Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Galoschen

I

Der Rekord der Produktion, den die Russisch-Amerikanische Gummifabrik Treugolnik in St. Petersburg während des Friedens drückte, war: hunderttausend Paar Galoschen in einem Tage. Man multipliziere diese Zahl mit den Tagen eines Jahres, man bedenke, daß die Lebensdauer eines normalen Gummischuhes zwei Jahre beträgt, und man ist mitten in Billionen drin. Nun war zwar zum Glück jene Ziffer nur eine einmalige Bravourleistung, wäre das die normale Tagesleistung gewesen, so hätte durchschnittlich jeder Bewohner der fünf Weltteile zehn Paar Galoschen besitzen müssen; die Konkurrenz wollte auch leben – »Provodnik« in Riga, »Bogatyr« in Moskau und die amerikanischen Betriebe – immerhin aber war es eine enorme Zahl der Füße, die mit Gummischutz über die Erdkruste schlurfte, mit dem roten »Dreieck« gestempelt, das Schutzmarke und Name der Fabrik war. Jetzt ist das Beiwort in die Anführungszeichen einbezogen: »Rotes Dreieck«. Der »Krasni Treugolnik« ist der größte Betrieb in der chemischen Industrie Rußlands.

II

Rohstoff für alle Werkstätten der Fabrik ist eingedickter (koagulierter) Saft, der den angeschnittenen Gummibäumen abgezapft ward. Aus den Waldungen am Ufer des Amazonenstromes kommt er in Kugeln und Klumpen und Laiben in geräuchertem Zustand an: Para, beste Marke des Wildkautschuks; Hauptquantum aber des Bedarfs, neunzig Prozent, ist 28 Plantagengummi aus Ceylon, Sumatra, Malaya und den Sunda-Inseln. So viel des Rohmaterials bringen die Frachtdampfer via London und Liverpool in den Leningrader Hafen (und wenn dieser eingefroren ist, nach Reval oder Murmansk), daß täglich etwa fünfzigtausend russische Pfund verarbeitet werden. (Bei Batum am Schwarzen Meer, im subtropischen Gebiet der Sowjetunion, versucht man jetzt die Anlage von Kautschukplantagen, der Erfolg kann sich jedoch erst in einigen Jahren zeigen.)

III

Erstes Stadium der Manipulation: Wäscherei. Alle Stücke werden aus den ankommenden Kisten in unterirdische Zisternen geworfen, in Wasser, durch das man Dampf leitet. Vierundzwanzig Stunden müssen sie darin sitzen, bevor sie aufgeweicht sind, um besser losgewaschen werden zu können von Verunreinigungen, dem ungebetenen Passagier, der für hohen Fahrpreis aus tropischem Land über Großbritannien nach Rußland fuhr – bei Wildkautschuk oft bis vierzig Prozent Baumrinde, Sand, Erde, Fälschungen.

IV

Zwischen den Walzen wird nun das Gummi gepreßt. Eine grobe Zahnwalze verbeißt sich mit der Kraft von fünfzehn Pferdegebissen in die verschiedenfarbigen, verschiedenförmigen, verschiedenartigen Stücke und drückt sie zusammen mit der Kraft von fünfzehn Pferdeleibern, bis die Spuren der Zähne gleichmäßig beieinanderbleiben. Auf Glattwalzen wird das Material in ein endloses Band verarbeitet, ein dünnes Gummifell, das man in Stücke von drei Meter Länge teilt und vier, fünf Tage in Trockenräumen aufhängt.

