Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Verkehr in Moskau

Schlitten, deren Iswoschtschiks grüne Mützen mit braunem Pelzrand haben, stehen schräg auf der Fahrbahn, dergestalt, daß sie einen spitzen Winkel mit dem Bürgersteig bilden, manchmal, durch abschüssige Straßen, fahren sie auch schief – diese Verschiebung der Achse ersetzt die Bremse. Die teure Kategorie von Schlitten hat schönere Pelzdecken und ein besseres Pferd, sie sind viel höher und federleicht, und der Fahrgast muß auf der Spazierfahrt in den Petrowskipark sein Mädchen notgedrungen umschlungen halten, weil der Sitz schmal und offen ist. Solche und die armen Wagen halten nachts auf den Passanten zu und bieten sich an, für achtzig Kopeken bis in die Soljanka zu fahren; hinterher verlangt der Kutscher das Doppelte, gibt man's ihm aber nicht, so macht er sich nicht viel daraus, die Iswoschtschiks sind eine gottergeben-gleichmütige Gaunerzunft, und nur selten muß man mit der Polizei drohen, worauf der Wagen mit einer Schnelligkeit davonjagt, die man sich während der Fahrt zur Soljanka gewünscht hätte. Die Pferde weichen dem Fußgänger aus, manchmal stolpern, nie aber fallen sie.

Lastschlitten führen den Straßenschnee in die Moskwa und befördern Kohle; ihre Pferde haben ein Kummet, das hoch ist wie der Trajansbogen, und Fesseln wie ein Küchentrampel, am Maul, an den Nüstern und am Bauch hängen Eiszapfen, und der Kutscher trägt gleichfalls Stalaktiten in seinem Bart. Die Taxis sind kurze französische Autos, außerdem gibt es größere Mietwagen, an der Aufschrift »Prokat« erkenntlich, doch sind ihrer viel zu wenig in Moskau, fast immer sind sie besetzt.

Auf der Straßenbahn ist das Auf- und Abspringen verboten, 42 geschieht es, so hält der Wagen, der Schuldige wird dem Polizisten übergeben und muß einen Rubel Strafe zahlen. Das gleiche Pönale, wenn ein Passagier die Zone überschreitet. Der Fahrpreis beträgt acht Kopeken für eine Zone, elf Kopeken für einundeinehalbe und vierzehn Kopeken für zwei Zonen. Man steigt hinten ein, dort steht auch der Schaffner, der meist eine Frau ist, man bezahlt und steigt auf der vorderen Plattform aus. Die ist leer, erst wenn der Waggon hält, öffnet der Aussteigende die Schiebetür. Mütter mit Kindern auf dem Arm, Beamte mit einer Eiligkeitslegitimation und Invalide können vorne einsteigen. Diese Vorschriften sind nachahmenswert, die Durchführung vollzieht sich strikte, aber man denke beileibe nicht, daß es ein Vergnügen ist, in Moskau Tramway zu fahren: eine Stadt, die über Nacht ihre Bevölkerungszahl verdoppelt hat, die mehr als eine Million Einwohner aufnehmen mußte, wie kann eine solche Stadt den Verkehr bewältigen! Strecken von zwei bis drei Haltestellen kann man gar nicht fahren, denn innerhalb dieser Fahrtdauer wäre es unmöglich, sich vom Eingang bis zur vorderen Türe hindurchzuquetschen. Die Leute hängen hinten am Wagen als scheußliche Wucherung, sie hoffen, bei der nächsten Haltestelle aufrücken zu können. Und im Innern, glaubt Ihr, sei es besser? Schlimmer ist es! Man drückt sich aneinander, Kopf an Kopf, Fuß an Fuß, Bauch an Bauch – es ist zum Verstand- und Galoschenverlieren! Von neun bis zehn Uhr morgens, wenn die Leute zur Arbeit fahren, von halb fünf bis sieben Uhr abends, wenn die Leute von der Arbeit fahren, ist der Anblick einer Straßenbahn zum Steinerweichen. Auch weiß man nie, wo man aussteigen soll, denn auf die Scheiben sind ganze Herbarien von Eisblumen gepreßt, und fragt man, ob der Wagen zu der oder jener Straße führt, so antwortet ein Chor der Fahrgäste »Idiot! Idiot!« was nicht angenehm im Ohr klingt, aber nur »er geht« bedeutet.

Autobusse sollen den Verkehr entlasten und tun es nach Leibeskräften. Zehn bis vierzig Kopeken kosten die Fahrten, es gibt schwere englische Wagen und leichte aus Zwickau, die billiger sind, aber stärker schleudern, die Zonengrenze ist weiter gesteckt als bei der Straßenbahn, das System des 43 Hintenaufsteigens und Vornabsteigens ist auch hier in Wirksamkeit, dieselbe lebensgefährliche Überfüllung, eine Untergrundbahn wäre dringend notwendig, doch was wäre nicht alles notwendig: zehntausend Häuser, neue Fabrikbauten, landwirtschaftliche Maschinen – vorläufig muß man eben mit der Hand arbeiten und zu Fuß gehen. In Moskau zu Fuß zu gehen, ist gleichfalls nicht leicht, der Schnee knirscht unter den Tritten, als hätte man Prothesen, das Pflaster ist alt und bucklig und man glitscht auf der gefrorenen Kruste aus, obschon die Gummischuhe gerippte Absätze haben. Die Kolonnen der Soldaten marschieren daher in kurzem Schritt, beinahe auf der Stelle, die Uniformmäntel reichen bis an die Knöchel (die der Wachtposten sogar bis auf die Erde), so daß fast keine Bewegung der Doppelreihen bemerkbar ist, man sieht nur eine schaukelnde, braune Wolke, über der immer Chöre schweben, halb Marschgesang, halb Sehnsuchtslied vom Dorf am Steppenrand. Dreißig Grad Kälte, man friert und schlägt die Arme zusammen, die Pelzmütze geht über die Ohren, und die Walinki, die Filzstiefel, bis zum Knie. Die Mädchen auf der Petrowka aber tragen fleischfarbene Seidenstrümpfe, Halbschuhe und keine Schlüpfer. Daran ändert sich nichts, wenn das Thermometer einen Grad über Null zeigt und die weiße Stadt zu einer braunen wird, Schnee, Pflastersteine und Straßenschmutz sich auflösen in einen ungeheueren Maischbottich, den man durchwaten muß, über und über bespritzt und andere über und über bespritzend. Abgesehen von der Zeit des Tauwetters macht die Stadt einen erstaunlich sauberen Eindruck. An jedem Haus, gewöhnlich an der Dachrinne befestigt, steht ein Trichter, in den man Abfälle wirft, Papierreste, Obstschalen und vor allem Zigarrettenstummel, deren Mundstück, – damit man es auch mit den dicksten Pelzhandschuhen halten kann – nicht unter fünf Zentimeter lang ist, so daß im Nu Kanäle und Abflußöffnungen verstopft und die Straßen mit Mundstücken besät wären, könnte man diese überall hinwerfen, ohne einen Rubel Strafe zu gewärtigen.

Die Pioniere (Kinderverbände) stapfen geschlossen durch Schnee und Kothaufen, die höher sind als sie selbst, sie kommen vom Lager, von der Arbeitskommune oder von einem Ausflug und 44 schwenken mit erfrorenen Händen die Standarten und die Trommelschlegel. Ist jemand von der Jugendorganisation, gestorben, zieht der Kondukt, Mädchen mit rotem Kopftuch und Knaben mit roten Halsbinden, hinter einem roten Sarg auf rotem Leichenwagen, die Pferde tragen rote Schabracken, die Kränze sind aus roten Nelken mit roten Schleifen, und der rote Zug bewegt sich mit roter Musik über den Roten Platz der roten Stadt; vor dem Lenin-Mausoleum wird der russische Trauermarsch angestimmt, die Passanten bleiben stehen, die Pietät wird von der roten Draperie ebenso wachgerufen wie einst von der schwarzen.

