Personal und Spezialisten (»Spez«) verteilt, der technische Direkter Sablin erhält fünfhundert Rubel im Monat, der aus dem Arbeiterstand hervorgegangene, also »rote« Direktor Gratschoff, dem die gesamten Putilow-Werke unterstehen, bezieht 192 Rubel im Monat, den Höchstlohn, den ein Kommunist annehmen darf. (Zur Illustrierung dieser Ziffern sei angeführt, daß in Leningrad 400 Gramm schwarzes Brot drei bis fünf Kopeken kosten, weißes Brot neun bis zwölf Kopeken, und 400 Gramm Rindfleisch 40 Kopeken.)

Das Fabrikkomitee besteht aus fünfundzwanzig Mann: dreizehn Kommunisten, zwölf Parteilose, gewählt für ein Jahr, aber jeder kann vor Ablauf dieser Zeit abberufen werden, wenn es ein Drittel seiner Wähler wünscht. Jedes Mitglied des sechsgliedrigen Präsidiums, das den ganzen Tag amtiert, bezieht 192 Rubel, auch die Volkskommissare im Kreml haben nur dieses Einkommen. Der kommunistischen Zelle der Putilow-Werke gehören 2250 Arbeiter an. Dieser Betriebsrat entscheidet alle Lohndifferenzen, besonders die Einteilung in die Rosrjady und die Abrechnungen, die Fragen des Arbeiterschutzes und der Fabrikorganisation, und untersteht der Metallarbeitergewerkschaft. Außerdem gibt es natürlich eine große Einkaufsgenossenschaft, eine Ortsgruppe des »Mopr« (Gefangenenhilfe), ein Smitschka-Komitee, das die Beziehungen zwischen Stadt und Dorf zu intensivieren hat, eine Kulturkommission, deren Obhut siebenhundert Jungpioniere, die Fabrikschule für vierzehn- bis sechzehnjährige, die Schulen und die Krippen für Kinder und die Bibliothek anvertraut sind, eine Abteilung des »Avioradiochim«, ferner noch ein Komitee zur Liquidierung des Analphabetentums, eine Chefkommission, die die Funktion der Putilow-Werke als Inhaber dreier Regimenter 99 und als Patron eines ganzen Landbezirkes (Opotschensk) durch Belieferung mit Radioapparaten, Büchern, Filmen und Vorträgen auszuführen hat, einen Marx-Cercle und einen Lenin-Cercle, Theaterverein, Gesangverein, Schachklub, Sportklub, Frauenzelle (320 weibliche Kräfte sind in den Putilow-Werken tätig als Hilfsarbeiterinnen) und vor allem den großen Klub, der in einer ehemaligen Kirche untergebracht ist, ein Theater und zwei Kinos. Der Urlaub beträgt vierzehn Tage im Jahr, in den heißen Betrieben, Schmiede, Stahlgießereien und Walzwerk, wo übrigens die tägliche Arbeitszeit bloß mit sechs Stunden bemessen ist, einen Monat; sechshundert Mann verbrachten ihn in dem großen Sanatorium auf dem Kameni Ostrow, einige mit ihren Familien auf den »Datschen«, den Holzvillen der Umgebung oder in den Kurorten von Krim und Kaukasus. Das kann man den Eintragungen entnehmen, es stimmt jedoch nicht mit dem überein, was man uns seit 1918 gelehrt hat.

 


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