Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Berufe und Religionen in Tiflis

Jeder Volksstamm des Kaukasus hat ein Detachement in die Hauptstadt entsandt, und diese lebenden Warenproben wirken in Tiflis auf die verschiedenste Weise. Die europäisierten Armenier besitzen Häuser im Stadtteil Sololaki, sind wirtschaftlich die eigentlichen Herren des ganzen kaukasischen Handels (denn Tiflis ist der Punkt, wo sich die Wege von Moskau nach Persien und vom Kaspisee zum Schwarzen Meer schneiden), sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung, ihre reicheren Repräsentanten machen Geschäfte mit dem Staat und den großen Verkaufs- und Einkaufsstellen, deren Direktoren und kommerzielle Angestellten häufig Armenier sind.

Nur den Manganerzbau, die Hauptexportindustrie von Grusien (im Jahre 1913 wurden 65 827 000 Pud ausgeführt, weit mehr, als aus den beiden anderen großen Manganerzlagern der Welt, dem indischen und brasilianischen zusammen) haben die Armenier nicht in Händen. Nach dem Konzessionsvertrag hat der Harrison-Konzern, dem auch die Gelsenkirchener Bergwerks‑A.‑G. angehört, jährlich eine Million Tonnen zu exportieren, wofür er das Ausbeutungs- und Ausfuhrmonopol für das Tschiaturi-Mangan auf dreißig Jahre besitzt; gegen hohe Kaution ist der Konzern verpflichtet, Lade- und Entladestellen in Poti am Schwarzen Meer zu errichten, die Zufahrtbahn von Schoropani nach Tschiaturi von Schmalspur auf Vollspur auszubauen, den Grubentransport zu elektrifizieren (jetzt tragen noch vielfach Esel und Büffel die Lasten). Wenn Harrison binnen zwei Jahren nicht auch bindend erklärt, daß er Schmelzöfen zur Gewinnung von Ferromangan erzeugen will, so geht das Recht auf 84 Herstellung von Ferromangan an die Räteregierung über. Vorläufig wird das rohe Erz nach England oder Deutschland, z. B. in die »Gute Hoffnung«-Hütte in Oberhausen, Westfalen, geführt und dort zu Ferromangan verschmolzen. Wozu so hohe Fracht bezahlen, wozu sechzig Prozent Schlacke durchs Schwarze Meer und auf europäischen Bahnen schleppen? Ganz abgesehen davon, daß viel Ferromangan nach Rußland zurückkehrt.

Die Armenier beherrschen außer dem Großteil des Großhandels auch den Privathandel fast ganz, auf dem Trottoir des Eriwanplatzes ist vormittags ihre helle, öffentliche Schwarze Börse und sie tätigen dort, mit nichts bewaffnet als mit einem Notizbuch, bedeutende Warengeschäfte, kaufen und verkaufen und vermitteln Waggons alter Galoschen, Zisternen von transkaukasischem Wein, der zu Kognak verschnitten wird, Schweinsborsten, Därme und vor allem (wenn das Geschäft in Edelsteinen und Valuten flau ist) Tonnen von Lorbeerblättern, die ab Batum und via Moskau den Weg in jeden Teller Borscht von ganz Rußland finden sollen. Beträchtlichen Sukkurs haben die Armenier durch den Zuzug aus den türkischen Wilajets Wan, Bitlis und Erzerum erhalten, – dort zettelte die Entente während des Krieges Aufstände der türkischen Untertanen armenischer Nationalität an, weshalb nach 1918 viele Armenier aus Furcht vor Strafe durch die türkischen Behörden und vor Massakers ihre Heimat verließen.

Die ärmere Schichte, zum Teil ganz asiatisch lebend, ernährt sich auf der Desertyrka, wo sich im Kriege Hunderte von Fahnenflüchtigen aus Rußland und aus der Türkei ihrer Monturstücke entledigten, solche und gestohlene Medikamente aus den Lazaretten verkauften, und wo noch heute ein ähnliches Marktgetriebe wogt. Das amerikanische Hilfskomitee »N. E. R.«, Near East Relief, sandte nach dem Kriege – unter der Devise der Wohltätigkeit, in Wirklichkeit aber um den von der Entente zwischen Rußland und der Türkei geplanten Pufferstaat vorzubereiten und so das Naphtarevier in Händen zu behalten, – ganze Schiffsladungen von alten Kleidern, abgetragenen Stiefeln, zerfransten Hüten und dergleichen mehr nach Kaukasien; diese Ballen sind noch im Handel, ein Teil des Deserteurmarktes heißt 85 »Amerikanka«, und man kann dort karierte Breeches, Rugby-Dresses, Tailormades und Yankeemützen erstehen.