Jeder zweite Mensch trägt eine Aktentasche, denn jeder zweite Mensch ist Beamter, all das, was früher Industrieller, Ingenieur, Kaufmann war, ist verstaatlicht, die Zentralen der Gewerkschaften, der Genossenschaften, der Staatstrusts, die Vertreter der russischen Republiken und der Provinzkooperativen, die Kommissariate, die Komintern, die Gesandtschaften Europas und Asiens sind in Moskau konzentriert, und jeder hält sein Portefeuille in der Hand.

Die Zahl der Bettler soll im Frieden vierzigmal größer gewesen sein als jetzt, aber noch immer bleibt die Zahl der Bettler nicht allzuweit hinter der der Dohlen zurück, die um die Mittagsstunde geschlossen über die Stadt fliegen, um sich als lebender Mäander auf dem Gesimse der Kremlpaläste niederzulassen. In den Kreml dürfen die Bettler allerdings nicht, jedoch auf der Teatralnaja-Ploschtschad rutschen sie auf den Knien oder sitzen, von drei, vier Kindern umgeben, den ganzen eisigen Wintertag da und flehen um den Diminutiv eines Diminutivs einer Kopeke. Sie hocken auf dem Podest vor der Madonna von Iberien und vor andern wundertätigen Kapellen, denen sie damit Konkurrenz machen, denn die Kirche ist selbst auf Almosen angewiesen, die geistlichen Güter sind eingezogen, der Pope lebt vom Opferstock in den Mund und ist der Letzte seines Standes, theologischen Nachwuchs gibt es in Rußland nicht. Bettelnachwuchs desto mehr, um Mitternacht, wenn die Konzerte zu Ende sind, die Theater, die Kinos, dann strömen die kleinen Straßenbettler vor den Ausgängen zusammen und bedrängen die Besucher. Ihre Rivalen 45 sind Zigeunerinnen, die den Anzubettelnden oft eine Viertelstunde lang verfolgen, ihm und seiner Begleiterin Komplimente machend, daß die Schöne Helena vor Neid erblassen müßte, manche Bettler geigen oder werkeln, und vor dem Großen Theater spielt ein Greis allnächtlich auf seiner Flöte Melodien aus der Oper von heute abend. Straßenkinder machen in der Nacht illegale Feuerchen an, um sich zu wärmen. Auch legale Feuerchen lodern: die Weichensteller und die Verkehrspolizisten in abgelegenen Straßen bekommen Holzscheite von der Stadt, die sie anfachen und brennend ihrer Ablösung übergeben. Bei Straßenumzügen und Exkursionen, wie zum Beispiel bei der Leichenfeier für den kürzlich in Riga erschossenen Kurier Nette, oder bei der Ausstellung der Romanowschen Kronjuwelen, wenn die Menge sich auf den Straßen staut, liefert der Stadtsowjet Kohlenfeuer für die Manifestanten.

Nachts sitzt hinter jeder geschlossenen Geschäftstüre ein vermummter Mann, er versieht den Nachtwächterdienst; in jeder Hausflur, in jeder Kanzlei gibt es solche Hüter, die meistens schlafen. Von vier Uhr nachmittags bis zehn Uhr morgens tun sie das, aber nur jeden dritten Tag – auch ihre »Arbeitszeit« beträgt sechs Stunden täglich. Die Amtstracht ist eine ungegerbte Schafhaut mit Pelzbesatz – einen Pelz hat hierzulande fast jeder, vom Bettler bis zum Kulaken, vom Straßenknaben bis zum Nepmann, tausend Spielarten von Pelzen könnte man verzeichnen, blonde, brünette und kahlköpfige Pelze, billige und kostbare, und wer keinen Pelz hat, hat doch einen, denn man sagt von ihm, er trage einen Fischpelz.

Brotbuden, in denen ganz schwarzes, braunes, graues und weißes Brot feilgeboten wird, Bulki, Kringeln, Zwieback und Striezeln. Stiefelputzer, syrischer Nationalität, amtieren vor offenem Schrank mit Schnürsenkeln, Schuhcreme, Einlegesohlen und Gummiabsätzen, sie wichsen nicht nur Stiefel, verkaufen nicht nur obige Waren, sondern reparieren auch Galoschen. In Zeitungskiosken findet man meist illustrierte oder satirische Wochenschriften und die Morgenzeitungen, aber dem, der ein Boulevardblatt kaufen will, drückt es schon einer der Camelots in die Hand, die ein gellendes Organ haben, »Wetschernaja 46 Moskwa« zum Beispiel. Stumm lächelnd führen Chinesen mit Otterfellmützen und breiten, an den Knöcheln zusammengebundenen Hosen ihr bewegliches Kinderspielzeug vor, Papierdrachen, Stehaufmännchen und Puppen; an der Lubjanskaja Ploschtschad bieten sie Aktentaschen, Gürtel und Damentäschchen an.

Die Verkäufer von Semitschki, gerösteten Sonnenblumenkernen, haben viele Säcke vor sich, ein Wasserglas ist ihr Maß, für acht Kopeken schütten sie es in die Taschen des Käufers. Der Mund des richtigen Russen ist ein Präzisionsmotor zum Zerbeißen der Sonnenblumenkerne, in weitem Bogen wird eine Portion zwischen die Zähne geworfen und im gleichen Augenblick gleiten die leeren Schalen aus dem linken Mundwinkel, oft am Barte kleben bleibend, bis der Klumpen groß genug ist, um infolge der Schwerkraft zu Boden zu fallen oder bis sich der Esser die Mühe nimmt, ihn wegzublasen. In der Tram und in der Eisenbahn ist es verboten, Sonnenblumenkerne zu kauen, nicht wegen des Kauens, sondern wegen des Ausspuckens der Schalen.

An vornehmeren Straßenecken ruft ein Kordon gutgekleideter Frauen, bunte Phiolen in den Händen: »Coty, Chypre, Quelques-Fleurs, Houbigant, Eau de Cologne«, andere haben Büstenhalter, Binden und Strumpfbänder, Käuferinnen nehmen die Waren in die Hand, messen ungeniert an ihrem Körper, ob sie passen, probieren die Elastizität, vieles ist Schund, drum prüfe, wer sich ewig bindet. In der Mitte der Fahrbahn wandern Tataren, »Starju, biru« schreiend, was russisch ist und angeblich wörtlich bedeutet: »Einkauf von Lumpen, Papier, Alteisen, Kleidern und überhaupt allem.« Nach zerbrochenen Scheiben lugen Glaser aus, ihre Arbeit anzubieten, denn es gibt keinen stabilen Glaserladen; bei Anbruch des Winters verkitten sie hermetisch alle Fenster. Tankwagen des Naphthasyndikats rollen über das Pflaster und bleiben auf Anruf petroleumbedürftiger Hausfrauen stehen.

