Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Russland in der Eisenbahn

In Moskau kommt der Petersburger Zug auf dem Nikolajewski Woksal an und fährt vom Kurski Woksal weiter, die beiden Bahnhöfe sind einander nahe, eine Viertelstunde genügt, um mit dem Schlittenkutscher handelseins zu werden, und zehn Minuten währt die Fahrt.

Jedoch die Platzkarte (russisch: Platzkarta) hält auf: obwohl man sie bereits besitzt, hat man am Schalter die Nummer des Waggons und des Platzes ausfüllen zu lassen, und das dauert noch länger, als in einem russischen Postamt eine Briefmarke zu kaufen. Bedrohlich naht die Minute der Abfahrt, der Mann im Fenster läßt nicht von seiner Gemächlichkeit, und die Leute, die Queue stehen, werden nicht nervös, alle Menschen haben hier Zeit und Geduld, unfaßbar viel Geduld.

»Moskau–Sebastopol«, »Moskau–Rostow«, »Moskau–Nishnij-Nowgorod« steht auf einigen Waggons, dort nehmen nur Reisende kurzer Fahrt Platz, sie haben bloß eine Strecke zurückzulegen, die etwa so lang ist wie von Rom nach Stockholm. Imposantere Kennzeichnungen: »Moskau–Baku«, »Moskau–Tiflis« oder gar »Moskau–Wladiwostok«, d. h. vierzehn Tage, wenn es gut geht; und dann steigt man um, Kleinbahn, Renntierschlitten, Schneeschuhe . . .

Blau gestrichen sind die internationalen Schlafwagen, in erste und zweite Klasse eingeteilt, in ihnen sitzen englische Kaufleute und deutsche Diplomaten, einer tritt sein Amt als Generalkonsul in Tiflis an, einer ist Gesandtschaftssekretär in Persien und der dritte (der Herr, dessen elegante grüne Weste Aufsehen erregt) ist Zuschneider in Teheran. 4

In gelben Waggons der weichen Klasse »Nep«-Männer, die Trockenwohner der »Neuen ökonomischen Politik«, sie tragen keine Fingerringe und keine eleganten grauen Westen, man sieht ihnen an, daß sie von unten stammen, aber sie haben Fettpolster, rötliche Glanzpunkte über den Backenknochen, sind mit Handel und Wandel zufrieden, mit Essen und Trinken dito. Außerdem reisen Beamte in der weichen Klasse, irgendwohin kommandiert oder delegiert, und können es durch ein Mandat beweisen, – »Delegat«, »Mandat« und »Kommandirowka« sind wichtige und gebräuchliche Titel, mancher maßt sie sich an, um zu imponieren, aber so leicht wie in Gogols Rußland hätte es heute kein Revisor mehr.

Die interessantesten Fahrgäste, weitaus die interessantesten benützen die harte Klasse; wer das Glück hat, einige Tage oder gar einige Wochen im dunkelgrünen Waggon fahrend zu wohnen, der sieht und hört das alte und das neue, das nördliche und das südliche, das begeisterte und das empörte Rußland, der lernt die Urbilder aller Typen aus der Literatur kennen, von Gorkis Barfüßlern bis zu Tolstois Fürsten, von den Helden der napoleonischen Zeit, die Lermontow edel malte, bis zu den roten Reitern Budjonnys, über die jetzt Babel freche Satiren schreibt, hat Freundschaften geschlossen, genug Komödien und Tragödien erlebt.

Das Publikum ist gemischt, es läßt sich nichts Besseres über ein Publikum aussagen. Hekatomben von Milchweibern füllen den Moskauer Bahnsteig, beim Morgengrauen schwärmten sie in die Stadt wie die Kremldohlen, und nun kehren sie heim, jede von zwei gigantischen Milchkannen flankiert und mit einem Sack, in dem sechs leere Zinngefäße klirren. Familien fahren aufs Land, dort das Weekend zu verbringen, Großvater bleibt vielleicht schon den Rest des Jahres auf der Datsche. Viehhändler sitzen im Personenzug. Ein gutrasierter junger Mann mit messerscharfem Hosenbug und weißen Gamaschen hat aus politischen Gründen in Suchum zu tun, mehr sagt er nicht; der Schüler einer Lehrerbildungsanstalt reist mit Frau und Kind in einen Kurort (russisch: Kurort) im Kaukasus, er bekam einen Freiplatz, außerdem zahlt der Staat ihm, einem gewesenen 5 Arbeiter, und seiner Familie während des Studiums sein Gehalt! Farbengewirr von Kopftüchern, resigniert graue und optimistisch grellgeblümte. Eine Dame behält den Hut auf und ist auch sonst tiptop: Seidenstrümpfe, Lackschühchen, Titusköpfchen und goldbestickte Seidenbluse, von ihren Pralinen bietet sie immerfort dem Ingenieur an, der neben ihr sitzt, nach Dschulfa fährt, »Schmidt« heißt, aber nicht weiß, daß das ein deutscher Name ist.

