Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Männer und Frauen im Gefängnis

Kein Vergleich mit den anderen Gefängnissen Moskaus. Lefortowo ist das strengste.

Posten mit langen Bajonetten auf dem Gewehr patrouillieren längs der Mauer, und wenn das Schloß sich rasselnd öffnet, um den Verwalter einzulassen, so meldet der Aufseher in dienstlicher Haltung Zahl und Beschäftigung der Gefangenen. Verbrecher gegen die Gemeinschaft und Mörder kommen nach Lefortowo, dreihundertneunzig sind jetzt da, Mindeststrafe fünf Jahre, Höchststrafe zehn. Die Arbeitsräume gleichen nicht Werkstätten von Kleingewerbetreibenden, sondern einer Fabrik, einer mächtigen. Fünfzehn Webstühle langten aus Reutlingen ein, auch Wickel- und Zettelmaschinen, Strickerei- und Appreturmaschinen. Trikotindustrie wird betrieben, alles elektrisch, Riemen sausen, Spulen drehen sich, Garne und Zwirne durchschneiden den Saal. Achtundsechzigtausend Meter Tuch werden im Packraum zum Versand bereit gemacht, fünfhundert Damenjacken – das Monatsquantum – zweitausend Dutzend Kopftücher im Monat, eintausend Paar Handschuhe für Eisenarbeiter pro Tag, und außerdem täglich sechzig Pullovers, schwarzweiße und grünrote, nach einem neuen Muster aus Paris. Acht Stunden tägliche Arbeitszeit, vierzig Rubel Monatslohn.

Sprechen und singen kann man, soviel man Lust hat, sich die Arbeit aussuchen, täglich Briefe schreiben und täglich Briefe empfangen, alle vierzehn Tage auch Pakete; bei guter Führung gilt die halbe Strafzeit als ganze. Eingeschränkt jedoch sind die Urlaube.

Das Zellenhaus, noch in kaiserlicher Zeit erbaut, ist panoptisch: radial verlaufende Korridore mit eisernen Balustraden 176 in drei Stockwerken. In der Mitte des Sterns fehlt der Aussichtsturm mit dem Diensthabenden an Signal- und Alarmapparaten, der in westlichen Zuchthäusern unvermeidlich ist. Bettstellen für zwei Mann in einer Zelle; die Kammern sind nicht uniformiert, der Inhaber darf sie nach Belieben ausstaffieren; einer hat das Bild von Frau und Kind im Rahmen über dem Bett, ein zweiter die gedruckte und kolorierte Ansichtskarte einer bloß mit Hemd und (langen) Höschen bekleideten Dame, die auf einem Dache sitzt, Erotik der neunziger Jahre, ein dritter selbstgemalte Gemälde an der Wand, jeder ist auf eine andere Zeitung abonniert. Der Eimer mit Wasserspülung steht in der Ecke, auch das Waschbecken hat fließendes Wasser. Beim Raseur kann man den Kopf waschen und den Bart stutzen lassen, wie man mag, keine Haar- und keine Barttracht ist vorgeschrieben, ebensowenig eine Anstaltskleidung. Die Kantine ist eine ehemalige Zelle, ein kleines Magazin mit Wurstwaren, Butter, Schmalz, Tee, Zigaretten, Pfeifentabak und Weißbrot; säuberlich trägt der Krämer die Fünf-Kopeken-Einkäufe in seine Bücher ein, und war doch noch vor Jahresfrist Leiter eines staatlichen Industrietrusts und disponierte über Millionenbeträge. Ein Anderer – er ist eben in der Drechslerei dabei, eine von den sechzehn Balalaikas für das Anstaltsorchester zu fabrizieren – hat sich als Inspektor einer Kurortdirektion eine Unterschlagung zuschulden kommen lassen, wofür er mindestens fünf Jahre in Lefortowo zubringen muß.