Auf den Märkten Bude an Bude, zweitausendsechshundert Stände hat der Sucharewski Rynok allein, man kann nicht nur all das kaufen, was man in analogen Basarbetrieben Westeuropas kaufen kann, sondern noch vieles, vieles andere. Russisches, Allzurussisches, handgestickte Hemdblusen, Heiligenlämpchen, alte 47 Ikonen, Filzstiefel, die bis zur Wade und solche, die bis zum Schritt reichen, Kamelhaarwolle zum Ausstopfen der Federbetten, schwarzgolden lackierte Holzdosen zur Aufbewahrung von Tee, Kinderwagen ohne Räder, jedoch mit Schlittenkufen, Puppenschlitten, Pelze und Pelzabfälle, handgewebte Matten, Ledermützen mit Pelzbesatz und Pelzkappen mit Lederbesatz, Teppiche, Fäustlinge, Schlittschuhe mit je zwei Schneiden, die gezackt sind, Spielzeugschachteln, Stalin-Bilder, Frauenzöpfe, helle, runde Handköfferchen aus Birkenholz (für Frühstück und Ausflugsproviant), ganze Milchkälber und Fleisch, das der Metzger zu Hause zerhacken muß, denn auf dem Markt friert es zu Stein, aus Delikatessenläden stammende gemischte Warenreste von Kaviar, Käse, Wurst, Butter, Fleisch, Fisch und Obst, antiquarische Bücher, wie »Iswoschtschik Gentschel« von Gergart Gauptmann, Kleiderhaken aus Ziegenhorn, und hauptsächlich die vier ewigen Seiten der russischen Quadratur: Samowar, Gummischuhe, Sonnenblumenkerne und Rechenmaschine. Gebrüll, Gekreisch erfüllt die Märkte, am schlimmsten dort, wo Grammophone einander überschreien wollen, dort, wo Harmonikas und Balalaikas und Blasinstrumente ihre Preiswürdigkeit gleichzeitig in den diskrepantesten Melodien betonen. Durch das Gewirr drängt sich der Polizist und prüft den Marktschein, den der Befragte mit seinen dicken Handschuhen nur mühselig aus der Fell- und Wollverpackung seines Körpers zu holen vermag, charascho. Hie und da flüchtet ein Dieb, der Beute an den Mann bringen oder Beute holen wollte. Lachend enteilen unbefugte Obstverkäuferinnen auf die andere Straßenseite, wenn sich der Schutzmann naht – allzusehr fürchten sie ihn nicht (»Miltoschka« heißt der Milizionär im Volksmund, also ein Diminutiv, während man den zaristischen Polizisten als Tyrannen und Rächer sah, indem man ihn »Pharao« oder »Erzengel« nannte). Würste und Fleischstücke und Pasteten brodeln im Fett. Seltsam, im Schnee zwischen einem Spalier einladender Kanapees zu spazieren. In der Tolkutschka darf man Einzelgegenstände auch ohne Patent verkaufen; in diesem Sektor des Getümmels war es, wo man zur Zeit des Pajoks, des Bezugsscheines, den Urväterhausrat gegen Nahrungsmittel eintauschen konnte, noch jetzt ist hier Feilschen 48 und Tohuwabohu am intensivsten. Über all dem Getriebe läutet unter goldenen Zwiebelkuppeln die Kirchenglocke, einer Welt zurufend, die nicht Zeit noch Lust hat, darauf zu hören . . . Uhrmacher sitzen über winziges Räderwerk gebeugt, ihre Finger dürfen nicht erfroren sein, der Kunde wartet, Freilichtschlosser hantieren an Schlüsseln oder Kassetten, ein Laden bietet Handwerkszeug feil, Sichel und Hammer, worüber man einigermaßen erstaunt ist, denn diese beiden Geräte sind in Rußland so oft symbolisch zu sehen, daß man an ihre Realität gar nicht mehr glaubte.

Großmarkt für Eßwaren ist der Ochotni Rjad, was soviel wie »Jägerzeile« bedeutet. Wohl sind es keine Jäger mehr, die ihre Beute hier abliefern, aber noch immer kommen Bauern mit den im Säuglingsalter geschlachteten Ferkeln, mit Hühnern, Gänsen und Butter, noch immer kommen Bäuerinnen und verkaufen Eier, nicht etwa mandelweise, sondern je zehn Stück, marinierte Pilze um neunzig Kopeken, oder ein Pfund Sahne mit sehr dickem Rahm in Tongefäßen, noch immer kommen Fischer mit der Wobla, einem gesalzenen, in der Luft gedörrten Fisch, der so hart ist, daß man ihn an die Wand schlagen muß, bevor man ihn häutet; er soll der Ichthyologie früher unbekannt gewesen und erst während der fleischlosen Zeit des Bürgerkrieges, auf einem Pajok schwimmend, aus den Wellen emporgetaucht sein, noch immer kommen Händler, um Jikra zu verkaufen: Kaviar, roten und schwarzen, Preßkaviar in Papier oder auf Brötchen – alles wird eingepackt. Dieser Embarasse von Emballagen! Wenn man im Bäckerladen einige Schrippen ersteht, oder einen Hering und ein Stück Wurst in der Twerskaja beim einstigen Jelisejew, dem Delikatessenbergwerk, so wird dieser Dreißig-Kopeken-Einkauf gewickelt in weißes Papier, dann in Pergament, noch einmal in Papier, wird verschnürt, ein Halter daran – oder eine Schachtel, die wieder verschnürt wird. In diesen Verpackungen offenbart sich deutlich die Maßlosigkeit, der Wille zum Superlativischen, der überall in Rußland deutlich kenntlich ist, in den fünfstündigen Theatervorstellungen mit hundert Akrobatenstückchen, hundert Regiewitzen, hundert Dekorationseinfällen, hundert darstellerischen Glanzleistungen, hundert 49 Wiederholungen, hundert Infantilitäten, hundert Pubertäten und hundert Senilitäten, in den Versammlungen mit fünfstündigen Reden, in den Millionen von Lenin-Bildern, Lenin-Büsten, Lenin-Abzeichen und in den Millionen von Propagandabroschüren, in den Diagrammen, Tabellen und Illustrationen zur Statistik, in der Flut von Zeitungen, in den hundert Ausstellungen, in der Masse von Klubs, Exkursionen und Instituten, in den Enqueten mit sechzig Fragen und im Wolkenkratzerstil der neuen Häuser.

Auch der wilde Hausierhandel und der Basarbetrieb auf den Märkten ist ins Maßlose gestiegen, so daß der Staat dagegen einschreiten, selbst Straßenverkäufer und Händler über die Stadt schicken mußte. Manche tragen eine schwarze Mütze mit dem Namen des staatlichen Trusts »Mosselprom« (Moskauer Nahrungsmittelindustrie), und diese Aufschrift steht auch auf der glasgedeckten Schachtel, die ein horizontales Schaufenster ist, darunter, im Handschlitten, befindet sich das Warenlager. Der »Mosselprom« beschäftigt Verkäufer von Schokolade und Konfekt, von belegten Broten, die auf russisch »Butterbrot« heißen, und hauptsächlich von Zigaretten, doch hat er hier viel Konkurrenz in den rotmützigen Händlern des Leningrader Tabaktrusts. Diesen Handel halten meist Arbeitsgemeinschaften von Kriegsinvaliden in Händen, außerdem werden organisierte Arbeitslose herangezogen, denen elf Prozent vom Brutto zufallen, was oft einen Rubel im Tag ausmacht, während die Arbeitslosenunterstützung für Unqualifizierte nur sechs Rubel im Monat beträgt. In Kiosken (»Larjok«) wird Chalwa, d. i. Pflanzenöl mit Zucker und Nüssen, verkauft, kandiertes Obst, türkisches Zuckerwerk, süßer Käse, Nußgelee, Kandiszucker und Keks, in andern Buden Wurst, Käse und Schinken, in wieder andern: Papyrosy. Reklameverse, von Majakowski verfaßt, sind bunt darauf gemalt, etwa:

Unsre Zigaretten sind süß wie Aprikosen
Und duften überdies wie Rosen.