Moskau kriecht vorbei, Orgie der Kontraste, asiatisches Dorf mit Häusern in amerikanischem Wolkenkratzerstil, Kistenschlitten und Autobus, Barockpalast und Holzhütte, Stanislawski und Meyerhold, Presseaufschwung und Diktatur, Hofopernballett und »Blaue Bluse«, Straßenbazar und Warenhaus. Von den Turmknaufen des Kreml leuchten goldene Zarenadler unversehrt herüber, zwischen ihnen weht Tag und Nacht die rote Fahne von der Kuppel. Vierzigmal vierzig goldene Kreuze mit je acht Enden (auch dort, wo Kopf und Füße Christi waren, sind Querbalken) und mit einer goldenen Kette richten sich fromm zu Gott empor, vierzigmal vierzig blutrote Sterne mit je fünf Enden richten sich trotzig gegen Gott empor. Und die Türme selbst! Es war dafür gesorgt, daß goldene Zwiebeln in den Himmel wachsen – an einer Straßenecke hat man mit einer Ananas Fußball gespielt, und sie blieb in der Luft hängen – am Roten Platz steckt eine buntgewürfelte Gesellschaft von beturbanten Emiren, Scheichs und Großwesiren die Köpfe zusammen und flüstert sich, oh, heiliger Basilius! pikante Geheimnisse aus dem Harem zu, – jemand erhob feierlich seinen Becher, und der Becher ward zum Kirchturm.

Auf breiten Holzbänken, über denen eine große Laterne hängt, wodurch der Waggon wie ein braves Blockhaus wirkt, sitzen je drei Leute nebeneinander, so wie sie nachts übereinander schlafen werden; drei Stock hoch ist das brave Blockhaus. Polster, Decken, Bettuch hat fast jeder mit, in Leinwand war das und alles übrige Gepäck eingenäht, jetzt wird die Hülle aufgetrennt und der Inhalt ausgebreitet; wer kein Bettzeug hat, kann sich's vom Schaffner leihen, der es einem plombierten Sack entnimmt und das breite Brett in ein Bett verwandelt, drei Rubel kostet es, – gleichgültig, ob man eine Nacht fährt oder zehn Nächte. 6 Kinder liegen an der Wandseite, hinreichend viele sind's, wir brauchen vorläufig keine mehr, Kinder in allen Lebenslagen, solche, die noch in die Windeln pinkeln, solche, die es schon in die Hosen besorgen, solche, die in sich hineinwimmern, andere, die dem Nachbar in die Ohren trompeten.

Die Hauptstadt dreht sich am Zug vorüber, dort im Marien-Hospital wurde Dostojewskij geboren, an Biegungen des Moskwa-Flusses ragen Bastillen mit Festungsgräben, hohem Wall und Schießscharten und sind Klöster, alte Holzhäuschen begleiten die Ausfahrt, man liest eine Jahreszahl: anno domini 1796, die napoleonische Feuersbrunst hat also diese Hütten verschont, Waggonvillen, nicht weit vom Bahndamm; die Speicher des »Chleboprodukt« sind moderne Zweckbauten, sie könnten auch in Hamburg stehen, Schneefelder spielen in allen Nuancen des abstrakten Weiß, das blau sein kann und perlmutterfarben und silbern, Leute mit Handschlitten schleppen etwas in die Stadt.

Die versickert schon. Schwengelbrunnen, Raben, Düngerhaufen tauchen an ihrer Stelle auf, Birkenwälder, Hüttengruppen, eine Schloßruine, die wie ein von Kandelabern umgebener Sarg aussieht; augenscheinlich ist der Palast nicht zu Ende geführt worden, weil der Bauherr vor dem Katafalk erschauerte; kleine Häuser mit bemalten Giebeln und geschnitzten Fensterläden, Datschen, dann verschwinden auch die Dörfer, und stundenlang dampft das Vehikel durch den Atlantik des Schnees.