Der Werkmeister der Trikotagenabteilung hatte während seiner Freiheit die gleiche Funktion beim Textiltrust inne, von Nepleuten bestochen, von der G. P. U. entlarvt, wurde er zu sechs Jahren Isolator verurteilt. Ein junger Soldat arbeitet in Uniform (es gibt in Rußland keine Garnisonarreste), er wird der Montur entwachsen sein, wenn er herauskommt: zehn Jahre wegen Totschlages, begangen an dem ihn beim Wilddiebstahl ertappenden Forstgehilfen. Ein Bauer aus der Tulaer Gegend hat im Jahre 1917 an einem Bauernaufstand zugunsten Denikins teilgenommen; wäre er damals erwischt und nicht gleich erschossen worden, so müßte er längst frei sein, denn die vollgültige Hälfte einer 1917 verhängten Maximalstrafe lief schon 1922 ab. Er wurde jedoch erst vor zwei Jahren verhaftet; er 177 hatte sich von der antikommunistischen Revolte direkt in die Kampffront der Roten Armee geflüchtet und bei dieser jahrelang gedient, bevor man erfuhr, was er auf dem Kerbholz habe.

Die Dunkelzellen aus der Zarenzeit, in die man die ungebärdigen Sträflinge warf, sind beseitigt, ihre Wände niedergerissen, Fenster hineingehackt und der neue Raum als Marodenzimmer eingerichtet. Bei unserem Eintritt erhebt sich ein etwa sechzigjähriger Hüne von seinem Sitz am Kavalett; der schüttere Scheitel ist sorgfältig gekämmt, der weiße Knebelbart gepflegt, selbst im Krankenmantel läßt sich der emeritierte General auf den ersten Blick erkennen: war Chef der Eisenbahn-Gendarmerie für das Kaiserreich Rußland und soll zur brutalen Behandlung vieler politischer Gefangenen Anlaß gegeben haben. Wohl mit Rücksicht auf sein hohes Alter verurteilte man ihn nur zu fünf Jahren schweren Kerkers. Aus dem gleichen Grunde wurde der greise Sozialist Okladski nach dem vorjährigen Sensationsprozeß nicht erschossen: er war einer der ältesten Parteigänger von Martow, Plechanow und Axelrod in Rußland gewesen und wurde nach dem Umsturz mit einem entsprechenden Vertrauensposten belohnt. Aber bei Sichtung der staatlichen Geheimarchive stellte sich heraus, daß der alte Revolutionär länger als ein Menschenalter der Ochrana Berichte geliefert und seine Parteigenossen den Steppen Sibiriens preisgegeben hatte. Nun steht Okladski mit der Brille an einer Fräsmaschine, wie er es in seiner Jugend bei »Siemens & Halske« in St. Petersburg gelernt hat, und ist der tüchtigste aller dreihundertneunzig Gefangenen; er repariert die kompliziertesten Störungen der Maschinen. Gerne läßt er sich in ein Gespräch über die sozialistischen Anfänge Rußlands ein, wenn man ihn aber nach Lenin fragt, macht er eine ablehnende Handbewegung: ›Den habe ich gar nicht persönlich gekannt, das war ein ganz junger Mann, der erst sehr spät zu uns kam . . .‹ Im Hofe schippt ein alter Mann Schnee, mit hoher Pelzmütze, langem Popenhaar und weißem, wallendem Bart. Das ist Sinizew, ein anderer Parteiführer, der seine Haft in Lefortowo gleichfalls der Öffnung der Staatsarchive verdankt.

