Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Sternwarte auf nordischer Steppe

Die dorischen Säulen, den mittleren Rundturm gliedernd, rufen keineswegs den Eindruck hervor, ein adeliger Herr habe hier seinen Landsitz erbaut. Was hätte er in der Steppe, wo kein Forst ist, kein See, meilenfern von St. Petersburg, werstfern von der Bahnstrecke, nur nah einem elenden Dorf, an frohem Genuß des Sommers zu erwarten? Die breiten zylindrischen Türme, die vielen Blitzableiter und seltsamen Bänder auf ihren Kuppeldächern, eine hohe Antenne, ungewöhnlich nüchterne Pavillons im Garten (eher Kisten als Lauben) verraten noch deutlicher, daß dieses Haus am Steppenhügel trotz dorischer Säulen und gepflegter Fassade kein Tuskulum ist.

Pulkowo, Zentralsternwarte Rußlands. Hier hocken seit einem Jahrhundert Menschen, äugen durch Fernrohre Tag um Tag, Nacht um Nacht, messen unvorstellbare Weiten, messen unvorstellbare Geschwindigkeiten, entreißen dem Himmel das Geheimnis seiner Launen und forschen nach Stäubchen, Flecken und Strichen im Kosmos und kümmern sich höchstens ganz nebenbei darum, ob Zaren regieren, Bomben fliegen, Kriege entbrennen, Revolutionen aufströmen, Bürgerkämpfe toben – was ist das alles gegen die unendlichen Gesetze, die man am Okular feststellt und kontrolliert.

Nur zweimal wurden die Türme von irdischem Gekrauch berührt: der flüchtige Kerenski wollte nach Petrograd zurückkehren, schoß hier und wurde hier beschossen, später drang Judenitsch bis Pulkowo vor, Bombardement ging los, die Objektive, die kostbarsten der Instrumente, Bücher und Tabellarien kamen in den Keller, während eines einzigen Tages und einer 232 einzigen Nacht waren die astronomischen Beobachtungen unterbrochen, »wir hatten lange unter dieser eintägigen Unterbrechung zu leiden«. Im Kabinett des Direktors liegen Hülsen von Schrapnellen – die schlugen in das Gebäude ein – sie konnten ihm nichts anhaben, irdische Himmelskörper, »die Apparate schwankten, aber wir rektifizierten sie rasch . . .«

Der Sowjetstern ist in dem siebenbändigen Fundamental-Sternkatalog von Pulkowo nicht eingezeichnet, und keine Kürzung der Arbeitszeit und kein Kodex der Akkordlöhne gelten für den Astronomen in der Einöde; ihm ist nicht zu helfen, achtzehn Stunden im Tag sind manche der weißbärtigen Sterngucker am Werke, in Wind und Frost; die Räume des Passage-Instruments, des Vertikalkreises und des Meridiankreises sind offen, damit innere und äußere Temperatur gleichbleibe, sonst würden die Bilder zittern und die Refraktion unnormal werden, derart empfindlich ist das Fernrohr, daß es sich verstellt, wenn man mit dem Finger einen der beiden auf tiefen Fundamenten stehenden Steinpfeiler streift. Vom Anbruch der Dunkelheit bis zur Morgendämmerung wird die Höhe der Gestirne über dem Himmelsäquator verzeichnet, ihr Abstand vom Frühlingspunkt und die Zenitdistanz bestimmt, tagsüber der Polarstern nicht aus dem Auge gelassen, und, mit Pausen von einer bis anderthalb Stunden, werden Zeiträume daraufhin kontrolliert, wann sie durch den Meridian gehen. Ins Instrument schauend, hielt der Astronom früher den elektrischen Schlüssel in der Hand, um ihn im Augenblick einer Feststellung zu drücken, wobei sich ein »persönlicher Fehler« von, man bedenke, einer Zehntelsekunde ergab; jetzt registriert das Repsoldsche Mikrometer alle Beobachtungen selbsttätig auf dem uhrenmäßig abrollenden Morsestreifen, und der Fehler beträgt bloß ein bis zwei Hundertstel Sekunden. Jahraus, jahrein starren Augen durch meterdicke Monokel empor, und nur wenn Niederschläge die Fronten des Kosmos verhüllen, schließt der immer vermummte Astronom sorgsam den Baldachin, um die Instrumente zu schützen, stellt die Uhr ab, die tickend die Sekunden auf dem Chronographen vermerkt, und geht schlafen – fluchend. Ohne Aufsicht bleibt heute der Himmel, kann tun und lassen, was er will. 233