Der Schaffner hat die Fahrkarten abgenommen und ist damit beschäftigt, jede an die zugehörige Stelle eines zusammenlegbaren leinenen Planes zu stecken, der den Waggon veranschaulicht, zwei Schaffner sind in jedem Wagen, sie lösen einander im Dienst ab und wohnen in einem Halbkupee, in Intervallen durchwandert der Oberkondukteur (russisch: Oberkonduktor) den Zug. Wen die Platzkarte in ein braves Blockhaus einquartiert hat, das Nichtrauchern reserviert ist, der muß, seine Papyrus anzustecken, auf den kurzen Korridor vor der Toilette. Hier finden endlose politische Beratungen statt, besonders wenn ein Passagier aus Deutschland da ist, den man über Gindenburg, Stresemann und Thälmann ausfragt, darüber, ob in Deutschland Arbeiter das Doktorat machen können, bis zu welchem Monat 7 eine schwangere Frau arbeiten darf, ob dort die Bergleute auch nur vier Wochen Jahresurlaub haben, wieviel ein Pud Brot kostet, wieviel ein Paar Walinki (Filzstiefel), und ob man viel Foxtrott tanzt. Während dieser Debatten öffnet sich von Zeit zu Zeit die Tür der Toilette, der Zigarettenrauch ist auch nicht von der besten Sorte, und die Doppelfenster sind in den Wintermonaten hermetisch verschlossen.

Draußen ist Luft und Schneesteppe. Spärlich die Waldungen, man erkennt die Holzarmut der Gegend an den Wohnstätten: niedrige Häuschen mit Stroh gedeckt, keine Spur mehr von Schnitzerei und von Fensterläden, die Zäune von äußerst geringer Dichte. Manchmal wächst der Schnee ins Senkrechte empor und zerstäubt oben in dunkle Strahlen: das sind Birkenforste.

Im Zuge spielen Arbeiter »Schachmatt«. Der gutrasierte junge Mann mit dem messerscharfen Hosenbug und den weißen Gamaschen, der – wie jeder weiß – in politischer Mission nach Suchum fährt, spricht herablassend mit einem Studenten und läßt durchblicken, daß er ein Delegat mit einem Mandat und einer Kommandirowka ist. Die tiptope Dame hat den Hut bereits abgelegt, ist aber noch immer in Seidenstrümpfen und Halbschuhen und raspelt noch immer mit dem langen Ingenieur Schmidt Süßholz und Pralinen. Tee wird getrunken und Eßwaren werden ausgepackt, Riesenbrote, Riesenschinken, Riesenwürste, Riesenkäse, man bietet einander an. Zwischen den Waggons sind kleine Blechbrücken heruntergeklappt, ihre Hälften schlagen rhythmisch zusammen, ganz anders klingt der Schall der russischen Bahnfahrt als bei uns: Tarrara-tarrara-bsching, tarrara-tarrara-bsching.

Frauen aus dem Raucherabteil und aus dem Nichtraucherabteil, die Frau mit dem Hut, die Frauen mit den optimistischen und den pessimistischen Kopftüchern, die Frauen ohne Hut und ohne Kopftuch haben sich auf den Passagier aus Deutschland gestürzt: Was trägt man in Deutschland? Kurzen Rock, langen Rock, helle Strümpfe, dunkle Strümpfe, Männerhemd, Jumper, ach, was weiß ich ! Und schreiben dem Passagier aus Deutschland ihre Adresse auf, wollen ein Modejournal, sind bereit, es vorher zu bezahlen, zwei Rubel, drei Rubel, fünf Rubel, – gibt 8 niemand mehr? Und was tanzt man in Berlin? Wohl oder übel muß der deutsche Gast Java und Blues und Charleston vorführen, die Leute stellen sich auf die Bänke und schauen zu, tarrara-tarrara-bsching, tarrara-tarrara-bsching spielt die Jazzband.

Hält der Zug auf einer Station, springen die Fahrgäste hinaus, jagen auf eine fensterlose Holzbude zu, in deren Innern ein Kessel dampft; aus der Piepe an der Außenwand strömt heißes Wasser. Alle erdenklichen Gefäße füllt man, Samoware, Flaschen, Thermophore, Kannen, Eimer. In Tula stürmt man nicht nur den »Kipjatok«, sondern auch den Stand, der Tulaer Stahlwaren feilbietet, – obwohl man Solinger Stahl in Solingen nicht besser einkauft als in Berlin! Unverschämt teuer sind die Sachen, Taschenmesser, Scheren oder Nippes-Bügeleisen. Die Lokomotive wird gewechselt, statt des einen fossilen Ungeheuers kommt das andere, zur Seite rollt die alte Maschine, von ihrem Vorderteil trieft schwarzes Fett, ihr Hinterteil ist reines Kristall, leuchtend von Schnee und Eis.