Ohne sich in seiner Arbeit stören zu lassen, erzählt im Saal, wo Knöpfe überzogen werden, ein Bursche auf Befragen, er habe178 bei einer Rauferei im Dorfe zwei seiner Nebenbuhler erstochen, einen in die Schläfe und einen in den Bauch. Neben ihm ein Koreaner, der scheinbar als japanischer Sprachlehrer in Moskau, in Wirklichkeit als Spion wirkte. Drei oder vier andere Japaner und Chinesen sind wegen Schmuggels von Opium und dessen Verkauf an Kinder in Haft. Der Koreaner ist nicht der einzige Spion, es sind viele hier, aus allen Teilen des Erdballs. Wenn man mit ihnen in ihrer Muttersprache spricht und allerhand offene Eingeständnisse erhält, die die Spione vor der Behörde wohl nicht gemacht haben, greift man sich an den Kopf, versteht nicht, was die entlegensten Staaten für ein Interesse daran haben können, geheime Berichte über die russische Wehrmacht zu erlangen. In seiner Zelle, derzeit arbeitsunfähig, sitzt ein Arzt, Doktor Hora aus Laun in Böhmen, der in der österreichischen Armee gedient hat, kriegsgefangen, zuerst tschechoslowakischer Legionär und dann Regimentsarzt bei der Roten Armee wurde und als solcher mit der tschechoslowakischen Handelsmission in Moskau belastenden Verkehr unterhielt; acht Jahre schweren Kerkers. Sonderbare Dinge behaupten einige Häftlinge über das Material, das sie der russischen Emigration nach Westeuropa geliefert haben, hundert Rubel für je einen Brief. »Nur ein Narr hätte es abgelehnt, dafür ein paar Seiten Unsinn zu berichten, den sich die Weißgardisten in Paris und Prag auch selbst ausdenken konnten.« Einer erzählt sogar in seiner Muttersprache, die vom Gefängnisdirektor nicht verstanden werden kann, seine Frau friste in Lettland noch immer von dieser einträglichen »Berichterstattung aus Moskau« ihr Dasein.

Im Klublokal, der ehemaligen Anstaltskirche, spielt ein Mann Klavier, der zwei in der Provinz aufgeführte Opern und einige kleinere Sinfoniekonzerte geschrieben hat; er ist wegen Kinderschändung in Haft und vertont das Drama »Iwan der Schreckliche« von Alexej Tolstoi.

Dem affichierten Stundenplan kann man entnehmen, daß von acht bis zehn Uhr vormittags Unterricht für Analphabeten, von zehn bis zwölf für Fortgeschrittene erteilt wird, daß zweimal in der Woche der dramatische Zirkel, viermal in der Woche der Schachklub, viermal in der Woche der musikalisch-vokalisatorische 179 Verband (der einfach der Gesangsverein ist) und einmal der politisch-historische Verein tagen; allabendlich findet die Bibliotheksausgabe und zweimal wöchentlich juristische Beratungen statt, alle vierzehn Tage eine Kinovorstellung. Eine Zeitung gibt es nicht, – während in zwanzig Gefängnissen Rußlands gedruckte Zeitschriften, in anderen lithographierte oder hektographierte Mitteilungsblätter erscheinen, hat Lefortowo nichts als die Wandzeitung. Es ist ein strenges Gefängnis, die äußere und innere Bedrückung der Häftlinge ist schwer, sie haben keine Zeit zu stilistischen Übungen, keinen schriftstellerischen Ehrgeiz und keine Lust zur Literatur. Der Isolator Lefortowo ist ein trauriges Haus.

*

Eine immerhin hellere Stimmung herrscht im früheren Nowospaski-Kloster.

Über achtzig Frauen und Mädchen sitzen an Nähmaschinen, sie säumen Wäsche und rauchen Zigaretten, manche haben Bubikopf und manche graubraune Kopftücher, manche sind verrunzelt und schlaff, manche gepudert und ihrer Mundlinie ist mit dem Lippenstift nachgeholfen, manche tragen Broschen und Ohrringe, altrussische Filigranarbeit mit goldenen Fransen, und manche Männerkragen und gebundene Krawatten, manches Paar Füße steckt nackt in Filzpantoffeln und manches, fleischfarben bestrumpft, in Halbschuhen. Alle singen, einige verstummen beim Eintritt des Besuches, die Kesseren erheben desto lauter die Stimme, ein russisches Soldatenlied ist es, das Wort »Donkosak« zwar durch »Komsomol« ersetzt, doch wird nach dem Refrain im Marschtakt gehackt: »Eins – zwei – haltet – Schritt.«