Über den Rundbau, dessen Portikus und Griechensäulen sich vergeblich mühen, ein Schlößchen ländlichen Müßigganges vorzutäuschen, ist ein Turm gestülpt. Darin wohnt der »kleine« Refraktor, immerhin ein Mörser von fünfzehn Zoll Durchmesser. Drehbar ist das Fort, da in der Kuppel nur ein Spalt klafft, durch den die Mündung ins Firmament lugen kann. Ein Uhrwerk bewirkt, daß das Teleskop, trotz der Bewegung der Erde, unausgesetzt dem beobachteten Stern folgt, ein kleines Fernrohr, der Sucher, ist parallel fixiert. Eine eigene Zitadelle schützt den Großen Refraktor, gigantisches Geschütz von vierzehn Meter Länge und dreißig Zoll Durchmesser, nur von dem zweiunddreißigzölligen Himmelsspiegel der Licksternwarte (Kalifornien) und dem vierzigzölligen des Observatoriums Yerkes (Chikago) übertroffen, der, wie wir hören werden, bald seinen Meister finden wird. Im Jahre 1884 wurde der Pulkowoer Refraktor aufgestellt, die Glasmasse – Kronglas und bleihältiges Flintglas, um farbige Ränder zu vermeiden, von Feil in Paris gegossen, von Clark in Amerika geschliffen –hat achtzigtausend Rubel gekostet, die Montierung, von Repsold in Hamburg durchgeführt, ebensoviel. Der Koloß wird nicht elektrisch bewegt, wie zum Beispiel der Refraktor der Sternwarte von Berlin-Babelsberg, sondern mechanisch; auch dieser Turm ist ein Drehfort, auf einem Stuhle sitzend, rollt der Observator auf-, ab- und seitwärts, ohne das Auge vom Okular abwenden zu müssen.

In einem kleineren Turm knipst der Astrograph die Planeten mit ihren Trabanten und die Kometen und bestimmt die Parallaxen, die durch die Drehung der Erde hervorgerufene, scheinbare Stellungsänderung des Gestirns; in Gartenhäuschen arbeiten Zenitteleskop und »Passageninstrument im ersten Vertikale« daran, die periodischen Schwingungen der Erdachse zu untersuchen; ein Sonnenspektrograph zeigt die Linien im Spektrum auf, – aus ihnen ergibt sich die chemische Zusammensetzung der lichtbringenden Körper, der Stoffe, die in der Sonne glühen, und der Elemente, die die Sterne bilden. (Dort oben gibt es, die Hitze ist zu groß, keine Verbindungen, nur Elemente.)

Unterirdisch sind die Räume der Erdbebenstationen mit ihrer Apparatur und dem Seismographen, der gewissenhaft registriert, 234 wenn ein alter Krater Südamerikas ein leichtes Aufstoßen verspürt oder – in den Putilow-Werken der Dampfhammer zuschlägt. Schlank ragt im Garten der Antennenmast, aus Nauen, Paris und Bordeaux wird die Zeit empfangen, um weitergegeben zu werden. Ganz Rußland wird von Pulkowo aus mit Zeit versorgt, im runden Saal, neben der Pendeluhr von »Dent, London, clockmaker to the Queen«, steht Mister Morse und drahtet der Sowjetunion, wie spät es ist.

An den Wänden des Rundsaales hängen alte Porträts, die Ahnengalerie der Himmelsforscher: Kopernikus, der fand, daß sich die Erde um die Sonne drehe, und Galilei, der darum litt; Newton, der das Fall- und Gravitationsprinzip prägte; Kepler, der die Gesetze aufstellte, nach denen sich die Himmelskörper bewegen; Herschel, der über zweitausend Nebelflecken entdeckte; Römer, der die Geschwindigkeit des Lichtes maß; Cassini, der die Teilung des Saturnringes erkannte und vier Satelliten dieses Planeten konstatierte; G. V. Schiaparelli, der den Bahnen der Sternschnuppe nachging (ein Jahr lang arbeitete er auch in Pulkowo, und in seiner Stube ist noch ein großes Pentagramm erhalten, das er prophetisch gezeichnet hat, und eine merkwürdige Inschrift von seiner Hand: »In dieser Kammer hat ein arger Wüstling gewohnt, die Welt war so freundlich, ihn für einen unschuldigen Knaben zu halten; hätte er länger hier geweilt, wäre er als Landsmann Cagliostros erkannt worden«). Le Verrier errechnete nach den Störungen des Uranus, von einer bestimmten Stelle des Firmaments aus müsse ein Planet einwirken, und schrieb dies aus Frankreich nach Berlin an Galle, der sofort an der bezeichneten Koordinatenkreuzung den Neptun fand. (Le Verrier hatte sich für die Pariser Sternwarte malen lassen, da er sich mit ihr verfeindete, vermachte er sein Bildnis dem Observatorium von Pulkowo.) Astronomen, Physiker, Mathematiker und Optiker, wie Tycho de Brahe, Bradley, Laplace, Gauß, Bessel, Arago, Hansen, Newcomb, Steinheil sind porträtiert.