V

Vor Knet- und Mischwalzwerken hantieren Männer, das gespenstische Gebilde der Gasmaske angeschnallt, sie haben die Felle aus den Trockenräumen geholt und flößen ihnen Schwefel, Glätte, Kreide und andere Ingredienzien ein, die beim 29 späteren Prozeß der Vulkanisation dem Gummigegenstand Widerstandsfähigkeit geben gegen chemische Einflüsse, gegen Licht und hohe Temperaturen. Ein alter Arbeiter – ohne Gasmaske – läuft dem Beobachter nach, dieser möge notieren, er (der alte Arbeiter ohne Gasmaske) sei noch aus der Zeit hier, da man Guttapercha beimengte, damit alles schön zäh werde, das gibt es jetzt nicht mehr, Guttapercha wird samt und sonders für Unterseekabel verwendet, sonst ist die Arbeit besser als früher, bitte das gefälligst zu notieren. Geschieht.

Im Kalander erhält das Gummi das Aussehen einer polierten Platte. Die geht auf breitem Band

VI

in die Zuschneiderei, wo nach Schablonen Stücke daraus geschnitten werden, Oberteile und Sohlen für Galoschen von hundert verschiedenen Fassons (je nach der Schuhmode wechselnd) und von dreiunddreißig Größen. Mit Ausnahme des Oberblattes, das handgearbeitet wird, werden die Teile maschinell gestanzt, jeder Schuh besteht aus nicht weniger als zwanzig Teilen, die man zusammenfügen muß in atemloser Hast.

VII

In den langen Sälen der Konfektion stehen viertausend Arbeiterinnen, die roten Kopftücher schaukeln im Raum wie Kinderballons. Bewegungen dröhnen mit unpersönlicher Regelmäßigkeit im Hacketakt einer Maschine, obwohl die Frauen nicht etwa bloß einen Handgriff zu tun haben, sondern eines Schusters ganze Arbeit. Den Metalleisten vor sich, über den sie Futter und Kappe des Schuhs ziehen, kleben und rollen sie nun die anderen Teile fest an die Innensohle auf das Verbindungsband mit dem Futterstoff, drei Kappen, Spitzenauflage, Zwischenfutter, Hackenstück, Füllungssohle, Sporen, Oberteil und Sohle hämmern sie zurecht, bis ein Schuh fertig wird, der zugehörige zweite, siebzehn bis zwanzig Paar im Tag. Intensive Stückarbeit. Keinen Augenblick wollen sie also verlieren, sie trödeln nicht, sie eilen, ihre Bedürfnisse schnell zu verrichten. 30

VIII

Schienen durchlaufen den Saal, Waggonettes fahren darauf, die hundert bis hundertfünfzig Paar der Leisten aufnehmen. Graue Rohgaloschen sind über die Leisten gespannt. Auf Hebemaschinen geht es hinab in die Halle der Schlußarbeiten.

IX

Hier sind es Männer, die arbeiten, jeder hebt aus der einfahrenden Waggonette eine der schweren Querstangen mit den zehn metallenen Leisten und beginnt die Galoschen zu lackieren mit Leinöl und Terpentin, – so, jetzt sind sie braun und können bei 135 Grad gebacken werden, bis sie schwarz werden, in den alten Vulkanisieröfen oder in der neuen Halle, in der zwei ungeheure Kessel über den Kompressoren stehen. Ein elektrisches Hebewerk öffnet die Deckel, die Waggonettes fahren auf Schienen tief in den Kessel ein; fünfzehn Wagen haben in einem Kessel Platz, viertausend Paar Gummischuhe können gleichzeitig vulkanisiert werden.

X

Auf den Regalen des Magazins trocknen sie noch zwei Tage nach, man sortiert sie, paart sie, stempelt sie mit dem roten Treugolnik des Roten Treugolnik, packt je fünfzig Paare in eine Kiste und versendet sie. Die ausbrackierte, die Ausschußware, kommt in ein Ausstellungslokal, das täglich von den Arbeitern besucht werden muß, damit sie die vorkommenden Fehler erkennen.

