Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Universität für Fabrikarbeit

I. Der Aufmarsch der Studenten

Das Signal schrillt, die Schüler marschieren wie Turner ein, in Zweier-Reihen, Sibirier sind auch darunter und Malaien, Jünglinge und Männer, sie stellen sich auf sechzehn Postamente, die nach der Größe des einzelnen gehoben oder gesenkt werden können, für Kopf und Füße sind Schablonen da, ihren Körper schnallen sie fest, so daß er sich weder vorneigen noch zurücklehnen kann, der Stuhl steht einen halben Meter hinter jedem, der Arbeitsplan liegt linker Hand, das Handwerkszeug rechts an markierten Stellen des Tisches, für die zehn Finger sind Einbuchtungen auf dem Werkzeug und dem zu behandelnden Eisenstück, Apparatur der Drehbank, Räder und Treibriemen bleiben vorerst verdeckt, damit der Schüler von seiner Aufgabe nicht abgelenkt werde.

Wieder schrillt das Zeichen, Beginn. Eine Minute dauert die Arbeit, dann müssen sich alle setzen, nach einer weiteren Minute wieder anfangen. Später ist für zwei Minuten Tätigkeit, noch später für fünf Minuten Arbeit eine Einminutenpause vorgeschrieben, am Schluß kann jeder die vier Stunden nach Belieben in Akt und Zwischenakt einteilen. Die den Fingern reservierten Einbuchtungen werden nach einigen Lehrstunden abgeschnallt, die Masken der Räder entfernt, und der Schüler arbeitet frei, wobei eine Nadel jeden Fehler denunziert, die Rüge erfolgt durch Aufleuchten eines roten oder weißen Lämpchens.

Auch die Kommandos werden maschinell gegeben, ein sich abrollender Zelluloidstreifen, durchlöchert, löst die Kontakte der 68 Signale aus – der Automatische Professor; für jede Lektion ein Filmband, die Instruktion des Instruktors.

In hundertvierzig Stunden lernt der Student die exakte Bedienung der Drehbank, was in der Praxis des Betriebs bei häufigen Fehlleistungen drei bis vier Jahre dauert. Vierhundertsechzig Schüler werden jeweils im Institut ausgebildet, in verschiedenen Kursen, jeder bleibt so lang, bis er mindestens den fünften Grad der Qualifikation erworben hat (die Metallarbeiter Rußlands sind in neun Wertklassen eingeteilt). Der Kurs für Instruktoren, die im ganzen Lande verteilt werden, dauert etwa fünf Monate.

Hauptsächlich werden Arbeiter im Lehrlingsalter aufgenommen, jedoch auch Intellektuelle, die zum geachtetsten Beruf des Arbeiterstaates übergehen wollen. Besonders qualifizierte Kräfte der Betriebe werden gleichfalls in die Anstalt entsandt, aber man macht mit ihnen schlechte Erfahrungen, weil sie schon an Griffe gewöhnt sind, die der wissenschaftlich rationalisierten Art nicht entsprechen.

II. Der Zweck der Anstalt

Der junge Fabrikarbeiter träumt davon, hier, im roten Eckhaus der Petrowka sein Examen zu bestehen, das Unterrichtskommissariat möchte die Methoden des Z. I. T., des Zentralni Institut Truda in allen Schulen der Union eingeführt sehen, die Gewerkschaften wollen die Systeme der metallurgischen und holztechnischen Arbeiten auch auf Textilwaren, Baugewerbe, Bergbau und Transportwesen und sogar auf Kanzleiarbeit ausdehnen, aus den Fabriken kommen dringliche Zuschriften um Überlassung von Absolventen, und aus dem kapitalistischen Ausland gibt sich Interesse an dieser Lehrweise kund. Nachdem der Bürgerkrieg Hunderttausende von Arbeitern unter die Fahnen gerufen und dahingerafft hatte, nachdem die Banden der weißgardistischen Generale und die Interventionsarmeen bei ihren Rückzügen vor allem Fabrikunternehmungen zerstört hatten, um sich an dem Industrieproletariat zu rächen, und während der Blockade, die keinerlei Waren einließ, hieß es vor allem, den Produktionsprozeß grundlegend zu bessern. Der Massenverband 69 N. O. T. (Narodni Organisaze Truda) führte in allen Betrieben Reorganisationen durch und wirkte propagandistisch auf die Hebung der Arbeitsfreude ein, die Zeitliga kämpfte erfolgreich in Gewerbeunternehmungen, Verwaltungskanzleien, Schulen, Vereinen und Eisenbahnen gegen die (in Rußland mehr als anderswo eingerissene) Zeitvergeudung an.

Der Aufgabe, die Arbeit zu rationalisieren, unterzog sich Alexeij Gastew, ein Lyriker, der um diese Zeit der Poesie entsagte; gewesener Pädagoge, war er unter dem ancien régime wegen revolutionärer Umtriebe nach Sibirien verbannt worden und von dort geflüchtet, hatte in Deutschland und Frankreich als Metallarbeiter seinen Lebensunterhalt verdient und hierbei die Unterschiede der Betriebsführung kennengelernt. Um die Methodik amerikanischer Werkstätten bereichert, brachte er es fertig, einige Handgriffe des Taylorismus, die drüben in ihrer lebenslänglichen alleinigen Anwendung den Menschen im Arbeiter vernichten, zugunsten des Arbeiters seinem System einzufügen.