Zweimal läutet die Bahnhofsglocke, alles rennt zum Zug, jeder Waggon hat eine Nummer, auf daß auch der Dümmste seine Wohnung finde, mit dem neuen Vorspann geht es weiter; das heiße Wasser wird in Tee verwandelt; links Jasnaja Poljana, ein stilles friedliches Dorf, aber man weiß jetzt, welch laute Kämpfe Tolstoi dort auszufechten hatte; rechts flüchtet eine Zwingburg vorbei: Orel, Väterchens Zentralgefängnis. Oberhalb der Oka leuchtet der goldene Knauf einer Kuppel, tarrara-tarrara-bsching, tarrara-tarrara-bsching, und nun ist es das Tal des Dnjepr, über das sich die weiße Steppdecke breitet, lehmbeworfene Hütten, geflochtene Zäune. Eine Pracht von Kloster: die Einsiedelei Korenscha. »Ich bin wie ein Kloster,« pflegte Paul Cassirer zu sagen, »ich lebe von einem Bild.« Das Kloster Korenscha lebte auch von einem Bild, noch dazu von einem hier nicht vorhandenen; in Korenscha war es nur aufgefunden worden – so erzählen die Fahrtgenossen – und nach Kursk gebracht, von wo es immer zu Pfingsten in seine ehemalige Heimat überführt wurde, um Wunder zu tun, indem es dem Klosterkonvent zu einer Millioneneinnahme verhalf.

Schnee liegt auf den Feldern, nicht mehr in breiter Fläche 9 wie im Norden, aber in allen Furchen, die Fruchtbarkeit der Gegend läßt sich auch in Schnee und Winter feststellen: stattliche Bauernhäuser, weite Stallungen und Schuppen, wir sind in der Ukraine.

Die Nacht bricht langsam herein, man klettert ins zweite oder dritte Stockwerk, Bettzeug auszubreiten oder sich einfach aufs Holz zu werfen; die tiptope Frau wird von Ingenieur Schmidt überredet, im Parterre Lager zu beziehen, und er sitzt nun neben ihr, sie liegt in Seidenstrümpfen, Halbschuhen und goldbestickter Bluse da, die meisten Frauen sind in Nachtjacke und Unterrock, die Männer schlafen in Kleidern und hohen Stiefeln oder in heißen Wollsocken, Kinder wimmern, Mütter irren; wenn jemand hinausgeht, spürt man Zugluft, läßt er gar die Türe offen, so brüllen die anderen, Schnarchen dröhnt durch alle Etagen, tarrara-tarrara-bsching, tarrara-tarrara-bsching, jeder hat Koffer und Stiefel unter dem Kopf, fürchtet Diebe. In einem braven Blockhaus liegt man, vorbei fährt die schwarze Unendlichkeit. Nur auf den Stationen wird das Dunkel zerrissen von Lämpchen oder von dem offenen roten Feuer der Lokomotiven; selbst nachts fließt der Kipjatok, in den Wartesälen schlafen hundert Schafpelze, hundert Kopftücher und hundert Säcke auf dem Boden, hier riecht es ebenfalls nach heißem Tee und heißen Wollsocken, hier durchsägen ebenfalls die Schläfer laut die Luft. Eine Weichenstellerin schwingt die Lampe, ihr Kopftuch leuchtet auf für einen Augenblick als roter Fleck, zweites Läuten, der Zug rollt, tarrara-tarrara-bsching.

Vor Charkow großer Lärm, ein Koffer ist gestohlen, bald ist's klar, wer der Dieb war: der schlanke Ingenieur Schmidt! Er wußte nicht, daß Schmidt ein deutscher Name ist, – natürlich, er führte diesen Namen noch nicht lange. Alle greifen unter ihren Kopf, nach dem Gepäck und nach der Brieftasche, der tiptopen Frau fehlt das Handtäschchen, deshalb also hat ihr der Galan zugeredet, im Parterre zu schlafen, da läßt sich nichts machen, nitschewo; es wird kein Protokoll aufgenommen, keine Anzeige erstattet, kein Telegramm abgesandt, nitschewo, die tiptope Frau zieht jetzt ihre Halbschuhe aus und lockert die Strumpfbänder, Verzicht. 10