An der Stirnseite des Saales ein Pult, an dem Linnen ausgegeben und die fertige Wäsche abgeliefert wird. Werkstättenleiterin und Lehrerin haben da ihren Platz. Auf einer Tafel steht die Zahl der Beschäftigten: an den Maschinen 58, Handarbeiterinnen 14 (die sitzen, alte Frauen, zu einem Kreis geschlossen, nahe der Tür) und Freiwillige Arbeiterinnen 16. »Freiwillige Arbeiterinnen«? Sind denn die andern Sängerinnen und 180 Raucherinnen unfreiwillig hier? Es ist schwer zu glauben, daß man in einer Strafanstalt ist, kein Sprechverbot, kein Zuchthauskleid, Rauchen erlaubt, keine uniformierten Aufseher . . .

Und doch sind es arme Gefangene, Verlust der Freiheit erträgt sich schwer, ist Strafe, die keiner Verschärfung bedarf. – Ein Mädchen tritt auf den Vorsteher der Anstalt zu, der den Besucher in den Saal begleitet, es ist eben vom Begräbnis des Vaters zurückgekehrt, herb, zusammengebissen erzählt es, daß daheim die Schusterwerkstätte zugrunde gehen müsse, wenn es keine Begnadigung oder wenigstens Strafunterbrechung bekomme; nur wenig Hoffnung wird der Bittstellerin: sie ist rückfällig, zu zwei Jahren verurteilt, und erst vier Monate sind verbüßt. – In die Arbeitskommune transferiert zu werden, bittet eine Frau mit quittengelbem Teint, sie vertrage die Stadtluft nicht, besonders im Winter werde sie krank davon; auch ihr ist schwer zu willfahren, sie gehört zur ersten Kategorie, ist wegen Kindesmißhandlung schuldig gesprochen, vom Lazarett will sie nichts wissen. »Gehen Sie zum Gefängnisarzt, Genossin,« erhält sie als Bescheid, »er soll ein Gutachten auf Ihr Gesuch schreiben.« – Eine Zwanzigjährige in rotem Kopftuch fragt an, ob zwei ihrer Freundinnen hier Beschäftigung finden könnten; vorläufig geht das nicht, es sind ohnedies zuviel freiwillige Arbeiterinnen im Haus, weil fünf erwachsene Kinder Lohn bekommen. (Einige Sträflinge haben ihre Kinder während der ganzen Strafzeit bei sich, die nähen im Saal oder treiben sich im Hof umher.)