Das ist die Galoschenabteilung. Aber es sind noch andere Abteilungen in dieser vielseitigsten Gummifabrik der Erde. Ein Erzeugniszweig, bizarre Eindrücke vermittelnd, ist der

XI

der medizinischen Utensilien und nahtlosen Artikel. In einer Trommel, deren Schaufenster Glas ist, sieht man hundert Hände, menschliche Hände, ausgespreizte Hände, fünf Finger und Handgelenk, Hände an sich, einander in rasender Hast jagen: Holzformen für Handschuhe der Chirurgen. Ein Behälter 31 mit Gummilösung in Benzin hat sich hydraulisch gehoben und gesenkt und auf der Form eine dünne Schicht hinterlassen, das Benzin verdampft während der Rotation und nur die dünne Epidermis bleibt, – der Handschuh, nahtlos, auf daß das Fingerspitzengefühl darunter nicht verlorengehe.

XII

Ebenso müssen die Präparate sein, die über den Glasröhren in den benachbarten Trommeln entstehen: diese gläsernen Zylinder, alle von gleicher Breite, etwa so, daß man sie mit Daumen und Goldfinger umspannen kann, rotieren, bis sich auf ihnen eine Gummiblase bildet. Nachdem man nun daran mit dem Finger einen kleinen Rand eingerollt hat, vulkanisiert man das Häutchen in einem Schrank mit Chlorschwefeldampf, bestreut es mit Reispuder, ehrwürdige Matronen und junge Mädchen untersuchen jedes Exemplar auf Undurchlässigkeit, indem sie es ein wenig aufblasen, andere Arbeiterinnen spannen es über einen lackierten Holzstab, prüfen, ob kein Fremdkörperchen in der durchscheinenden Materie ist und glätten es mit auf- und abfahrenden Bewegungen der Fingerspitzen, rollen es ein und verpacken es in kleine quadratische Umschläge; tausend Dutzend sind das Tagespensum der Fabrik.

XIII

Gummilutscher für Säuglinge drehen sich in gläsernen Tauchapparaten, ein ewiger Bedarf, Babys kommen doch immer zur Welt. Im nächsten Baum entstehen Luftballons für Kinder (ohne Gasfüllung geschieht die Versendung), Spielbälle, Badeengel und anderes Gummispielzeug; Wärmflaschen und Eisbeutel, Luftpolster und Fußballseelen haben ein gemeinsames Geburtszimmer.

XIV

Hygienische Spritzen werden aus drei bis vier Teilen geklebt, der Beutel mit kohlensaurem Ammonium gefüllt, das während des Aufenthaltes im Vulkanisierkessel verdampft und das Gummi dergestalt gegen die Form drückt, daß es eine hohle 32 Birne von fester runder Form bildet; die Garnitur, eine Mündung aus Hartgummi, etwa von der Breite vorerwähnter Glasröhren, wird aufmontiert. Milchabsauger, Gummischwämme zum Waschen, Irrigatoren, Insektenspritzen, Gummiwannen, alle die Gebilde, die fertig in den Schaufenstern der Drogerien liegen und Geheimnisse sind des Bettes, der Krankenstuben oder des Badezimmers, kann man hier, jeden Mysteriums entkleidet, entstehen sehen.

XV

Zwanzigtausend Kämme im Tag fabriziert die Hartgummiabteilung; wie einst ein König Frankreichs wünschte, daß jeder Untertan am Sonntag sein Huhn im Topf habe, so wünscht das Sowjetregime, daß jeder Bauer an den Grenzen der Mandschurei und in den Bergen Armeniens seinen eigenen Kamm besitze. Von winzigen Ventilröhren für Fahrräder bis zu mächtigen, achtzehn Zoll dicken Saugschläuchen für Baggermaschinen wird hunderterlei in der Schlauchabteilung geboren, Druckschläuche für pneumatische Instrumente und für Eisenbahnen, Bremsvorrichtungen, Spritzenschläuche und ihre Mundstücke für die Feuerwehr. Ein Schlangenreich. Die Erzeugung von Treibriemen aus gummiartigem Baumwollstoff beschäftigt wenige Leute.