Man räkelt sich, steht auf, die Toilette ist belagert von Menschen mit Seife und Handtuch. Das weiße Land ist schwarz, Windmühlen am Horizont, manche Frauen bleiben in Pantoffeln und Unterrock, die Bügelfalte des gutrasierten Mannes, der in politischer Mission nach Suchum reist, ist nicht mehr messerscharf, im Gegenteil, die Hose weist Ansätze von Knollenbildung auf, und er erscheint keineswegs gut rasiert; hingegen zeigen sich der Gesandtschaftsbeamte und der Generalkonsul auf dem Bahnsteig in Charkow mit tadellosem Scheitel und unzerknittertem Kragen, und der präsumptive Zuschneider von Teheran hat sogar eine neue Weste an, dunkelgelb mit grauem Passepoile.

Keine Schlittenkufen sieht man nun, sondern Wagenräder, deren Anblick man länger als ein halbes Jahr entbehrt hat; während in Moskau noch die Diktatur des Winters herrscht, lockert sie sich hier zum Vorfrühling. Die Äcker hören auf und die Halden beginnen, Essen lodern, Fördertürme stehen dick und breitspurig da, Schlote schlank und hoch, Fabriken, Kohlenberge, Holzplätze. Schwerarbeiter steigen in den Waggon und wollen von dem ausländischen Passagier wissen, wieviel Wochen Urlaub einem Metallarbeiter in Deutschland gesetzlich zustehen, wieviel Lohn ein Hauer hat, ob die Bruchpfeiler verritzt werden, welche Zeit des Urlaubs die Arbeiter der chemischen Betriebe unentgeltlich im Sanatorium verbringen dürfen. In Artiomowsk steht das Gewerkschaftshaus des Donezbeckens, ein neues ist im Bau, eine Bronzeobelisk auf dem Bahnhof nennt die Namen der Arbeiter, die von den Weißen füsiliert wurden. Von Fördertürmen weht ein rotes Flaggentuch, – rote Fahne über schwarzem Land, aus den Schloten unvertünchter Ziegelbauten weht der Rauch – schwarze Fahne über rotem Land.

Auf allen Stationen ist es gleich, über eine niedrige Hürde strecken Weiber ihre Körbe, in denen Eier sind oder frischgebackenes Brot (unter einem Kissen warmgehalten) oder gebratene Hühner, deren Preis je nach der Größe (der Station) von fünfzig Kopeken bis zu einem Rubel dreißig Kopeken schwankt; Milch wird gleichfalls feilgeboten. Der Abend ist Steppe, Steppe ist die Nacht. Beim Morgengrauen in Nowotscherkassk, der Stadt der Donkosaken, steigen Städter ein, die Erbeingesessenen 11 nehmen keine Rücksicht auf sie; der Mann mit der ehemaligen Bügelfalte ist kleinlaut geworden und hat sich seit vorgestern noch nicht gewaschen, die Frauen bleiben in Unterröcken, im Waschbecken auf der Toilette reinigen sie Windeln und hängen sie in der rußigen Heizkammer zum Trocknen auf, die tiptope Dame zieht die Lackschühchen nicht wieder an und knüpft die Strumpfbänder nicht fest, tarrara-tarrara-bsching. Wer in Rostow am Don ins Bufett gehen will, richtet sich ein bißchen her. Ein ganz europäischer Bahnhof: Damen, die echten Augenbrauen ausrasiert, hoch darüber die falschen gemalt, spazieren auf dem Perron (russisch: Platforma), das Ausspucken und Wegwerfen des Mundstückes (russisch: Mundstuck) ist bei drei Rubel Schtraf (um das russische Wort für »Strafe« zu gebrauchen) verboten, und das Publikum wird gebeten, nur die offiziellen Gepäckträger zu benützen, die an Messingschild und weißem »Fartuch« kenntlich sind. Im weißgedeckten Speisesaal kriegt man ausgezeichnete Hors d'œuvres (russisch »Vorschmack« genannt) und der Raseur (Parruckmacher) amtiert in einem modernen Salon. Dagegen ist der »Kaspar«, der auf buntem Plakat zu Dampferfahrten einladet, kein deutscher Kaspar, sondern die Zusammenziehung des russischen Firmatitels Kaspisee-Dampfschiffahrt . . . Hier äußert sie sich sonst nicht, hier äußert sich die Dampfschiffahrt des Asowschen Meerbusens, des Schwarzen Meeres. Auf den Bahnhofsrampen werden Ballen mit Weizen, Tabak, Hafer, Wolle umgeschlagen, die Hafenspeicher reichen bis zum Personenperron, die Eisenbahnwerkstätten bis ans andere Ufer des Don, über den man auf einer Gitterbrücke rattert.