Vor rotweiß lackierten Schränken, die der Organisation »Krassni Korebenik« (der Rote Händler) gehören, verschleißt man verschiedene Heimarbeiten, Socken, Bandelkram, Posamenten, 50 Knöpfe, Tücher, Nadeln und alle übrigen Galanteriewaren, manchmal auch Seife, in größeren Pavillons wird kaukasisches Mineralwasser ausgeschenkt, Borschom, Narsan und Essentuki. Im staatlichen Straßenhandel ist alles um vierzig bis sechzig Prozent billiger als im freien Handel, aber es sind fixe Preise, und das ist einer der Gründe, weshalb man zu den wilden Händlern und auf die Märkte läuft, denn was eine echte Hausfrau ist (in Moskau natürlich), kauft lieber ein wenig teurer und schlechter ein, wenn sie nur vom Preis etwas abhandeln kann.

Jedes Jahr am 5. Mai ist Feiertag der Presse. Da treten im Moskauer Palast der Gewerkschaften die Arbeiterkorrespondenten des Gouvernements zusammen, in einem andern Saal die Bauernkorrespondenten, in allen Klubs und Ämtern werden Vorträge über Wesen und Wert der Zeitung gehalten und Debatten darüber geführt, wie man durch Nachrichten und Agitation dem Pressewesen nützen kann. In den Blättern selbst kommen Artikel »In eigener Sache« und Reminiszenzen alter Mitarbeiter an sozialistischen Flugblättern und illegalen Zeitungen zum Abdruck, wenn nicht gar im Großen Theater eine Versammlung mit Referaten solcher Parteijournalisten stattfindet. Daß das Radio an diesem Tage sich daran beteiligt, über das Pressewesen aufzuklären und Abonnenten zu werben, ist selbstverständlich.

An den Tag der Presse schließt sich der Jahrmarkt des Buches an, eine Einrichtung, die vorbildlich ist und überall Nachahmung finden sollte. Einer der verkehrsreichsten Plätze Moskaus, der Twerskoj-Boulevard, ist das Gelände. Vom Dichter Puschkin bis zum Physiologen Timirjasew, d. h. ihren Denkmälern, führt eine Budenstraße, über die Wimpel gespannt sind, grellrote, grüne, ein blau-orangeroter und violette mit Losungen, auf den Wert des Bücherlesens bezüglich. Alle Verlagsanstalten, viele Buchhandlungen und Antiquariate haben Kioske. Der Verlag für Landwirtschaft präsentiert sich in einer dörfischen Bauernstube, der Verlag ehemaliger politischer Sträflinge verkauft in einer vergitterten Katorga, ein Kinderbücher-Verlag hat ein Kasperltheater als Verkaufsstelle eingerichtet. Vor gemalter Seelandschaft hantieren waschechte Fischer mit waschechtem Fanggerät, für zehn, zwanzig oder dreißig Kopeken senken sie Netz 51 oder Angel hinter das gemalte Ufer, in das supponierte Gewässer und ziehen ein Buch empor. Andere Buden sind »Automaten« aus Leinwand: wird ein Zwanzig-Kopeken-Stück eingeworfen, so fällt ein Buch heraus; jedermann weiß, daß ein Mann im Innern der Bude das Geldstück entgegennimmt und das Buch hinausschiebt, ebenso wie den obbemeldeten Fischern einfach ein unsichtbarer Gehilfe ein Buch ins Netz legt oder an die Angelrute hängt. Trotzdem drängen sich vor diesen »Wundern« die Leute zu Hunderten und stürzen sich auf jeden, der ein Buch bekommen hat, neugierig zu sehen, welches Werk das Schicksal ihm bescherte. Kinder haben natürlich ihre eigenen Automaten und ihre eigenen Fischerplätze und stehen dort von früh bis abend, obwohl sie all ihr Geld schon längst in Bilderbücher umgesetzt haben.

Die Wimpel wehen im Wind, die Parolen darauf blähen sich, grüne Wimpel mit dunkelblauen Devisen, ein blau-orangeroter Wimpel, violette Wimpel mit hellgrünen Parolen, »Wer Bücher hat, braucht die Menschen nicht mehr«, rot überwiegt bei weitem, »Lenin hungerte, aber Bücher kaufte er doch«, »Wer Bücher kennt, kennt die Welt«.

Verkäufer haben Stöße von Ramsch auf der Erde ausgelegt, Männer und Frauen, Bourgeoisie und Proletariat hocken auf dem Boden, die Röcke rutschen hoch über die Knie, alle wühlen in vergilbten, oft mäusebenagten Broschüren. Da liegt Dickens in tausend Exemplaren, der ganze Victor Hugo, so wie er seit dreißig, vierzig Jahren im Keller eines Antiquars verstaubte, bis ihn die Bücherkirchweih an die Sonne rief. Drei, vier solcher Parterrelager bestehen nur aus deutschen Büchern, hier muß man sich geradezu prügeln, um in die vorderste Reihe zu kommen, denn das neue deutsche Buch ist für russische Verhältnisse zu teuer, und der Hunger nach ausländischer Literatur seit den Jahren der Blockade enorm; aber ach, es ist keine besonders aktuelle Literatur, die sich da feilbietet, Berthold Auerbach, Paul Heyse, die Marlitt, die Heimburg, der gesammelte Spielhagen und der ausgewählte Felix Dahn, die Bände der »Kultur« von Gurlitt, Malermonographien, Gedichte von Anastasius Grün. Daneben geht's moderner und wieder russisch her. Die 52 Werke des Staatsverlages. Man kauft schon die Publikationen des Marx-Engels-Institutes, die neuen Gesamtausgaben Tolstojs und Gorkis, und auch Trotzkis Oeuvre beginnt in zwanzig Bänden zu erscheinen. Der erste Band der Sowjet-Enzyklopädie, eines der wenigen gebundenen Werke. Die mannigfachen Anthologien, »Die Großstadt in der Literatur«, »Das Dorf in der Literatur«, »Der Metallarbeiter in der Literatur«. Alles um zwanzig bis fünfzig Prozent billiger als in den Geschäften, und trotzdem das Maiwetter Moskaus diesmal einem Dezember in Berlin an Kälte nichts nachgab, war der Platz in den ersten Tagen des Freilichtsortiments ununterbrochen von Menschen durchflutet. Zum großen Teil erschienen sie allerdings wegen der drei Musikkapellen, die abwechselnd im Freien konzertierten. Aber manche haben den Zeitpunkt abgewartet, bis sie auf dem Markt die Bücher mit Rabatt beziehen können. Überall ist's ja so: man schiebt die Anschaffung eines Buches von Tag zu Tag hinaus, um sie schließlich ganz zu unterlassen, jeder Sortimenter weiß, daß kaum zwei Prozent allfälliger Bücherinteressenten Buchhandlungen aufsuchen, sondern nur dann kaufen, wenn man ihnen etwas zur Ansicht schickt oder ein Buch sonst auf eine zufällige Weise in ihre Hände gerät – selten kommt der Leser zum Buch, das Buch muß zum Leser kommen, und die Zukunft des Buchhandels liegt auf der Straße.

Der Bouquiniste Lefievre vom Quai Voltaire, der als vielfacher Millionär starb, war gewiß eine Ausnahme, jedoch unter den Buchhändlern mit Laden wird es nicht einmal solche Ausnahmen geben. Was in der zweiten Maiwoche in Rußland unter den grellroten, grünen, violetten und dem blau-orangeroten Wimpel in und vor den Buden veräußert wird, geht meist an Leute, die sonst niemals Bücher kaufen, und an den antiquarischen Druckschriften werden sicherlich beinahe hundert Prozent verdient, denn es ist Ware, die in den Kellern vermodern oder höchstens als Makulatur verschleudert würde.