Der Maidan-Bazar hat sich durch die Jahrhunderte politischer Wirrnisse unverändert erhalten. Warum auch nicht, der Zwischenhandel war schon lange vor der marxistischen Ära ausgeschaltet, Einlegearbeiten aus Silber, Gold, Perlmutter und Bernstein werden erzeugt und feilgeboten, Feldflaschen, Dolche und Ketten, Gürtel und Tabakhörner, Sättel, Zügel und Peitschen, hohe Stiefel ohne Absatz, bunte Saffianpantoffel mit Schnabelspitze, Buchara-Teppiche, die hier »Tekkiner« heißen, und Kubaer Teppiche. In einzelnen Höfen ist Eselmarkt und Büffelmarkt, Hufschmiede sind hier etabliert, Pferde beschlägt man gewöhnlich nicht, dagegen die Lastbüffel, die man zu diesem »Behufe« umwirft; viele Landwagen haben keinen einzigen Eisenbestandteil.

Hinter den blanken Badehäusern sind die Einkehrhöfe der Karawanen, von dort klingt es traulich, jedes Trampeltier trägt ein Glöckchen auf dem Hälschen, das Leitkamel geradezu eine Bahnhofsglocke. Aus den georgischen Dörfern kommen morgens zu Fuß, oft zwei Tage weit, Bauernjungen in die Stadt, einen Esel vor sich hertreibend, der einige Krüge »Mazoni« trägt, eine besondere Art saurer Schafsmilch, um sie für 25 Kopeken per Krug zu verkaufen, oder Rettiche, Radieschen und Früchte, ein großes Bündel fünf Kopeken, Tomaten drei Kopeken das Pfund; wären die Esel organisiert, könnte jedes Dorf Zeit und Geld ersparen und bessere Preise erzielen. In allen Gassen und Gäßchen trabt das billigste Transportmittel, es schleppt Weinschläuche aus Büffelfell (»Burdjuk«) mit Landwein, der für europäischen Geschmack zu herbe ist, und, armes Grautier, Wasserschläuche, die aus Eselshaut stammen, vielleicht von der seiner eigenen Mutter, es trägt Säcke mit Holzkohle für die Samoware (die ganze Umgegend von Tiflis ist abgeholzt, die Sowjetregierung muß zu drakonischen Maßregeln und bewaffneten Wachtposten ihre Zuflucht nehmen, um das Aufforstungswerk auf dem Davidsberg zu schützen), Eisblöcke für die Fischhandlungen, Holz zum Heizen, Bidons mit Petroleum, Kinder und Möbel, hier und da fährt auch. ein Büffelkarren mit zwei 86 hohen Rädern einen größeren Warenposten, aber die hauptsächlichste Konkurrenz hat der Esel hierzulande am Menschen selbst. Lastträger schleppen Kassen und Klaviere auf ihrem Rücken, der immer – auch wenn der Muschah außer Dienst ist – ein Stützpolster trägt, ein Holzgestell mit Teppichtuch. Jede fünfte Bude: Garküche, Duchan, Weinkneipe oder Teestube, es riecht weithin nach Hammelfett, Nationalgericht der Kaukasier ist Schaschlik, der aufgespießte Spießbraten von gezwiebeltem, tomatisiertem Schaffleisch, auch Loko wird viel gegessen, ein Fisch, der wirklich loco gefangen wird in der Kura, und Wels; morgens bekommt man Chaschi, Kuttelfleck, gehackte, eingekochte Schafsdärme in fetter Suppe. Inhaber der Teestuben sind im europäischen Stadtviertel Griechen, im mohammedanischen Perser und Tataren, dort trinkt man Mokka mit Salz und raucht Opium, wenn man es nicht vorzieht, sich Opiumessenz in den Tee mischen zu lassen. Kleine Bäcker (die großen Bäckereien sind jetzt verstaatlicht) verkaufen Brote, die die Form eines Backtrogs haben, andere meterlange Fladen von Weißbrot. Die offenen Fleischerläden, vor denen je ein Scherenschleifer mitten in der Gasse steht, haben hauptsächlich Hammel und Jungschafe auf ihren Haken, manchmal aber auch das Wild der Umgebung, Waldschnepfen, Rebhühnersorten, die es sonst nirgends gibt, Wildgänse, Wildenten, Wildfasane, Bärenfleisch, das als minderwertig gilt und billig ist, und Steinbockfleisch.