Vor allem die genii loci, die Leute von Pulkowo. Wilhelm Struve, aus Altona hierher berufen, um die Sternwarte zu leiten, deren Bau von 1835 bis 1839 gedauert und zwei Millionen Rubel 235 verschlungen hatte; 1864 starb er und liegt in Pulkowo begraben. Das von ihm verfaßte Programm für das Observatorium ging dahin, von den vierhundert hellsten Sternen die genaue Stellung zu ermitteln, Deklination und Rektaszension, damit man innerhalb des Koordinatensystems alle übrigen Himmelskörper einzeichnen und die Eigenbewegung der Sterne berechnen könne. Durch diese Sternkataloge hat Pulkowo Weltruhm erworben, die sieben erschienenen Bände dienen als Grundlage jeder kosmischen Ortsbestimmung. Wilhelm Struve überließ jedoch diese Arbeit am Passageninstrument und Vertikalkreis einem Kollegen, setzte sich für ein Menschenalter zum Refraktor und entdeckte Doppelsterne. Sein Sohn und Nachfolger Otto Struve (gestorben 1905) erbte diese Zuneigung und wachte gleichfalls über α-Geminorum, β-Andromeda und γ-Leonis. Der Sohn des Sohnes schenkte seine Leidenschaft hauptsächlich den Trabanten des Saturn; 1895 folgte er einer Berufung als Direktor des Königsberger Observatoriums, 1913 gründete er die Sternwarte von Berlin-Babelsberg. Dort wirkt jetzt Georg, der vierte des Astronomengeschlechtes derer von Struve, als Observator und hält die Verlassenschaft des Vaters, den Umkreis der Saturntrabanten, zusammen. Bredichin, der durch Kometenschweife berühmt wurde, und Backlund, der Forschungen über die Bahnbewegung der Himmelskörper, insbesondere der Enckeschen Kometen, publizierte, waren die Nachfolger der Struveschen Familie in Pulkowo. Der gegenwärtige Direktor, Professor Iwanow, betreibt meist theoretische Astronomie und Berechnungen von Planetenbahnen, am Passageninstrument setzt Vizedirektor Renz das Ursprungsprogramm der Sternwarte fort, die Fundamentalbestimmung der Sternpositionen, und am Dreißig-Zoll-Refraktor lebt der Akademiker Bielopolski, Geschwindigkeitsmessungen der Sternbewegung und Spektralphotographie ausführend. Im ganzen sind in Pulkowo vierundzwanzig Astronomen und achtzehn Rechner am Werk.

Und da man hiermit in der Gegenwart und auf Erden ist, so muß auch von der neuen Zeit gesprochen werden, die schwer begann, mit Bürgerkrieg und Bezugsschein, ohne daß deshalb die Arbeit stockte. Für die beiden südrussischen Filialobservatorien 236 von Pulkowo, für Nikolajew in der Ukraine und für Simeïs in der Krim, sind von der Regierung große Investitionen gemacht worden; Simeïs bekommt einen Reflektor von einem Meter Durchmesser und sogar einen Refraktor von einundvierzig Zoll, den größten der Welt, – um elf Zoll den von Pulkowo übertreffend, der bis jetzt den Rekord in Europa hielt; die Montierung ist bereits von Howard Grubb, St. Alban bei London, vollendet, das Glas bei Parsons geschliffen worden, hundertdreißigtausend Rubel bezahlt die Sowjetregierung dafür. Das Mutterinstitut erhält ein photographisches Zwölf-Zentimeter-Fernrohr von Zeiß, zehntausend Rubel; damit wird Pulkowo an dem Unternehmen der Internationalen Astronomischen Gesellschaft mitwirken, der photographischen Aufnahme des ganzen nördlichen Himmels, den der Kongreß in Kopenhagen zu diesem Zweck an die Sternwarten aufteilte. Den neuen Sonnenspektrograph hat die Russische Akademie der Wissenschaften angekauft, und Pulkowo ist gewappnet, noch mehr Geheimnisse einem Himmel zu entreißen, der sich eben mit Dämmerung bedeckt und einem im Schlitten davonfahrenden fröstelnden Laien unsagbar eintönig erscheint.

 


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