Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Hochwasser als Spaß

Das Eis ist endlich, endlich geplatzt, sieben Monate vermummte es den Moskwafluß, endlich, endlich ist es geplatzt, selbst hierher kommt der Frühling, wenn auch ramponiert, etwa im Zustande von Napoleons Invasionsarmee, und bald wird er in dem noch ärgeren Zustande des geschlagenen Heeres flüchten. Zwischen Einzug und Auszug des Jahres 1813 lag der Brand Moskaus, während sich jetzt ad analogiam eine Wasserbrunst ereignet.

Allzu fest war's gefroren, und da nunmehr die Rückkehr in den flüssigen Aggregatzustand erfolgt, kann der Trog die Massen nicht fassen. Vorausgesagt haben es alle Hydrographen, der Mossowjet hat Anordnungen getroffen und die Mieter der Uferwohnungen delogiert, die Tretjakow-Galerie und andere Häuser bekamen Lattenüberzüge mit Teeranstrich auf die Fenster, die Pumpen aller Feuerwehrstationen wurden auf die Kais beordert, und insbesondere das Elektrizitätswerk, dessen Lahmlegung eine Katastrophe bedeuten würde, mit großen Vorkehrungsmaßnahmen bedacht.

Die Sorge um das Schicksal der Stadt – mindestens eine Brücke, der Mali Kameni Most, wird todsicher zertrümmert werden – das Mitgefühl mit den ihres Heims beraubten Leuten und den arbeitslosen Angestellten der Fabriken im Inundationsgebiet bewirkten, daß ganz Moskau von morgens bis spät nachts am Wasser steht und sich königlich amüsiert. Keineswegs aus Schadenfreude. Im Gegenteil, am fidelsten sind die Leidtragenden: die obdachlos werdenden Familien scheinen für das Interesse, das sich ihnen von Zehntausenden zuwendet, eine Gegenleistung bieten zu 76 wollen, indem sie sich mit Witzen zum Publikum kehren: »Glauben Sie, daß alle Ratten in unserer Wohnung jetzt ersaufen werden?« fragt ein schmunzelnder Vater von der Höhe des Wagens herab, auf dem Betten, Weib, Hund, Schränke und Kinder davonfahren, aus der Menge ruft man Antworten, vom nächsten Wagen schreit ein Auswanderer, eifersüchtig auf den Heiterkeitserfolg des Nachbars: »Bei uns konstituieren sich die Mäuse bereits als Mieterrat.« – »Bravo, bravo!« Auch die noch weniger witzigen Opfer sonnen sich in dem Gefühl der Bevorzugung, sie dürfen den Kai betreten, der im übrigen bloß den Wassermassen geöffnet und dem gewöhnlichen Publikum verschlossen ist.

Beim Doragomilowski Most ist der Kontakt zwischen Betroffenen und Eingetroffenen innig, die Mitspieler der Tragödie gehen offensichtlich darauf aus, Heiterkeitssalven zu erwecken. Im Fenster des ersten Stockwerks sitzt ein Mann und angelt. Um die Aufmerksamkeit, die er bei der Menge erregt, beneiden ihn die Nachbarn, und aus dem Fenster des Nebenhauses ruft eine Frau: »Wir brauchen nicht zu angeln, uns schwimmt die Ucha (Fischsuppe) direkt auf den Tisch!« – »Bravo, bravo!« Duplik: »Ich angle doch keine Fische, ich will mir ein Haus aus dem Wasser fischen!« – »Bravo, bravo!« Ein Lastauto fährt heran, die Räder im Wasser, es wird aus dem Fenster mit Hausrat beladen, Kinder hinabgereicht, die größeren springen selbst, dann der Familienvater und schreit (mehr in den Zuschauerraum als zum Chauffeur): »Fahren wir schnell ab, bevor meine Alte mitkommt.« – »Bravo, bravo!« Doch die Alte kommt mit, sie schwingt sich herab, der Saum des Kleides verhaspelt sich am Fensterrahmen, rote Barchenthosen blitzen: »Bravo, bravo!«

Ein Mann auf bepackter Karre verkündet, da diese absichtlich oder unabsichtlich stecken bleibt, den Neugierigen mit dem Stolz eines Kriegsvereinlers, der von alten Schlachten erzählt, das sei schon die zweite Überschwemmung, die er mitmache. »Aber 1908 sind wir vorher gar nicht gewarnt worden, wir wachten morgens auf, und die Möbel schwammen im Zimmer herum – ein unverhoffter Gast ist schlimmer als ein Tatar.« – »Ja, ja, jetzt ist alles organisiert. Der Gosplan (Kommissariat für 77 Planwirtschaft) ordnet einfach an: morgen ist Überschwemmung, und dann muß eben morgen Überschwemmung sein. Ertrinken gibt's nicht. Wer ertrinken will, muß eine Bewilligung vom Bezirksausschuß haben.« – »Bravo, bravo!«

Die Brücken sollen den Anprall der dahinjagenden Eisschollen aushalten, man will sie daher nicht übermäßig belasten, außerdem könnten die Passanten bei einem Einsturz ums Leben kommen. Andererseits soll der Verkehr zwischen den Stadtteilen nicht unterbunden werden. Deshalb darf niemand das Brückentrottoir betreten und in der Fahrbahn niemand stehenbleiben. Am Bürgersteig sind also die Pferde der Milizionäre postiert und die Fußgänger sind auf der Fahrbahn, verkehrte Welt. Da niemand stehen darf, und keiner daran denkt weiterzugehen, so ist aus Befehl und Wunsch eine Synthese gezogen worden: man marschiert auf der Stelle, man steht, aber im Profil und hebt die Knie. Schwarz sind die Brücken von Menschen, die in das Wasser starren und jauchzend jeden Eisberg begrüßen; sie hoffen, daß er den Pfeiler zerschmettern und sie allesamt eisig ersäufen werde, damit's eine Hetz gibt.