Die Hauptstraßenzüge stammen aus der russischen Zeit, das Russische ist noch immer Verkehrssprache, trotzdem der innere Verwaltungsdienst georgisch abgewickelt wird. Das stärkste Element stellen zahlenmäßig die Armenier dar, doch geben die Georgier der Stadt das eigentliche Gepräge. Sie sind vorzugsweise kleine Beamte und Magistratsgehilfen, dienen in der Straßenpolizei und bilden »Auge und Ohr«, das heißt: die Tscheka, die im Kaukasus noch nicht abgeschafft ist, und ein großer Prozentsatz gehört den freien Berufen an: Ärzte, Rechtsanwälte, Gelehrte und Journalisten. Dagegen ist das Kleingewerbe, vor allen Dingen der Stand der Handwerker, Monteure, Facharbeiter, selten von Georgiern ausgefüllt, sondern ebenso wie der 87 Handel von Armeniern. Die Grusier haben hier seit dem Umsturz eine große Universität, deren Hauptgebäude das ehemalige Adelsgymnasium darstellt (im Kaukasus blühte der Tschin besonders, es wimmelte von adeligen Staatsräten und Obersten); unter den 6700 Hörern findet man alle Völker vertreten, auch Deutsche, aber zwei Drittel sind Grusier. Fast sechzig Prozent, vom Schulgeld befreit, leben in den zwei Kollegienhäusern und beziehen Stipendien, die anderen zahlen nach dem Verdienst der Eltern oder dem eigenen (in Rußland hat fast jeder Student einen Nebenberuf) ein Kollegiengeld von fünf bis zweihundert Rubel pro Semester. Der Rektor wird jedes Jahr gewählt, wobei die Fakultäten nicht unbedingt alternieren, mit ihnen teilen sich drei Prorektoren in die Leitung; es leben 38 Professoren, 20 Dozenten, 107 Assistenten und 44 Primarärzte an den Kliniken. Das Studium an der medizinischen Fakultät dauert sechs Jahre, an der sozialökonomischen vier Jahre, an der pädagogischen, die in Geschichte, Physik, Mathematik, Naturwissenschaften, Philosophie und Kunstwissenschaften geteilt ist, vier Jahre, an der agronomischen, die zur Heranbildung von Zoo-Technikern, Weinbau- und Forstinstruktoren dient, vier Jahre und an der technischen vier Jahre, nach welcher Zeit man auf jeder Fakultät das Doktorat machen kann, das aber zur Ausübung eines anderen Berufes als das des Hochschullehrers nicht erforderlich ist, auch nicht zu dem der Ärzte oder Rechtsanwälte. Die Universitätsbibliothek, die an Ordnung den westeuropäischen nichts nachgibt, umfaßt bereits dreimalhunderttausend Bände.

Die einheimischen Deutschen – die deutsche Kirchengemeinde hat viertausend eingeschriebene Mitglieder – wohnen im Stadtteil Dibube und sind im Brauereigewerbe, in Möbel- und Sargtischlereien und im Weinhandel tätig, auch deutsche Ingenieure, Ärzte und Zahnärzte kann man antreffen, wenn man am Nachmittag zu Herrn Mader ins Café Germania geht; Deutschland hat hier ein Generalkonsulat, ein teilweise von der Billroth-Stiftung unterhaltenes Lazarett, ein Siechenhaus, Schulen und ein Kriegerdenkmal auf dem katholischen Friedhof, ganz stattlich steht die deutsche Kirche in der Plechanowstraße. Die deutschen Weinbauern steigen, wenn sie nach Tiflis 88 kommen, im Einkehrhof »Frau Jette« ab, im Wohnbezirk der Molokaner, mit denen sich die Deutschen aus religiösen Gründen gut verstehen.