Tief unten ist Inundationsgebiet, – eine jener geheimnisvollen Landschaften, von denen man monatelang nichts weiß, da das Wasser über ihnen zusammenschlägt, und die dann wieder vom Ertrinkungstode auferstehen; vor kurzem schwammen noch Fische hier, Holzblöcke, Leichen, Schiffe, und nun ist es Land, auf dem Menschen gehen; drei Landstreicher tauchen aus einem Gebüsch auf und strecken sich, Bauernweiber tragen Rückenkörbe und Säcke, Männer treiben Ochsen und Schweine, am Rand der Stadt ist ein Markt im Gange, tarrara-tarrara-bsching, Steppe, Steppe, Steppe, ein Kosakendorf wird sichtbar, dahinter wieder ein 12 Aul, Steppe, Steppe, Steppe, wieder eine Stanitza, dann der Kaukasus.

Fünf Frauen sind eingestiegen, sie haben als Gattinnen von Eisenbahnern freie Fahrt und reisen fünf Tage und fünf Nächte nach Batum, um Konterbande einzukaufen, Strümpfe und Seide, die griechische und türkische Schmugglerschiffe dort verschleissen; fünf Tage und fünf Nächte dauert die Rückfahrt, – ein abenteuerliches Einholen, aber die fünf Frauen haben nicht genug davon, sie sind auch Abenteuern anderer Art nicht abhold.

Die Stammgäste des Waggons duzen einander längst, jeder hat schon mit jedem »Schachmatt« gespielt, jeder hat schon ein Mädchen, mit dem er nachts auf dem Korridor vor der Ubornaja steht oder im Heizraum, alle Schranken sind gefallen, auch die Seidenstrümpfe der tiptopen Dame, sie läuft in schmutziger Nachtjacke und schmutzigem Unterrock umher, ach, wie zerzaust ist das ehemals so wohlassortierte Titusköpfchen! Der gutgebügelte, gutrasierte Herr hat ausgebuchtete Hosen und einen scheußlichen Vollbart, nicht mehr grau, sondern braun sind die weißen Gamaschen, nichts blieb von seiner Herrlichkeit, als die politische Mission, der Lehrer-Arbeiter hustet immer mehr, die Kinder haben sich mit den Fahrgästen angefreundet und pinkeln auf deren statt auf der Mutter Schoß; wenn jemand den deutschen Passagier nach Gindenburg, Stresemann, Thälmann fragt, oder danach, was ein Glas Sonnenblumenkerne in Deutschland kostet, oder eine Rubaschka, eine lange Männerbluse, so antworten alle im Chor.

Isothermische Waggons mit Mineralwasser kommen entgegen, eine Flasche des Sauerbrunns »Narsan«, für die man in Moskauer Hotels fünfzig Kopeken verlangt, kauft man hier bei den Verschleißhütten für achtzehn, der Doppelgipfel des Elbrus hüpft auf und ab, mit Eis bedeckt, und später der Kasbek, er trägt eine Nebelkappe, und deshalb kann man nicht sehen, ob dort noch immer Prometheus festgeschmiedet ist, vom Adler beknabbert; ein Knirps ist der Montblanc gegen diese Berge! Dazwischen die Station Mineralni Wody, die Arbeiter steigen um, die den Urlaub in kaukasischen Kurorten verbringen. In Großny: Tribünen auf Petroleumhalden, weiße Ölzisternen, Schlote der 13 Raffinerien, neue Arbeiterkolonien. Auf dem Bahnhof von Machatschkala, das in zaristischer Zeit »Petrowsk« hieß, spreizen sich Tscherkessen in der hohen Persianermütze, dem Papach, Türken hocken mit gekreuzten Beinen auf der Erde, die Aufschriften sind türkisch, und zwar sowohl in osmanischen Schriftzeichen als auch in lateinischen Buchstaben, um deren Einführung man bemüht ist; Machatschkala ist Hauptstadt der Sowjetrepublik Daghestan. Hier ist schon andere Zeit, die Uhr wird um eine Stunde vorgerückt, von nun an gibt es keine Klosette mehr, man muß jede Notdurft stehend verrichten, nur wir im Zug dürfen uns noch setzen, wenn wir Lust haben. Nach Südosten ist der Schienenstrang geschraubt; stundenlang: links Kaspisches Meer, rechts Felsen mit Zitadellen; dann: links Dämmerung, rechts Dämmerung; dann: links Nacht, rechts Finsternis. Morgens versucht Narynkaleh zu drohen, die Zitadelle von Derbent; sie beherrschte die Porta Albana, den einzigen Weg von Asien nach Norden zwischen Meer und Berg, Altertum, Mittelalter und Neuzeit kämpften um sie. Schon ist gesunken in den Staub der Sassaniden alter Thron, schon plündert Mosleminenhand das schätzereiche Ktesiphon längst nicht mehr, – und an der ziemlich unversehrten Mauer der Sassaniden saust die Staatsbahn achtlos vorbei, tarrara-tarrara-bsching.