Vor vielen Ständen sind Tafeln angebracht: »Das Buch . . . ist ausverkauft.« Der Tagesumsatz hat nach den Zeitungen anfangs vier- bis fünftausend Rubel betragen, auf vier Tage war der Jahrmarkt proponiert und wurde um acht Tage verlängert. 53 Leider kam der Mai auch in der zweiten Maiwoche nicht nach Moskau, im Gegenteil, ein Schneesturm kam, er zerrte an den Fahnen, er schwängerte die roten, violetten, grünen, blauen und den blau-orangeroten Wimpel und zerriß sie, die Devisen wurden Mißgeburten, vom Flaggenstock links weht »Wer Bücher kennt«, vom zugehörigen auf der andern Wegseite »kennt die Welt«, rechts hungerte Lenin, auf der gegenüberliegenden Seite kaufte er dennoch Bücher, die Bestände wurden naß, man mußte schwarzes Ledertuch darüber breiten, das bald mit weißen Flocken übersät war, schwarz und weiß gelten als die Farben der Reaktion, die Kapellen spielten mit Todesverachtung, aber sie unterlagen im Wettkampf mit dem Wetter, zwar zeigten sich Kunden, jedoch nur solche, die etwas Bestimmtes haben wollten, die Schmökerer ließen sich abschrecken, und die Kirmes des Buches endete demnach nicht so gut, wie sie begonnen hatte. Vielleicht ist es besser so, denn hätten alle Verlage ihre Bestände und alle Buchhandlungen ihre ältesten Ladenhüter ausverkauft, dann wäre nächstes Jahr nichts vorhanden, um zwischen Timirjasew und Puschkin ausgelegt zu werden.

Besteht der Straßenmarkt, muß auch die Börse bestehen. In dem teppichbelegten, unverändert eleganten Sitzungssaal des Börsenrates hängt außer einer Aufforderung, daß die Proletarier aller Länder sich vereinigen mögen, ein Kolossalgemälde: auf dem Dachgarten eines Hauses steht Karl Marx neben Lenin und weist auf die im Morgennebel schwimmende Großstadt. Der Maler hatte vielleicht eine ähnliche Vision wie in Zolas »L'argent« der schwindsüchtige Sigismonde Busch, der nach der Lektüre des eben erschienenen »Kapital« auf das erwachende Paris hinabsieht und von der Vernichtung der Großfinanz und der Demolierung der Börse träumt.

Die Bolschewiki haben die Börse nicht demoliert, der jonische Tempel in der Ilinka steht da wie einst, in den Räumen wird gerechnet und geschrieben, und teppichbelegt und unverändert elegant ist der Sitzungssaal des Börsenrates, in dem der gemalte Marx dem gemalten Lenin die gegnerischen Positionen zeigt . . . Und doch ist es eine andere Börse als jene, deren Geheul weithin durch die Rue Richelieu tönt, eine andere als jene, die in der 54 Burgstraße, auf dem Schottenring, auf dem Mansionhouse Place oder gar in Wallstreet die Gemüter der Akteure mit einer Erregung erfüllen und die Erregung bis in die letzten Winkel der Stadt und des Landes schwemmen. Sie hat still zu sein, die Moskauer Börse, und sie ist still. Zur Zeit des Kriegskommunismus, da man unter der Hand mit allerhand Valuten und Werten handelte, mag es auf der Schwarzen Börse lauter zugegangen sein, obgleich man vor der Tscheka zittern mußte.

Wie überall ist auch im Sowjetstaat Klärung von Angebot und Nachfrage, Erleichterung des Warenaustausches und Reglementierung der sich ergebenden Handelsoperationen der Zweck der Börse. Doch der Unterschied zwischen hier und anderswo besteht darin, daß der Privatspekulation fast jeder Boden entzogen ist und von den fünfhundert Mitgliedern der Börse drei Viertel offizielle Organe, Vertreter der Staatsbanken, der Staatstrusts, der Genossenschaften und der gemischten Aktiengesellschaften sind. Nicht mehr als 120 Privatfirmen gehören der Börse an, und auch sie arbeiten – wenn auch indirekt – für den »Gosplan«, das Planwirtschaftsamt; denn dieses regelt nach den auf der Börse ausgearbeiteten Statistiken (Professor Ustinow) von Auftrieb und Bedarf die gesamte Produktion des Reiches. Sogar die Makler harren ihrer Verstaatlichung, und obwohl sie auch weiterhin von den vermittelten Geschäften Tantiemen beziehen sollen, hilft ihnen das recht wenig darüber hinweg, daß sie der drakonischen Gesetzgebung für Amtsvergehen unterstellt sein werden.

Zur Börsenzeit, von zwölf bis zwei, herrscht auf der Zentralwarenbörse des warenreichsten Landes eine unglaubliche Ruhe, ja Langweile. Durch den Riesensaal, der einst Schauplatz fürchterlicher Entscheidungsschlachten war, gehen Männer gemächlichen Schrittes, – so geringfügig sind die Geschäfte, daß sie die Aktentasche in der Hand halten können, ohne dadurch in der Gestikulation gestört zu werden. Links unten, beim Bufett, sitzt ein Hüne mit bäurischer Pelzmütze, tunkt sein Brötchen liebevoll in den Tee, während er einem jungen Sensal Aufträge diktiert. An Tischchen kauern Menschen, die schon etwas börsenmäßiger aussehen, und drohend wie ein Revolver liegt das Telephon neben ihnen, – aber ach, wenn sie das Mikrophon ergreifen, sprechen 55 sie Dinge hinein, bei denen sie lächeln können, sie lächeln, unglückliche Börsianer! Mancher fühlt sich so einsam in der Unendlichkeit des Raumes, daß er mit den vorn an der Barriere stehenden Leuten ein Gespräch beginnt oder die Titel der Broschüren besieht, die hier wie in jedem Amt vor einer kleinen Buchhandlung ausgelegt sind. Bei der Bankabteilung nimmt man die Geldüberweisungen vor, dahinter, auf der Fondsbörse handelt man russische Staatsanleihen und fremde Valuten, – der Umfang der Abschlüsse ist gering, stabil der Tscherwonez, stabil das Pfund Sterling, stabil der Dollar, der Geldmangel groß, – was soll man da für Geschäfte machen? Oben, entlang der Saalwand verlaufen Galerien; die Beamten, das Große Einmaleins in Gestalt der Rechenmaschine vor sich, sitzen apathisch wie eingeschlafene Fliegen da, nur in dem Registrierungsbureau für außerhalb der Börse getätigte Geschäfte, wo alle größeren Abschlüsse angemeldet werden müssen, ist lebhafter Parteienverkehr, die kleinsten Boten der größten Trusts warten auf Abfertigung. Untätig ist man im Kotierungszimmer, denn hier beginnt die Arbeit erst nach der Börsenzeit, und der teppichbelegte, unverändert elegante Saal des Präsidiums, in dem Marx seinem Schüler zeigt, wie man das Kapital zertrümmert, ist leer, aber er wird wohl selbst dann nicht von fanatischen Debatten belebt sein, wenn die Sitzungen tagen; das Präsidium des Obersten Wirtschaftsrates und die ihm unterstellten Verbände und Trusts, die Verwaltung des Zentrosojus und der Genossenschaftsverbände und die wirtschaftlichen Organe aller Volkskommissariate gehören der Börse an, sie wählen fünfundzwanzig Verwaltungsräte und einen sechsgliedrigen Vorstand, für dessen Mitglieder die Alternative »die Börse oder das Leben« sicherlich nicht besteht, und die sich daher kaum echauffieren. Die übrigen ständigen Besucher müssen vom Vorstand zugelassen sein und einen Jahresbeitrag bezahlen; es sind Vertreter derjenigen staatlichen Institute, Unternehmungen und Genossenschaften, die nicht Börsenmitglieder sind, ferner Konzessionsinhaber, Pächter von Staatsbetrieben und Leiter großer Handels- und Industriefirmen. Geschäftsdifferenzen schlichtet die Arbitragekommission, und ihre Urteile werden – im Gegensatz zu den Schiedssprüchen der 56 meisten westeuropäischen Börsen, deren Autorität eine rein moralische ist – zwangsläufig vollstreckt; allerdings kann der Kläger im Falle einer Ablehnung an das zuständige Volksgericht appellieren.

