Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Das Donez-Becken, Rußlands Ruhrgebiet

Die Hauptstadt heißt jetzt Artiomowsk. Die Gewerkschaftszentrale ist da, der die ganze Bevölkerung untersteht, denn alle sind Arbeiter; der Monatsumsatz der Genossenschaften macht für die Stadt 800 000 Rubel aus (der des privaten Handels noch immer zwei Millionen). Im Bau: ein steinerner Leninpalast der Arbeit, die Häuser haben unverputzte Ziegelfronten, hellgrün leuchten Dach und Kuppeln der Kirche, schwarzer Rauch lagert darüber, rechteckig verlaufen die Straßenzüge, die Menschen haben den schweren Schritt der Schwerarbeiter und sind verrußt über Meunierschen Gesichtszügen; das kennt man, jedoch man darf die Städte des Donezbassins beileibe nicht mit Essen oder Bochum vergleichen, die Häuser lassen weite Lücken zwischen einander, Zäune verbinden sie, in denen Türen sind, denn Haustore gibt es nicht, vom Hof aus tritt man ein, vierzig Meter breit sind die Straßen und ungepflastert oder schlimmer als ungepflastert. Nur der Platz im Zentrum hat städtischeren Charakter.

Dort steht das steinerne Riesenmonument des Bergarbeiters Artiom, nach dem die Hauptstadt des russischen Industrielandes den Namen hat (früher hieß der Ort »Bachmut«). Artiom ist vor einigen Jahren bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen, als er zu einer kommunistischen Tagung nach Leningrad fuhr. Das Denkmal ist ganz modern: das Postament, dem Durchgang geöffnet, expressionistisch gegliedert, darüber die Kolossalfigur, in kubistisch angeordneten Wickelgamaschen und Bergmannskittel, das Gesicht des jungen Mannes ist naturalistisch. Es stört nicht, wenn manchmal, zum Beispiel beim Empfang ausländischer Arbeiterdelegationen, in der linken Hand des 200 Dargestellten eine brennende Grubenlampe befestigt wird und über seiner ausgestreckten Rechten das blutrote Pentagramma, nicht einem kosmischen Stern gleich, sondern der genagelten Kugelwaffe der Hussiten.

Das Glück, Kohlenkeller und Schmiede eines ungeheuren Bauernlandes zu sein, hat das »Donbaß« in den Jahren des Friedens und des Weltkriegs wenig empfunden und in den Jahren des Bürgerkrieges mit fürchterlichen Opfern bezahlen müssen. Es wäre töricht, an die Industrieanlagen etwa die Maßstäbe des Ruhrgebietes anlegen zu wollen: zur Zarenzeit war jede Lohnarbeit bloß eine Form der Leibeigenschaft, von Arbeiterschutz, modernem Maschinen- und Hochbau war keine Rede, immer noch war die Neueinstellung einiger hundert Hände billiger als der billigste Transport der billigsten Maschine, man bedurfte keiner Rationalisierung der Methoden, keiner Fürsorge, keiner Hygiene und auch keiner Wohlfahrtsinstitutionen, um die Leute an ihre Arbeitsplätze zu fesseln, Menschen waren genug da, murrten sie, gab es Polizei genug, streikten sie, gab es Streikbrecher genug, revoltierten sie, gab es Kosaken genug; Rußland war groß und der Zar war weit, und wäre er nahe gewesen, hätte er ebensowenig geholfen, und als er ganz weg war, kam der Bürgerkrieg und währte bis 1921. Vierundzwanzigmal wechselte das militärische Regime im Donezbassin, deutsche Okkupation, Denikin, das nächste Mal Petljura, das viertemal Skoropadski, hinterher eine nördlich versprengte Truppe Wrangels, wiederholt tauchte der Ataman Machno auf, nach ihm wütete General Schkuro, das achtemal die Haidamaken mit Zöpfen und rasierten Schädeln zu Ehren jahrhundertelang verjährter ukrainischer Traditionen, (die freilich kaum sinnloser waren als die Motivierungen, mit denen man nach dem Weltkrieg einigen Stämmen zwischen Deutschland und Rußland das Recht auf selbständige Geschichte und eigenes Staatswesen verlieh, den Pufferstaaten der Angst). Jeder dieser künftigen Zaren meldete jubelnd einer jubelnden Welt, Fabriken und Gruben Rußlands seien in seiner Hand und das Ende der Roten besiegelt, und Wrangel ließ überdies die sozialistisch organisierten Arbeiter antreten und jeden zehnten erschießen, auf daß das ohnehin in der 201 Minorität befindliche Industrieproletariat, das in Moskau und in Petrograd die Macht ergriffen hatte, noch dezimiert werde. Ein Obelisk zwischen den Fabriken von Konstantinowka nennt die Namen jener Arbeiter, die von ihren Genossen als Zehent gezahlt wurden.