III. Wie lernt man manuelle Arbeit?

Die Rationalisierung der russischen Industrie beginnt damit, daß der Schüler des Institutes eine Stange in die Hand zu nehmen und sie aus dem Handgelenk nach verschiedenen Richtungen zu drehen hat; dann schwingt er mit eingepreßtem Oberarm eine Keule. Die erste der Übungen mit dem Handwerkszeug ist die: eine halbe Stunde lang einen mit elektrischer Kraft auf den Amboß fallenden Hammer zu halten. Bei der nächsten ist der Unterarm des Lehrlings festgeschnallt und nur das Handgelenk begleitet die Bewegung. Hierauf wird ohne Strom mit dem Hammer hantiert, dessen Griff allerdings mit Moulagen für die fünf Finger versehen ist; auf kaltes Blei oder auf glühendes Eisen wird der Hammerschlag geführt. Dann auf einen eisernen Meißel. Dieser hat zunächst einen etwa zwanzig Zentimeter langen wagrechten Stiel, den der Arbeiter festhält, um sich nicht in die Hand zu treffen. Nach kurzem Training nimmt er einen Meißel, dessen seitlicher Griff nur mehr zehn Zentimeter beträgt, dann einen dritten, dessen Stiel derart verkürzt ist, 70 daß die geballte Faust das Eisenstück berührt. Hernach erst darf er den Meißel direkt umfassen. Während ein Lehrling in der Fabrik mindestens vier Monate braucht, ehe er den Schlag auf einen festgehaltenen Keil führen kann, ohne die Besorgnis, seine Linke zu treffen, läßt der Student der Arbeitsuniversität bereits nach acht bis zwölf Stunden den Hammer furchtlos und sicher niedersausen. Ursache dieses Erfolges: der Meißelschlag, der sich dem Laien als eine einzige Bewegung darstellt, ist durch zeitlupenartige Beobachtung als Summe von Teilbewegungen erkannt worden, und diese sind es, die einzeln in vollkommener Weise gelehrt werden.

Die Befeilung ist die zweite typische Operation für die Werkzeug-Muskelarbeiten. Seitliche oder höhenmäßige Abweichungen der elektrisch bewegten, jedoch vom Schüler gelenkten Feile werden durch Aufflammen eines Signals verraten. Die Sägen und die Hobel, an denen gelernt wird, sind anfangs in den erfahrungsgemäß rationellsten Winkel eingespannt, sie haben, ebenso wie die Stemmeisen und die Bohrer, Kontakte zur Anzeigung der Fehler. Mit der drei Millimeter breiten Spitze der Bohrmaschine hat man zuerst einen Kreis von zehn Millimetern, später von sechs und schließlich von drei Millimetern zu treffen. Das anzubohrende Holz ist in verschiedenen Breiten mit metallenen Widerständen versehen, auf die der Arbeitende zu achten oder sie zu erfühlen hat; um das Abbrechen der Spitze zu verhindern.

IV. Das Examen ohne Examinator

Kurz nach dem Eintritt legt der Schüler eine Eignungsprüfung ab, und vor dem Verlassen des Instituts eine Geschicklichkeitsprüfung, die wohl einzigartig ist: in einer Kammer wird er an eine gewöhnliche Drehbank gestellt und bekommt die Aufgabe, ein Stück Eisen zu einem Würfel abzuhobeln. Er bleibt allein, die Tür ist geschlossen, und er muß gar nicht ahnen, daß selbst die geringste seiner Bewegungen in einem andern Raum elektrisch registriert wird. Setzt er sich nieder, wird ein Kontakt ausgelöst, der die Dauer des Sitzens mit roter Tinte verzeichnet. Mißt er einen Winkel, wird der Strom 71 unterbrochen (durch das Liegen des Winkelmaßes auf dem Pult war er hergestellt), und mit blauer Tinte vermerkt sich, wie oft und wie lange er kontrolliert. Nimmt er das Eisen aus dem Schraubstock, legt er die Feile hin, berührt er eine Schraube oder ein Rad – alles wird in jenem entfernten Raum selbsttätig notiert. Mit großem Staunen kann er dann sein automatisch ausgestelltes Zeugnis studieren, das über jede seiner Regungen im stillen Kämmerlein mit verschiedenfarbigen Tinten Auskunft gibt.

Außer dieser »Bioingenieuren-Klinik« ist ein Laboratorium für Arbeitskontrolle da, den Wert des bearbeiteten Materials und der vollendeten Produkte zu konstatieren. Im Bureau der Instruktoren werden die Erfahrungen verwertet, Programm und Arbeitspläne entworfen. Die Abteilung der Sozialingenieure prüft den Einfluß der Instruktoren auf die Arbeit und führt die physiologischen Untersuchungen des Blutkreislaufes, der Atmung und dergleichen durch und überwacht auch das vorgeschriebene tägliche Training im Turnsaal, die Aktivation, wie man die Arbeit des menschlichen Körpers zum Unterschied der Statik und der Dynamik der Werkzeugsarbeit nennt. Der theoretische Unterricht am Abend gilt der Revolutionsgeschichte und dem Gewerkschaftswesen, und wer auch darin begabt ist, kann sich hier im Hause außer dem Adel der Arbeit noch den zweiten Adel erwerben, der in Rußland Bedeutung hat: den der Menschen, die den Sozialismus erfaßt haben.

 


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