Im großen ganzen herrscht heiliger Gottesfrieden. Selbst im Souterrainlokal, wohin man die Kulisse versteckt hat, wo die schwarzen Gesellen der ehemaligen Schwarzen Börse debattieren, wo der Schalter der Bank von geradezu beleidigender Einfachheit ist und wo – erstaunliche Börsianer! – drei Polizisten in Uniform sitzen, ist alles friedlich, und die heilige Hermandad trinkt aus drei Gläsern dreimal soviel Tee, als die Börsenzeit Minuten hat.

Auf die Frage, wie die Geschäfte gehen, wird man kaum einer Antwort gewürdigt; gibt man sich nicht zufrieden, will man wissen, warum der betreffende Genosse unter besagten (beziehungsweise: bebrummten) Umständen hierherkomme, so erfährt man: »Sehen Sie, ich habe mich mein ganzes Leben lang geplagt, habe gehandelt und geschachert, und jetzt, als alter Mann, will ich eben meine Ruhe haben und meinen Frieden. Deshalb gehe ich jeden Tag von zwölf bis zwei zur Börse.«

Rings um das Börsenhaus: die großen Kontore, die großen Geschäfte, die großen Lager.

Sechshundert Jahre lang herrschten in dem Stadtteil, den der chinesische Wall umgibt, die Handelsleute so absolutistisch, wie im Nachbarbezirk die Bojaren herrschten und der Zar. Gegenüber dem größten Kremlpalast hatte die Kaufmannschaft den ihren erbaut: auf der andern Seite des Roten Platzes, mehr als einen Viertelkilometer lang und fast hundert Meter breit, stehen die Handelsreihen, ein dreistöckiger Sandsteinbau mit glasgedeckten Gängen und Brücken, mit tausend Geschäften, Detail und Engros, Restaurants und Teestuben; man weiß nicht recht, ob man in ein hypertrophisches Warenhaus geraten ist oder auf drei übereinandergestülpte Ausstellungsplätze, ob in ein allzu vielseitiges Messegebäude oder auf einen städtischen Jahrmarkt. Einst lockte man hier und feilschte und machte einander laute, lautere und unlautere Konkurrenz, jetzt heißt das ganze »G. U. M.«, Staatliches Universal-Magazin, ist dem Obersten 57 Volkswirtschaftsrat unterstellt, die Preise sind fest und der Kommis schreibt nur die Rechnung aus, die an der Kasse zu begleichen ist.

Die drei Parallelstraßen der City, die Nikolskaja, die Ilinka und die Warwarka, und die schmalen Verbindungsstraßen waren voll von Läden, Banken, Börsen, Wechselstuben, Kontoren, Warenlagern, Packräumen, und sind es zum Teil noch heute. Aber wo einst die Firmentafeln von Morosow, P. Botkin Söhne, K. & S. Popow, Meyer & Co., Einem, Abrikosow und andere aussprechbare Namen leuchteten, sind jetzt kannibalische Abbreviaturbildungen zu lesen, zusammengezogene Anfangssilben der staatlichen Unternehmungen, »Gospromzwetmet«, »Glawschwejmaschina«, »Zentrobumtrest«, »Moskwoschwej«, »Trjapjeloskut«, »Sewsapgostorg«; auf der Holzverkaufsstelle der »Wälder des fernen Ostens« steht der tragikomische Firmenname »Dalles«, noch dazu mit großen goldenen Lettern! Hämmer und Zangen arbeiten an Kisten und Tonnen, Lastautos und Schlitten kommen und gehen, hinter den Scheiben sieht man Warenproben, Pelze, Teppiche, Instrumente oder Schreibtische, auf denen die Kugeln der Rechenmaschine hin und her sausen, daß es eine Art hat – kürzlich sollen bei einem Wettrechnen zwischen automatischem Multiplikator amerikanischen Fabrikats und den »Stschoty« diese mit einigen Nasenlängen Sieger geblieben sein und, bei einiger Übung kann man, wie es heißt, mit ihnen nicht bloß addieren, subtrahieren, multiplizieren, dividieren, Wurzel ziehen und potenzieren, sondern auch Logarithmen errechnen. Die Klosterhöfe sind zu Verladestellen geworden, die Wohnräume zu Kontoren, und die Bureauhäuser – soweit sie nicht ein Volkskommissariat bezog – zu Zentralen der Genossenschaften.

Außerhalb des Kitaigorod blüht der staatliche Einzelhandel. »Muir & Merilees«, Moskaus Wertheim, Ecke Petrowka und Theaterplatz, ward zu einem »G. U. M.«. Auf dem Kusnetzki Most sind die vielen Buchhandlungen der Gewerkschaften, der Genossenschaften und des Staatsverlags mit Abteilungen für Landwirtschaft und ausländische Literatur, in keiner andern Stadt gibt es so viele Buchhandlungen wie in Moskau, es werden Broschüren in Massen verkauft, Lehrbücher, Tabellen, Plakate mit Darstellungen historischer Epochen, der 58 Dekabristenbewegung, der Revolution von 1905, des Lebens von Lenin, volkswirtschaftliche Schriften, moderne Belletristik, jedoch sehr wenig gebundene Bücher. An der Ecke Kusnetzki Most und Negliny ist jenes Juwelengeschäft, das beinahe jeder Journalist in liebevollster Übertreibung schilderte, um darzutun, daß das Arbeiterregime den schwelgenden Luxus nicht verdrängte; groß sind die Schaufenster allerdings und voll von Waren, aber, bei den Göttern, recht armselige Kostbarkeiten für eine Welthauptstadt, die Metropole des größten Reiches: zwei Platinarmbänder mit Rubinen, Schirmgriffe in Mosaikarbeit, drei Paar Brillantenohrgehänge, ein riesiges Teeservice aus Tulasilber, fünf goldene, zum Teil bemalte Tabakdosen, ein Service und einige Tabatieren im Jugendstil, Antiquitäten, vergoldete Silberpokale und Tafelaufsätze, eine Kette aus Perlen, die wie Pferdezahnmais aussehen, und eine Kette runder Perlen, von der ein famoser französischer Schriftsteller erklärte, es sei das schönste Kollier, das er je gesehen – wäre er so klug gewesen wie sein deutscher Nachfahr, der sich daraufhin nach dem Preis erkundigte, so hätte der Anrainer der Rue de la Paix das schönste Perlenhalsband, das er je gesehen, für sechzehnhundert Rubel kaufen können. Der Laden gehört dem »Mjut«, der Moskauer Abteilung der Juweliergewerkschaft, deren Agenten die staatliche Bewilligung haben, Gold und Juwelen von Privaten einzukaufen; auf der Sretenka besitzt diese Kooperative ein zweites Verkaufsmagazin – entendez, Monsieur Henri Béraud, encore une succursale, une joaillerie de plus à Moscou, et pas détaillé par vous! Quelle chance échappée!