Wie überall in Kohlengebieten konzentrieren sich auch hier Eisenwalzwerke und andere metallurgische Betriebe; darüber hinaus hat das gleichzeitige Vorkommen von Salzlagern das Donezland zum Sammelplatz der chemischen Industrie gemacht. Dreißig Millionen Pud Salz werden bei Artiomowsk jährlich gefördert; die Halle der Grube »Karl Liebknecht«, hundertsechzig Meter unter der Erde, ist wahrhaftig ein Münster aus Salz. Dort tagt der Kongreß der Bergarbeiter, dreitausend Mann haben Platz unter dem kristallenen Deckengewölbe.

In der Flaschenfabrik, die zu dem Glaskonzern »Roter Oktober« gehört, kann man mehr solcher Dinge sehen, die märchenhaft und romantisch, aber nicht durchaus up to date sind. Auf hohem Postament reichen Jünglinge einander meterlange Pfeifen, an deren Spitze ein Seifenbläschen taumelt, der Nachbar faucht ins Rohr und die silbergoldviolette Kugel wird größer, marsch wird sie in den Ofen geschoben und, da sie herauskommt, ist sie weder gesprungen noch hart geworden; Vater sperrt sie in eine Form, die wie eine eiserne Jungfrau aussieht, aber bloß zwanzig Zentimeter groß ist, Vater bläst wuchtig in den hohlen Stab, unten am Fuß des Podiums klappt Rotkäppchen, die Gehilfin, die Form auf, nimmt dem Vater das Rohr aus der Hand, und daran baumelt jetzt kein Bläschen mehr, sondern eine ganz weiche Flasche. Das Mädchen, dessen Arbeit per Stück bezahlt wird, schreibt mit Kreide ihre Paraffe auf die Flasche und reicht sie einem Mann an der Drehbank, der schneidet den gläsernen Hals durch und bohrt die Mündung aus.

Mit einem dunklen Glas kann man ins Feuerloch der Öfen schauen und eine Wüste sehen, über die heißer Sand jagt, ein weißer Tempel steht dahinter, aber kein Lebewesen weit und breit, denn der Samum faucht sichtbar und glüht fühlbar, dieweil man in einer russischen Fabrik mit berußter Scheibe in den Schmelzofen starrt . . . 202

Im Hofe erheben sich Berge von Sulfat und Soda, Mühlen sind in Betrieb, Sand zu vermahlen, Strohschober warten darauf, zur Verpackung der Gläser zu dienen, in der Spiegelfabrik wird auf rotierenden Riesenscheiben Glas geplättet, Luftkrane greifen Scheiben und lehnen sie an die Wand, in chemischen Werkstätten wird Zinkweiß fabriziert und Kupfervitriol – hier haben die Arbeiter Anspruch auf vier Wochen Jahresurlaub (die andern nur auf vierzehn Tage), die Tätigkeit ist nicht die gesündeste. Auch die Methoden sind häufig primitiv, manche Anlagen und Maschinen veraltet. Mit dem Stolz des Fabrikherrn aber zeigen die Arbeiter ihre neuen Bauten, eine zweihundert Meter lange und dreißig Meter hohe Spiegelfabrik ist im Werden, die Außenmauern sind bis zum Dachstuhl bereits fertiggestellt, nur die Quermauern fehlen – russische Bauweise, um so unpraktischer, als in Rußland der Flaschenzug noch nicht erfunden ist und die Ziegel in Schubkarren auf Bretterrampen emporbefördert werden. Amerikanische Maschinen sind unterwegs, die Lungenkraft der Bläser soll durch Apparate abgelöst werden.