XVI

Produktion und Bedarf: Dreimal soviel Pneumatiks, Luftschläuche und Reifen als vor dem Kriege müssen hergestellt werden, denn es gibt keinen Import mehr. Noch weniger reicht die Galoschenproduktion aus, trotzdem die um ihren Export gekommen ist, mit Ausnahme von Persien und der Türkei, und trotzdem das einstige Konkurrenz- und Provinzunternehmen und jetzige Bruder- und Residenzunternehmen, die Fabrik Bogatyr in Moskau um die Hälfte mehr als 1914 erzeugt. Hunderte Menschen sind in ganz Rußland stundenlang vor jeder Verkaufsstelle des »Resinotrust« angestellt, um Galoschen zu erstehen, im wahrsten Sinne des Wortes zu »erstehen«, und auf den Märkten zahlt man bis zu sechs Rubel für ein Paar, das offiziell dreieinhalb Rubel kostet, verhältnismäßig weniger als im Frieden, da 33 Galoschen vom Obersten Wirtschaftsrat zum unentbehrlichen Bedarfsartikel erklärt sind. Die Produktion deckt also den Konsum bei weitem nicht. Warum? Jede Bauernmagd, die einst barfuß herumlief, muß jetzt Galoschen haben. Warum? »Weil nach der Revolution durch die Verbreitung der Kultur auch die Ansprüche gestiegen sind«, sagt der Mann zur Linken, – »weil der Bauer in der Inflationszeit gelernt hat, auch die ihm überflüssigste Ware lieber anzunehmen als Geld«, sagt der Mann zur Rechten. Wie dem auch sei, eine Erzeugung von siebzigtausend Paar Gummischuhen pro Tag genügt nicht. Man muß die Betriebskosten herabsetzen, um mehr Rohmaterial kaufen zu können (seitdem England durch die Restriction Bill den Anbau verminderte, ist das Pfund »Indian Rubber«, das vor dem Kriege zehn Pence kostete, bis auf fünfundvierzig Pence gestiegen), und man muß den Betrieb rationalisieren, um die Erhöhung der Produktion zu erzielen. Wie in allen großen Betrieben Rußlands wird auch hier der Übergang zur Elektrifizierung vollzogen und Turbinenanlagen geschaffen, deren Höchstdruck auf Erzeugung von Kraft, und der Abdampf zur Vulkanisation verwendet werden soll; ein Ingenieurbureau führt die Pläne der Umgestaltung durch.

XVII

Reformen in der Herstellung werden von jeder der siebzehn Betriebszellen kollektiv besprochen und beschlossen. Dem Betriebsrat des ganzen Unternehmens gehören siebenundzwanzig Mitglieder an, dreizehn Frauen und vierzehn Männer, sechs der Betriebsräte sind von der Fabriksarbeit befreit.

XVIII

Die Gesamtzahl der Arbeiter beträgt sechzehntausendfünfhundert, davon sind sechstausend Frauen. Kommunistisch organisiert sind zweitausendzweihundert Arbeiter, von den viertausend Jugendlichen sind dreitausend Komsomolsen, d. h. Mitglieder der Kommunistischen Jugend-Internationale. Alle Arbeiter gehören der Chemiker-Gewerkschaft an, ob sie nun gelernte Metallarbeiter, Bureauangestellte oder Holzarbeiter sind; in 34 Rußland besteht wie in England das System der Industrieverbände, während in Deutschland bekanntlich die Arbeiter desselben Betriebes in verschiedenen Gewerkschaften – System der Fachverbände – organisiert sind. Zwei Prozent des Einkommens werden an die Gewerkschaft abgeführt. Außerdem gehört die Mehrzahl der Arbeiter den verschiedenen Wohltätigkeits- und Agitationsverbänden an. Im »Mopr«, der Volkshilfe für revolutionäre Vorkämpfer, die besonders die Familien der auf dem Balkan Hingerichteten und Niedergemetzelten und der im Auslande eingekerkerten Kommunisten unterstützt, sind vierzehntausend Treugolniker eingeschrieben, ebenso viele in der »Smitschka«, einer Vereinigung, die den Antagonismus zwischen Stadt und Land überbrücken und für die innere Gemeinschaft von Industrie- und Landproletariat wirken will; das Werk »Treugolnik« führt auch das kulturelle Patronat über die russische Grenzstation Sebesch im Pokrower Gouvernement und über das Leningrader Sappeurbataillon. In der Organisation »Mutter und Säugling« sind dreitausendfünfhundert Arbeiterinnen des Betriebes, im Verband »Kinderfreunde« elftausend Männer und Frauen, in der Invalidenfürsorge viertausend und im »Aero-Radio-Chim«, der Bewegung zur Förderung des Flugzeugbaues, des Funkwesens und zur Abwehr künftiger Gaskriege, vierzehntausend.