Ein anderes vielbemerktes Symptom sind die Menschenmengen, die häufig vor den Verschleißstellen des staatlichen Spiritustrusts angestellt sind, um »Rykowka« zu erstehen, wie der vierzigprozentige Monopolbranntwein nach dem Volkskommissar Rykow heißt, der seinerzeit die Bekanntmachung unterzeichnet hat. Es ist schmerzlich, daß ein sozialistischer Staat, noch dazu einer mit diktatorischen Machtbefugnissen, das Gewerbe des Schnapsbrenners betreibt, sei es nun aus finanzfiskalischer Notwendigkeit, sei es, weil er den Bauern, die das beste Brotkorn zu Wodka brannten, das Handwerk legen wollte. Es ist schmerzlich – jedoch man sieht in dem einst fuseldurchtränkten Moskau fast 59 niemals einen Betrunkenen, und die Polonäsen vor dem Ausschank beweisen vor allem, daß Quantum und Verkaufszeit beschränkt sind.

Schlimmer ist: auch vor den zahlreichen Verkaufsstellen der Textiltrusts, wo Tuch und andere Stoffe, und der Gummiwerke, wo Galoschen abgegeben werden, stehen ewig »Schlangen«, weil die Produktion mit dem Konsum noch nicht Schritt halten kann. Unter diesen stundenlang »Angestellten« sind Arbeitslose, die die erstandene Ware mit vierzig bis fünfzig Prozent Profit weiterverkaufen und bei so lohnendem Erwerb gar nicht an Rückkehr zur Arbeit denken.

Es gibt auch Privatfirmen – Kinder der Neuen ökonomischen Politik, der »Nep«. Jeder Kaufmann besitzt einen Handelsschein, für den er halbjährig im voraus zu bezahlen hat, zweihundert bis tausend Rubel, je nachdem, in welche der fünf Klassen er eingereiht ist; für jeden Lagerraum muß er extra zahlen, und besitzt er mehrere Verkaufsläden, so steigert sich der Preis des Halbjahrspatents progressiv, überdies wird im Nachhinein eine Umsatzsteuer erhoben. Diese Maßnahmen, die ein Überhandnehmen des Zwischenhandels und eine Übervorteilung des Konsumenten verhindern sollen, bewirken im Verein mit dem Mangel an Räumlichkeiten und der Höhe der Mieten, daß oft in ein und demselben Geschäftsraum zwei Firmen mit Waren unvereinbarlichen Charakters etabliert sind: eine Konditorei mit einer Pelzhandlung, ein Herrenmodegeschäft mit einer Drogerie, ein Stearin- und Wachskerzenladen mit einer Wäschehandlung, ein Schuhmagazin mit einer Uhrmacherwerkstätte. Manchmal führt ein einzelner Geschäftsinhaber den Dualismus durch, wenn auch aus andern Gründen, wie der findige Devotionalienhändler in der Nikolskaja, der zwei Verkaufstische und zwei Schaufenster hat, links Abzeichen mit Sichel und Hammer, mit dem Bilde Lenins, mit dem roten Fünfzack, mit den Distinktionen der Roten Armee, Trommeln, Trompeten und Standarten für Jugendorganisationen mit der Aufschrift »Religion ist Opium für das Volk«, rechts aber Heiligenbilder, Fahnen für kirchliche Prozessionen, Altarstücke, Priesterornate, Heiligenlämpchen, Kruzifixe und ähnliche fromme Dinge mit kirchenslawischen Inschriften . . . 60

Im Innern der Häuser hört man das Surren und Fauchen des Primusbrenners, das Brodeln des Wassers oder der Suppe in dem Topf, der ihn krönt, und das Tröpfeln obiger Flüssigkeit auf den erhitzten Rost. Die schwedische Primusfabrik veröffentlichte vor kurzem eine Statistik, laut der sie seit Anfang 1918 nicht weniger als eine Million Apparate nach Moskau geliefert hat. Möglicherweise ist ein großer Teil davon in die Provinz weitergegangen, da jedoch gewiß viele Moskowiter ihren Schnellkocher bereits vorher besaßen, so kann man ruhig behaupten, daß mindestens auf jeden zweiten Bewohner der Unionshauptstadt eine Kochmaschine kommt. Aufgeteilt sind die Wohnungen, um zwölfmalhunderttausend Zuwanderern Platz zu schaffen, gemeinsam geblieben ist die Küche, und dort bereitet man auf dem Herd die Einheitsmahlzeit zu; die Menschen sind gleich, die Magen aber sind verschieden, und als primus inter pares steht der Benzinkocher da, auf dem die Hausfrau den Sonderwünschen von Gemahl oder Baby Rechnung trägt. Alle Viertelstunden geht dem Maschinchen die Luft aus, und man muß mit der Luftpumpe künstliche Atmung versuchen, manchmal wird es daraufhin erst recht wütend und explodiert – »Unfall durch den Schnellkocher« heißt eine Rubrik in den Zeitungen – und es ist verboten, ihn im Zimmer zu benutzen. Man hält sich nicht an dieses Verbot, denn noch weniger Platz als auf dem kollektiven Herd ist auf dem Korridor, wo die Möbel der ehemaligen Wohnungsinhaber übereinandergestülpt ruhen.

Einen Spiritusbrenner muß man haben und einen Teekessel, das ist die Grundbedingung des Moskauer Lebens. Warum habt ihr geheiratet? – Er hatte einen Primus und ich einen Tschajnik. – Dagegen ist ein Samowar schon eine ganz besondere Sache. Ach, Sie haben einen Samowar, also sind Sie ein Bourgeois! Diese Redensart ist etwas übertrieben, es kommt ganz darauf an, wie groß der Samowar, ob er aus weißem Metall, ob er emailliert, ob er aus Kupfer, aus Nickel oder gar aus Silber ist. Wie dem auch sei: kein Bourgeois ist man, wenn man das Wasser im Tschajnik kocht, um es in die Teekanne zu gießen.

Überall in der Welt ist Wohnungsnot, wohl nirgends aber ist 61 sie so brennend wie in Moskau, das nach fast zweihundertjähriger Pause wieder zur Reichshauptstadt wurde, zur Metropole des größten Staates. Klöster, Kirchen und Paläste enteignete man und suchte sie zu Wohnstätten umzugestalten, Gasthöfe und Villen nahmen Familien auf. Zinskasernen erhielten die sechsfache, ja oft die zehnfache Mieterzahl – und all das reicht nicht aus, die Vertreter aller zentralrussischen, ukrainischen, kaukasischen und asiatischen Behörden, Genossenschaften, Gewerkschaften und Trusts und die neuen Arbeiter und Soldaten zu fassen, die hier zusammenströmen. Gesetzlich hat jeder Mensch, ob Greis, Frau, Mann oder neugeborenes Kind, Anspruch auf je sechzehn Quadratarschin Wohnraum (ein Arschin = 75 cm), doch in der Praxis läßt sich nicht jeder Wohnraum so einteilen; ein Ehepaar übersiedelt nicht aus seinem Zimmer, auch wenn es inzwischen drei oder mehr Kinder bekommen hat, denn die Behausung ist gut gelegen, man hat sich an sie gewöhnt, die Beschwerden eines Umzugs wären zu groß: wer wird sich mit dem Primus in der Hand zwei bis drei Kilometer weit schleppen! In der inneren Stadt gibt es Wohnungen, in denen früher eine einzige Familie lebte, jetzt liest man auf der Tafel vierzehn Namen; besucht man den, der als erster angeschrieben steht, so läutet man einmal, besucht man den zweiten, so läutet man zweimal, auf vierzehnmaliges Signal erscheint der Letzte der langen Reihe. Dieser Unglückliche muß immer zählen, solange ein Besucher klingelt, während sich zum Beispiel sein Nachbar vom »Quartier vier« ruhig auf die andere Seite legen darf, da das fünfte Signal ertönt, und die Nachbarin Nr. 10 weiter ihren Kocher beluftpumpen kann, wenn die Glocke nach dem zehntenmal nicht aufhört. Um die Wahrheit zu sprechen, man muß nicht überall vierzehnmal schellen, sondern benützt Morsealphabete: ein kurzer und ein langer Druck auf den Knopf besagt, daß Nummer zwölf zu öffnen hat; wird man zum Tee eingeladen, so teilt der Gastgeber gleichzeitig das Sesamöffnedich mit.