Die Kohlengruben, die auf einem Gebiet von 2400 Quadratkilometern verteilt sind und vierzigtausend Bergleute erfordern, harren gleichfalls gründlicher Modernisierung. Der Tagbau wird patriarchalisch betrieben, unten in den Gruben werden die abgebauten Felder nicht versetzt, trotzdem Bruchpfeiler die Gefahr der Verschüttung erhöhen, durch Abbauhämmer würde die Leistung des Mannes, der an manchen besonders weichen Stellen die Kohle mit der Hand gewinnt, von fünf auf zehn Wagen pro Tag gesteigert werden, auch gegen Schlagwetter scheint man noch nicht allzugut gerüstet; die Wettersicherheitslampen können, wenn sie verlöschen, nicht wieder entzündet werden, Wasserhaltungsmaschinen und Fördermaschinen sind überholte Modelle, aber vielfach wird reformiert und Neues angeschafft. Durchschnittlich vierhundert Meter untertags liegen die Stollen, die Flöze haben eine Mächtigkeit von etwa einem Meter zehn Zentimeter. Der Kumpel im Schacht oder Stollen hat jährlich vier Wochen Urlaub bei vollen Gebühren, die Bergleute des Tagbaus vierzehn Tage; Arbeitszeit: im Vertikalschacht sechs, sonst acht Stunden, mit Ausnahme der im Aller von sechzehn bis achtzehn 203 Jahren Stehenden, die höchstens sechs Stunden beschäftigt werden dürfen.

Die Produktion ist in den letzten vier Jahren um sechs Prozent gestiegen, die Einnahmen um dreiunddreißig Prozent, und alles steht im Zeichen eines freudigen »Remont«. Alte Arbeiterhäuser werden aufgestockt, vernachlässigte Herrschaftsgärten hergerichtet, an den Bergwerken Badeanlagen gebaut, und Kolonien mit mehreren hundert Häusern sind im Entstehen – ein Wunder bei der Not an Materialien und Arbeitskräften, die das aufbauende Rußland des Nachkriegs zum Unterschied von dem raubbauenden des Vorkriegs zu verzeichnen hat. Überall Sommergärten mit Bühnen, überall Klubs, Lesehallen, Vortragssäle, Arbeiterfakultäten, Fachkurse, Spezialschulen, Kindergärten. Und vor allem Arbeitersanatorien; das größte im Industrierevier des Donbaß ist Krasnogorsk, einst das Mönchskloster Swatogorsk, am bewaldeten Ufer des Donez gelegen; hier wohnen die Erholungsbedürftigen in Zimmern, die je drei bis sechs Betten haben, zwölfhundert Gäste gleichzeitig im Haus, zwölftausend jährlich. Rudersport, Schwimmen, Kino, Pfadfinder-Camp im Wald, siebzehntausend Bibliotheksbände, zweihundertfünfundzwanzig Zeitungen, elektrische Küche, Ärzte, Zahnklinik, Krankenhaus. Drei andere solcher Erholungsheime gibt es im Donbaß, und im Eisenbahnzug fährt man immer mit Leuten, die ärztlicherseits auf einige Wochen in die Kurorte des Kaukasus, besonders nach Kisslowodsk, nach Borschom oder nach Suchum, an die abchasische Riviera gesandt werden.

Über das, was Sowjetrußland in der Einrichtung von Sanatorien, Adaptierung von Kurorten, Villen, Schlössern und Klöstern zu gemeinnützigen Zwecken geleistet hat, läßt sich nicht sprechen, ohne den Ton kühler und kritischer Berichterstattung zu verlassen.

 


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