XIX

Achthundertdreißig Schriftsteller gibt es in der Fabrik, nicht weniger, eine eigene Vereinigung schließt sie zusammen: die Arbeiterkorrespondenten. Sie bilden Redaktionskollegien der (hier: lithographierten, in kleineren Betrieben: handgeschriebenen, in vielen großen Unternehmungen: gedruckten) Wandzeitungen, von denen je fünf Werkstätten eine haben, und eines Wochenblattes, das für den ganzen Treugolnik erscheint. Sie schreiben gelegentliche oder ständige Berichte für die Gewerkschaftszeitung, für die Jugendzeitung, für die Tageszeitung der Partei, die »Leningradskaja Prawda«, Stimmungsbilder, Humoresken, Vorschläge und Angriffe, gegen die dem Angegriffenen das Recht der Berichtigung und der Anrufung des Volksgerichtes, nicht aber einer Abwehr innerhalb des Betriebes 35 zusteht. Die Institution des »Rabkorr« hat in Rußland eine ganz eigenartige Neuerung im öffentlichen Leben hervorgerufen, die Zeitung ist nicht mehr Sprachrohr des Herausgebers und der Redakteure allein, sondern sie muß einen großen Raum, zumindest eine Seite des Großformats den Rabkorr (beziehungsweise Selkorr, Wojankorr oder Molkorr, d. i. den Arbeiter-, Bauern-, Militär- oder Jugendkorrespondenten) zur Verfügung stellen. In der Presse der Union erscheinen täglich zwanzigtausend solcher Berichte, zweihundertfünfzigtausend Arbeiter- und Bauernkorrespondenten gibt es im ganzen Reiche, jeder Arbeiter, der einmal einen Beitrag an eine Zeitung« gesandt hat, darf sich zur Gilde zählen. In den Redaktionen werden die Artikel eingerichtet, in geringfügiger, zumeist bloß stilistischer Hinsicht geändert und in Satz gegeben; das Honorar beträgt fünfzig Kopeken bis einen Rubel für die Zeile. Die abgelehnten Artikel werden teils zurückgeschickt, teils zuständigen Kommissariaten übermittelt, damit diese täglich über Stimmungen, Urteile und Beschwerden des Arbeiters innerhalb ihres Ressortbereiches unterrichtet sind; oft sendet diese Behörde ein Manuskript der Redaktion zur Veröffentlichung zurück. In den Treugolnik-Werken haben die Rabkorr ein eigenes Lokal, wo sie die Wandzeitungen redigieren oder nach der Arbeitszeit Sprechstunden abhalten.

XX

Arbeiterlöhne: Das Durchschnittseinkommen beträgt drei Rubel fünfzig per Arbeitstag, zweiundachtzig Rubel im Monat, in diese Berechnung sind auch die hohen Gehälter kaufmännischer Konsulenten, der Spezialisten, Ingenieure und vor allem der fünf Inhaber persönlicher Kontrakte einbezogen: des technischen Direktors, des Leiters der Fabrikation, des Leiters der Maschinenabteilung, des Laboratorium-Leiters und des kommerziellen Chefs. Im maschinellen Betrieb verdienen die Arbeiter bis zweihundert Rubel im Monat, in den meisten anderen Werkstätten ist Akkordlohn, die Galoschen-, Präservativ- und Schnuller-Arbeiterinnen kommen auf achtzig bis sechsundachtzig Rubel. Vierhundertfünfzig Jugendliche bis zu achtzehn Jahren gehören dem »Fabzautsch« an, der Fabrikschule, vier Stunden 36 theoretischen und vier Stunden Betriebsunterricht, bei dem sie eine mit mindestens sechzehn Rubel bezahlte Arbeit leisten.