Große Zinshäuser sind den Beamten je einer Behörde zugewiesen, in einem wohnen fünfhundert Angestellte des Obersten Wirtschaftsrates, im Hotel Lux herrscht ein Mischmasch aller 62 europäischen, asiatischen und amerikanischen Rassen – ex lucis orient – denn dort logieren die Leute von der Komintern, der III. Internationale, in den oberen Stockwerken der Sowjethäuser schlafen die Beamten ungefähr so nebeneinander, wie sie tagsüber unten in den Kanzleien nebeneinander arbeiten. Für die Gelehrten ist ein Lyzeumsgebäude eingerichtet, schön ist die Aussicht auf die Moskwa, doch lange nicht so schön wie die Aussicht auf die Newa, die sich vom Gelehrtenhaus in Leningrad bietet, dem pompös eingerichteten Palast der Großfürstin Maria Pawlowna; im Dom Utschonich finden wissenschaftliche Arbeiter Herberge, die zu Studienzwecken, zu Kongressen oder zum Besuch von Kursen ankommen. Sie zahlen einen Rubel im Tag, einschließlich Beleuchtung, Beheizung, Bettwäsche, Bedienung und heißem Wasser.

Sonst bemißt man die Mieten nach dem Einkommen, es gibt Arbeitslose, die vierzig Kopeken für das gleiche Zimmer zahlen, für das der Kaufmann in der nächsthöheren Etage achtzig Rubel bezahlen muß. Leute in verantwortlicher Stellung und geistige Arbeiter, besonders Ärzte, besitzen Anspruch auf ein eigenes Zimmer außerhalb jenes Minimalraumes, und viele Familien haben daher dieselbe Wohnung inne wie vor dem Kriege. Nur die ehemaligen Hausbesitzer sind übersiedelt, weil sie sich einerseits als Entthronte in ihrem Reich nicht wohl fühlten und es andererseits schwerer als andere hatten, die gesetzliche Norm zu überschreiten. Einige vermögende Leute haben alte Stallungen oder Garagen aufgekauft, sie renoviert und als Wohnung eingerichtet; vierzig Jahre lang sind sie faktische Hauseigentümer, dann gehört Grund und Gebäude dem Staat. Nahezu in allen Ämtern haben sich Baukooperativen gebildet, die große Wohngebäude oder kleine Kolonien projektieren. Trotzdem ist bei der ganzen Anlage Moskaus, bei dem Mangel an Arbeitskräften und vor allem bei der Not an Materialien gar nicht daran zu denken, daß innerhalb der nächsten zehn bis fünfzehn Jahre eine vollkommene Beseitigung der Wohnungsnot erzielt werden kann.

Die Mieten werden an die Hausverwaltung abgeführt, an das Schilischtnoje Towarischestwo, das aus gewählten Mitgliedern besteht und über die Verwendung der einlangenden Beträge sowie 63 über Zwistigkeiten entscheidet. Das Geld wird zu Reparaturen gebraucht, – hierzulande »Remont« genannt. (»Remont« ist das Wort, das den größten Begriffsradius hat, von einem schadhaften Kochtopf heißt es ebenso, daß er remontiert wird, wie vom Kreml oder vom Erlöser-Dom.) In den Höfen, die unendlich tief gegliedert und von Dorfhäuschen oder Zinskasernen umsäumt sind, spielen die Kinder des Hauses unter Aufsicht zweier von der Mieterorganisation engagierten Kindergärtnerinnen. Ein Arzt hat in den größeren dieser Obscheschitjen, d. h. Gemeinschaftshäusern, ständigen Dienst. Die Haustore sind auch bei Nacht geöffnet, wenn man von dem Mann absieht, der im Schafpelz breitspurig vor dem Eingang sitzt und jedem Einbrecher den Weg versperren würde, sollte sich ein solcher durch Blendlaterne, durch klirrenden Schlüsselbund mit Dietrichen und durch auffällige Maske als verdächtig zu erkennen geben.

Die Zahl der Dienstboten, deren Ende man mit dem Anbruch des Kommunismus gekommen glaubte, hat sich eher erhöht, denn jetzt arbeitet nicht bloß das Familienoberhaupt außer Haus, sondern auch die Mutter und die erwachsenen Kinder, und es muß jemand die Wohnung in Ordnung halten, die Kleinen betreuen und das Abendbrot für die Heimkehrenden zurechtmachen. Die Hausgehilfin hat achtstündige Arbeitszeit, Mindestlohn fünfzehn Rubel im Monat, außerdem Anspruch auf zwei Kleider, ein Paar Schuhe, zwei Paar Strümpfe, zwei Kopftücher und zwei Schürzen im Jahr, wöchentlich auf fünfundzwanzig Kopeken zum Besuch des Bades und auf einen Urlaub von vierzehn Tagen im Jahr; der Mindestlohn für ein nicht im Hause wohnendes Mädchen beträgt zwanzig Rubel pro Monat. Überdies ist der Dienstgeber verpflichtet, etwa vier Rubel für die Gewerkschaft und die Krankenversicherung zu bezahlen. Ist der Dienstbote Analphabet, so muß er an drei Wochentagen eine Schule besuchen, einmal wöchentlich hat er einen ganzen Tag frei. Das Mädchen redet den Hausherrn mit Namen und Vatersnamen an, ebenso die Hausfrau, Natascha Stepanowna, und wird auch selbst so gerufen, Marja Iwanowna; trotzdem gibt es noch viele Mägde, die die Anrede »Barin« nicht unterlassen und sehr beleidigt wären, wenn man sie anders als mit »Du« ansprechen wollte. 64 Oft schläft das Dienstmädchen in der Küche, in küchenlosen Wohnungen wird die Schlafstelle in einem Zimmer zurechtgemacht.

Für den Arbeiter in der neuen Hauptstadt haben sich die Wohnverhältnisse durch die Revolution noch nicht gebessert, und neidisch spricht er von seinem Leningrader Kollegen; in Moskau hat er ein oder zwei Zimmer, wie früher, aber weniger Platz, denn infolge Schwangerschaftsunterstützungen, des Mutterschutzes und der staatlichen Kinderfürsorge widersetzt er sich der Vermehrung seiner Familie keineswegs – um so weniger, als ein operativer Eingriff immerhin dreieinhalb Tscherwonzen verschlingt. Und so wimmelt es innerhalb seiner sechzehn Arschin von »Oktobrinen« in der Wiege, auf dem Fußboden und im Bett oder in gefährlicher Nähe des Primuskochers.

 


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