Der Schaffner erscheint und fegt mit besonderer Sorgfalt. In Baladschari stehen auf Nebengleisen Hunderte ausrangierter Waggons, – warum schreibt niemand den Film »Die Insel der verlorenen Waggons«? – Das Besondere dieses Eisenbahnfriedhofes ist, daß hier nur Zisternenwaggons ruhen, hundert Farben und hundert Formen und hundert Größen.

Was sollen Trampoline auf dem Festland? Ach so, es sind Bohrtürme, alte und neue, Arbeiterkolonien, alte und neue, die Raffinerievorstädte durchläuft unser idyllisches Blockhaus, Biely Gorod und Tscherny Gorod, ein Gebäude strebt zur Göttlichkeit, teils indischer Tempel, teils Moschee, teils byzantinische Kathedrale, es ist die griechisch-katholische Kirche, nun neigen sich auch ein Palast der Chane und eine Perserfestung, und Baku, die Petroleumstadt am Meer und auf dem Berg, voilà Naples tatare! 14

Die Bahnhofsuhr hat zwei Stundenzeiger, einen für Orts- und einen für europäische Zeit; die Uhren der Stadt tragen die Buchstaben AEG. Am Zeitungsstand bekommt man eine Berliner Zeitung, wenn sie auch drei Wochen alt ist, das Modenblatt liegt bei, und im Nu ist man von allen Frauen umringt. Neue Frauen geben dem deutschen Fahrgast ihre Adresse an, daß er ihnen Modejournale zusende und Schnittmuster. (Aber nur zwei werden sie erhalten, davon die eine: zwei Nummern.)

O du meine Güte, wie sieht die alte Garde der Fahrtgenossen aus! Nicht mehr bloß schmutzig, nein, auch zerrissen sind Nachtjacken und Unterröcke, zerrauft die Haare. Welches war doch die Dame mit dem tiptopen Titusköpfchen? Die Gamaschen des struppigen Herrn (der nicht mehr in politischer Mission reist, sondern für die Leningrader Großeinkaufsgesellschaft einen Waggon Suppengewürz beschaffen soll), waren sie weiß, grau oder braun? – jetzt sind sie jedenfalls schwarze Fußlappen. Und noch sind wir nicht am Ziel, noch bewegt sich die Landschaft, während wir sitzen, tarrara-tarrara-bsching, tarrara-tarrara-bsching, ein Schlammvulkan, eine Sahara, durch die Kamelkarawanen ziehen, von den Felsen herab und nun entlang der Bahnstrecke, die Schiffe der Wüste fahren parallel der Eisenbahn, Berge, öde Steppe, Weinberge, Gendscha (vormals Jelissawetopol), wo schwäbische Winzer aus dem Dorf Rosa-Luxemburg einsteigen, Kupferwerke, die Ubornaja ist wieder umlagert von Menschen mit Seife und Handtuch, einige haben die Zahnbürste aus dem Koffer exhumiert, vielleicht wartet der Bräutigam, die Braut, vielleicht wollen sie nur – zum Abschied – imponieren, viele packen ihre Sachen; in den Gärten der Villen blühen Rosen, gelbe, rote und die blauen Rosen Georgiens, grün strahlt der Frühling von allen Beeten, und unten im Tale und auf den Bergen liegt Tiflis, die Hauptstadt des Kaukasus.