Abgesehen von Aschkenasim, leben in Tiflis kaukasische Bergjuden, »Gorski Jewrei«, besonders aus Kutais in die Hauptstadt abgewandert, wo sie sich damit beschäftigen, die von ihren zu Hause gebliebenen Stammesgenossen geknüpften Teppiche zu verkaufen, oder mit Manufakturwarenhandel. Zum Unterschied von den Juden Rußlands sprechen sie nicht jiddisch. Ihre Synagoge ist zweistöckig, der ebenerdige Saal dient ärmeren Gemeindemitgliedern, der im ersten Stockwerk ist prunkvoll eingerichtet und mit einer Galerie für Frauen umgeben. Man wage es nicht, sie zu fragen, ob der Talmud für sie gelte, natürlich gilt er, sie sind empört über diese Frage und bezeichnen die Karäer aus der Krim, die den Talmud ablehnen, als Heiden, und spucken aus vor Abscheu.

Die Perser sind seit den Feldzügen ihrer Khane hiergeblieben, Zucker, Teppiche sind ihre Branche, die Tataren stammen größtenteils aus dem Kreise Bortschalo und sind Schiiten, die Griechen sind Makler, die griechischen Landbewohner bedienen sich der türkischen Umgangssprache, verstehen nicht mehr Griechisch, aber haben griechisch-katholische Religion und das Bewußtsein ihrer Stammesangehörigkeit nicht verloren. Die Jesiden sind eine kurdische Sekte von Teufelsanbetern, die hauptsächlich in letzter Zeit als Flüchtlinge aus dem türkischen Karsgebiet hier auftauchten oder innerhalb der Räteföderation in der Gegend von Leninochan (vormals Alexandropol) beheimatet sind, wo der Boden geologisch und politisch allzu vulkanisch war, sie sind fast durchgehends Hausknechte oder Nachtwächter (Dworniki), man kann sie nachts, die Flinte geschultert, vor den Haustüren strenge Wacht halten sehen, wobei sie gewöhnlich schlafen. Ein Restvölkchen, das an Anciennität von keinem übertroffen wird, sind die Assyrer, die in Tiflis als Maler und Anstreicher leben, sie kamen zumeist während des Weltkrieges von den Ufern des Urmia-Sees hierher, nachdem sie sich von der Entente zur Organisierung von Banden hatten aufhetzen lassen und deshalb beim Einfall der Türken und Kurden flüchten mußten. Die 89 Adscharen sind georgische Mohammedaner aus der Gegend des Schwarzen Meeres bis an die türkische Grenze; ihre Zeitung heißt »Puchara« (»Der kleine Bauer«), erscheint in Batum in einer Auflage von 35 000 Exemplaren täglich. In einer autonomen Kaukasusrepublik leben die Abchasen, ihre Hauptstadt ist Suchum, ihr Erwerbszweig der Tabakbau, um den sich die Frauen kümmern, während die Männer spazierenreiten, kurzum, ein paradiesisches Land, wo man den Weihnachtsbaum mit blühenden Rosen zu schmücken vermag. Die Osetiner haben gleichfalls nationale Autonomie, Zchinwali ist das Regierungsdorf. Die Molokaner, eine aus Zentralrußland vertriebene Sekte russischer Nation, gliedern sich in Untersekten, es gibt eine Unmenge von Sekten in Tiflis, ihre Betstuben haben oft auch deutsche Aufschriften, nicht nur Herrnhuter (Gemeinschaft evangelischer Christen), Methodistisches Bibelkränzchen und Baptistengemeinde, die ihre Selbsttaufe in der Kura vollzieht, gibt es, sondern auch »Priguni« (»Hüpfer«), die man auf dem »Peski«, dem Sand, an besonderen Sonntagen auf einem Fuße umherspringen sehen kann. Im Kreise Bortschalo, unweit von Tiflis, wohnen auf dem Gebirgsplateau die Duchoborzen, Kommunisten auf religiöser Grundlage, sie haben keinen Eigenbesitz, sie essen kein Fleisch, sie glauben an die Inspiration, und sie sitzen stundenlang beisammen, wartend, daß der Heilige Geist sie erfülle; viele mußten vor dem Kriege wegen der Verfolgung durch den Synod und wegen Militärdienstverweigerung nach Kanada flüchten, wo sie gleichfalls beisammensitzen und auf die Eingebung warten.

 


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