Am Abend, wenn auf den Stufen der Erlöserkirche und auf den Mauern von Kitaigorod und Kreml und auf den Brücken die Bewohnerschaft, Kinder und Pflegekinder von Mütterchen Moskau vollzählig versammelt sind, geht die Sonne unter, und man würde nichts von dem unterhaltsamen Eisgang sehen – falls nicht Vorsorge getroffen worden wäre: Scheinwerfer beleuchten das ganze Flußbett. Mit welcher Motivierung? Mit solcher Motivierung: es könnte doch ein Mensch auf einer losgerissenen Eisscholle sitzen oder ein Ochse, und man vermöchte dann, wenn auch mit wenig Hoffnung auf Erfolg, den Versuch machen, ihn zu retten. Gewiß, so etwas ist möglich und ist sicherlich bereits vorgekommen. Und mit derselben Begründung sollte man die Dächer Moskaus allnächtlich mit Reflektoren daraufhin absuchen, ob nicht ein Mondsüchtiger über die Traufe zu stürzen droht . . .

Übrigens muß man sagen, daß ein Eisgang nicht die langweiligste Art von Volksbelustigung ist. Die Natur zeigt sich hier in ihrer wahren Natur. (»Kisch,« pflegte ein alter 78 Lokalredakteur zu einem jungen Reporter zu sagen, »Kisch, schimpfen Sie nicht immer auf die Natur, ein Journalist weiß nie, ob er sie nicht brauchen wird. Kann er kein Tatsachenmaterial bekommen, muß er froh sein, wenn er fünfzig bis sechzig Zeilen lyrische Landschaftsschilderung zu schreiben hat.«) Also, es sei anläßlich des Eisgangs nicht die Natur beschimpft, im Gegenteil, loben wir sie, daß sie diesmal nicht heuchlerisch die Maske frommer Idyllik umgebunden hat, sondern sich in ihrer ganzen rohen Wut und Gier und Geilheit dem versammelten Publico offenbart. Sexualkampf zwischen Wind und Winter. Es ist lange her, seit sich Winter, Selbstherrscher Rußlands, auf die temperamentvolle Moskwa warf, und mochte Genosse Wind noch so eifersüchtig die spanische Wand aus Eis entlang jagen, hinter der sich sein Komparativ mit der Moskwa verbarg, er konnte nicht erfahren, was dahinter vorgehe, er zischte vor Wut und Erregung, er ahnte nichts Gutes, er war neurasthenisch von der Zurückhaltung, sehnte sich, da unten im Bett mit dem Wasser wieder seine Liebesspiele zu treiben. Vergeblich. Jetzt aber, der 1. Mai ist nahe, jetzt hat er die Macht, den Nebenbuhler zu zertrümmern und die Mauer seines Liebespavillons, jetzt prügelt der Wind den Winter und die Wand und das Wasser, das sich bäumt unter den Hieben des Geliebten und unter den Leichenteilen des Schänders davonjagt in irrsinniger Flucht.

Man begreift die Ausdauer der Gaffer auf Brücke und Brüstung und ihre angeregte Stimmung, die sich erhöht, wenn kolossale Gliedmaßen des zertrümmerten Zaren talwärts stürzen und mit ihnen Möbelreste aus der Nachbarschaft, Holzblöcke und Bäume oder Komposthaufen oder gar das Dach eines Hauses, das wie ein accent circonflex auf der flüssigen Zeile liegt. Bloß schade, daß die mächtigen Stücke nicht an den Brückenpfeilern zerschellen oder gar die Brückenpfeiler an den mächtigen Stücken. Nicht einmal der Mali Kameni Most, der beinahe ganz unter Wasser steht, und dessen Untergang einstimmig geweissagt wurde, geht kaputt. Schade, jedoch immerhin staunenswert. Was aber ist zu bestaunen, wenn der Eisgang vorbei ist, wozu noch in das Becken glotzen, wenn die Wasserspülung keine tragende Rolle mehr hat, sondern einfach zwecklos 79 weiterfunktioniert? Wasser fließt, Wasser und wieder Wasser, eintönig, braungrüne Litanei. An den Rampen staut es sich und wirbelt in schäumendem Strudel. Nur an Lichtreflexen und Strichen erkennt man: die Wogen eilen, sie eilen wie alles, das keinen Grund zur Eile hat. Nichts hat einen Grund. Die Häuser haben keinen Grund, Fensterreihen stehen halb im Wasser, Dächer in der Luft und man kann nicht wissen, wieviel Stockwerke sich unter ihnen im andern Element verbergen, die Kabelleitungen am Ufer haben keinen Grund und die Bäume und die Kaibrüstung, die die Wasserfläche in drei Längsschiffe teilt, die Scheinwerfer haben keinen Grund, ihr Licht leuchten zu lassen, die Menschenmenge hat keinen Grund, stundenlang hinabzustarren und sich zu amüsieren, und es gibt keinen Grund dafür, neue Naturmythen auszuhecken und mehr oder minder richtige Bemerkungen über eine Wasserkatastrophe niederzuschreiben, mag diese auch noch so humoristische Stimmungen bei Beteiligten und Unbeteiligten auslösen.

 


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