XXI

Vier Wochen Urlaub, mit Ausnahme einiger Nebenbetriebe, wie Tischlerei usw., für die nur vierzehn Tage normiert sind. Die Galoschen-Arbeiterinnen hatten bisher bloß vierzehn Tage Urlaub, aber sie verlangten, daß statt der Flasche Milch, die sie täglich erhielten, eine Verdopplung des Urlaubsquantums durchgeführt werde, was die Gewerkschaft ihnen bewilligte; »Akkordarbeit – Mordarbeit«, das reimt sich, auch wenn man nicht für einen Patron arbeitet, – auch wenn man Sanatorien, Benefizien für Schwangerschaft und Nährmutter, unentgeltliche Krankheitsbehandlung und Kindererziehung, auch wenn man Klub, Theater, Radio, Kino, Musik und Leihbibliotheken nahe und gratis hat, müßte der Akkordarbeiter ohne ausgiebigen Erholungsurlaub über kurz oder lang geistig und körperlich verkümmern.

XXII

Nach dem Umsturz war die Leibesvisitation bei den Fabriksausgängen abgeschafft worden, weil ein altes sozialistisches Vorurteil diese Methode des Abtastens menschenunwürdig nennt, obwohl sie es sicherlich kaum in stärkerem Maße ist als venerologische Generalmusterungen beim Militär, als Ungeziefersuche bei Auswanderern, als Kofferdurchsuchungen an den Zollgrenzen, als Prüfung von Banknoten am Schalter und als Hausdurchsuchungen und Hunderte anderer Polizei- und Militärmaßnahmen, die niemals Gegenstand programmatischer Proteste waren. Man versuchte also nach der Revolution sich auf andere Weise vor Diebstählen zu schützen, hauptsächlich durch genaue Zuweisung des Rohmaterials und dessen Gewichtsvergleichung mit dem abgelieferten Halbprodukt. Das führte jedoch dazu, daß einzelne Diebe vom Stand des Nachbars stahlen, besonders in der Zeit des Bürgerkriegs, da Stoffe, Kämme, Schuhe unerschwinglich waren. Man schritt nun zur Selbstkontrolle, indem man die Visitation durch die Kommandanten – so heißt 37 man die Hauswarte an den Fabriktoren – wieder einführte und ihnen die Verdächtigen noch besonders bezeichnete. Der Hauswart prüft jeden Mann, der das Gebäude verläßt, durch einen Griff, eine Frau macht es mit den Arbeiterinnen ebenso. Bedingung war, daß sich jeder dieser Untersuchung zu unterwerfen habe, doch auch dies mißlang: fünf oder sechs Spezialisten, auf ihre Unentbehrlichkeit pochend, stellten ein Ultimatum, und man mußte ihnen wohl oder übel einen Sonderausweis geben.

XXIII

So wird in Rußland jeder Beschluß zu korrumpieren versucht, die Leute der entthronten Schicht sind feindselig gegen die neue Ordnung eingestellt, ein Ersatz läßt sich nicht schnell schaffen, die geistige und wirtschaftliche Blockade verhindert den freien Arbeitsmarkt, Industriekredite wird das ausländische Kapital doch nicht geben, damit die Russen dessen Überflüssigkeit und Schädlichkeit auch praktisch restlos beweisen, und so herrschen in den Intelligenzberufen noch vielfach Menschen, die den Geist des neuen Wollens erst dann bejahen werden, wenn er sich trotz ihres Widerstandes durchsetzen wird.

 


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