Nur für kurze Zeit lächelte sie ins Fenster und breitete sich lockend aus, – vergeblich, der Zug reißt sich los von der Versuchung, resigniert senken sich die Arme, die Stadt schrumpft zusammen, tarrara-tarrara-bsching, die Kuppel der Garnisonkirche, über der jetzt der rote Stern wohnt, und die Höhen 15 verschwinden mit den Felstrümmern der persischen Festung, dem botanischen Amphitheater, dem georgischen Königsschloß Metech, in dem die aufständischen Reaktionäre von 1921 eingesperrt sind, und bald schließt sich auch ein enttäuschtes Auge, das nachgeblickt hatte, das Davidskloster auf dem Hang. Eine häßliche, braungelbe Vorstadt empfängt die Fahrt, kahle, dachlose Häuser mit hölzernen Klopfbalkonen, die nur vormittags schön sind, wenn sie – der Nachbarschaft zum Neid – die schwarzrot geknüpften Lambrequins herausblöken, es ist nicht schlimm, daß sich ein Felsenvorhang dazwischensenkt, doch da er sich wieder hebt, sieht man ein asiatisches Dorf, von tausend asiatischen Dörfern nur durch einige Bedachungen und schöne neue Arbeiterkolonien unterschieden, dahinter wieder Hütten, geborstene Zäune, im kahlen Garten steht nichts als ein Baum, Esel zotteln des Wegs und räudige Trampeltiere. Links die Bergwüste trägt Telegraphenstangen. Obwohl man scharf auf die Steppe schaute, entging es einem, daß sie plötzlich ein Salzsee ward. Von Ssandar an sind die Aufschriften auf Bahnhöfen dreisprachig, russisch, grusinisch, armenisch. Grenzstation ist Ssadachlo, und auch die Landschaft ändert sich, wilde Schlucht preßt sie ein, Buschwerk und Moos, alle fünf Werst ein Kara-ul. In Achtala stehen die französischen Kupferwerke noch in Betrieb, aber sie gehören den Franzosen nicht mehr, die Bolschewiki, die jeden Nationalismus ablehnen, regieren das einzige Reich, das keine ausländischen Fabriken auf seinem Boden hat: sie verjagten den fremden Privatkapitalismus wie den einheimischen. Die Strömung des alpenbachgrünen Bededatschai brandet mit weißem Gischt auf Steinblöcken, die sich im Flußbett breitmachen, die Birken am Ufer sind eher Telegraphenstangen, die oben mehrfach gespalten sind.

Bergschweine und Ziegen mit Mähnen weiden hier, Hirten lagern vor Hütten aus Lehm und Laub, deren Eingänge im Kreise angeordnet sind, es ist wie ein Indianerdorf. Ein Berg bildet die Wasserscheide zwischen der georgischen Kura und dem armenischen Araxes, aber er hält die Eisenbahn nicht auf, ein Tunnel führt durch, und gleichzeitig mit dem Licht der Frühlingssonne taucht Schnee auf, oben auf den vier Gipfeln und hundert Zacken des Allahgoes und über seinem weißen Krater. In 16 Leninochan halten wir – jahrhundertelang war es Alexandropol, eine heiße Ecke dreier Reiche: Georgiens, Persiens und der Türkei.

Im Jahre 1920, jawohl, im Jahre 1920 schleppten Türken die zweitausend schönsten Jungfrauen, Mädchen im Alter von zwölf bis achtzehn Jahren, aus Alexandropol fort, keine ist zurückgekehrt, von keiner ahnt man das Schicksal.

Graugestrichene Zisternenwaggons, von kaukasischen Mineralquellen kommend, füllen den Bahnhof, Schienen durchlaufen Lavafelder, das Mauerwerk von Ani hebt sich im Mondlicht vom Horizont ab, Ruinen von tausendundeiner Kirche und der Bagratidenburg, Ani ist armenisches Pompeji. Von Etschmiadsin, wo die armenischen Päpste nun auch schon seit sechzehnhundert Jahren ihre Residenz haben, ist nur ein arger Bahnhof zu sehen. Eine Bahnlinie löst sich, ein Zug knattert vorbei, tarrara-tarrara-bsching, will nach Dschulfa und Täbris, ins Persische.

Des Ararat Eisdom ragt aus dem Tal der Weiden und Weingärten, der Herden und Hütten unmittelbar auf die andere Seite des Gewölks; wohl ließe sich glauben, daß Noah oben furchtlos landen konnte, dorthin steigt kein Hochwasser, auch biblisches nicht, und der Schnee mag ruhig schlafen. In Eriwan verlassen wir den Zug.

 


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