Vor kaum neun Jahren ist der Arbeitssaal ein Refektorium gewesen, der ganze Häuserblock bildete das Kloster »Nowospaski Monastir«, berühmt seit dem Mittelalter wegen seines Reichtums; Großfürst Iwan Kalita (Kalita bedeutet »Geldsack«) hat es 1330 gegründet, die Zaren pflegten ihre Hauspriester von hier zu holen, einige Romanows, wie die Kaiserin Marfa, ließen sich hier begraben. Nicht weniger als neun große Kirchen, darunter eine Kathedrale, gehörten zum heiligen Konvent, doch die steilen Wälle und die krenelierte Mauer mit den massiven Ecktürmen, die seit den unruhvollen Zeiten des falschen Demetrius den Komplex umringen, deuten kaum darauf hin, daß man allzusehr auf Gott vertraute. Durch diese Schießscharten wurde 181 1812 auf die französischen Soldaten gefeuert, und unter den marmornen Grabmälern der Mönche im Klostergarten ist das des Diakons Gabriel, den Napoleon füsilieren ließ. Eine der Kirchen ist in ein Theater mit vierhundert Sitzplätzen umgebaut worden; die Sträflinge führen hier Dramen auf und gehen einmal in der Woche zur Filmvorstellung; sonst ist das Kino von der Straßenseite her für das Publikum geöffnet – eine Nebeneinnahme der Strafanstalt, und nicht die einzige: auch das im Hause gebackene Brot wird zum Verkauf gebracht. In ihrer freien Zeit sitzen die gefangenen Frauen im Klub, am Schalltrichter des alten Grammophons und am Lautsprecher des neuen Radio, sie spielen Dame, können Zeitungen lesen, Briefe schreiben und sich bis zehn Uhr abends unterhalten. Die Arbeitszeit beträgt, wie in jedem Fabrikbetrieb, acht Stunden im Tag, die Häftlinge erhalten durchschnittlich zwanzig Rubel Wochenlohn, wovon fünfundzwanzig Prozent für Verpflegung abgehen. Zum Frühstück wird Tee und Brei, mittags Suppe, Fleisch und »Kascha« und abends wieder Tee verabreicht, die Tagesration Brot wiegt anderthalb Pfund. Zucker kann man vom Arbeitslohn kaufen, von dem überhaupt zwei Drittel nach Belieben (außer für Alkohol) verwendet werden dürfen; das restliche Drittel erhält man bei der Entlassung ausbezahlt. Im strengsten Stadium der Haft ist dem Sträfling nur alle vierzehn Tage der Empfang eines Besuchs erlaubt, im mittleren Stadium einmal wöchentlich, im leichtesten, das bereits eine Vorstufe der Entlassung darstellt, darf die Gefangene am Sonnabend um zwei Uhr nach Hause gehen und muß sich erst Montag morgens zur Arbeit in der Anstalt einfinden. Briefe können beliebig oft empfangen und abgesendet werden; doch wird die Post von der Zensur gelesen. Häftlinge der mittleren und leichteren Kategorie haben den gleichen Anspruch auf Urlaub wie Fabrikarbeiter; in acht Jahren, seitdem die Anstalt besteht, ist es nicht ein einziges Mal vorgekommen, daß Gefangene bei dieser Gelegenheit flüchteten; nur in zwei oder drei Fällen rückten Beurlaubte verspätet ein. (Nach Angabe von Schirwint, dem Leiter des gesamten Gefängniswesens, sind im vorigen Jahr 10 120 Häftlinge in Rußland zu dreimonatiger Erntearbeit beurlaubt worden, von denen bloß 182 siebzig teils überhaupt nicht, teils nicht rechtzeitig zurückgekehrt sind.)

Jede inhaftierte Frau muß lesen und schreiben lernen (die Fortgeschritteneren erhalten Unterricht in allen Fächern) und wird im Wäsche- und Kleidernähen unterwiesen. Erst nach erworbener Kenntnis können manche, die kein Interesse für diese Arbeiten zeigen, zur Tätigkeit in der Küche und andern häuslichen Verrichtungen oder zum Ausbessern der Wäsche, zum Knöpfeannähen oder dergleichen verwendet werden.

Die Maximalstrafzeit beträgt im Besserungsarbeitshaus fünf Jahre, Frauen, die zu einer längeren Strafe (zehn Jahre ist das Höchstausmaß nach dem Strafgesetz) verurteilt sind, kommen in den sogenannten Isolator. Das Volksgericht fügt seinem Urteil bei Gewohnheitsverbrecherinnen oder renitenten Individuen die Entscheidung bei, daß sie in der ersten Kategorie zu halten sind; in diesem strengen Gewahrsam verbleiben sie, bis sie die Hälfte der Strafe abgebüßt haben. Kategorie Zwei bilden die Rückfälligen bis zum vollendeten Viertel der Strafzeit. Der dritten und leichtesten Gruppe gehören die Zufallsverbrecherinnen und die vollkommen Besserungsfähigen an, ihnen rechnet man je zwei verbüßte Tage als drei, und sie können bedingt entlassen oder im Falle der »sozialen Heilung« zur Gänze begnadigt werden. Über die Versetzung aus einer Kategorie in die andere, über außertourliche Urlaube und Entlassungen berät die Aufsichtskommission, die jeden Sonnabend in der Anstalt zusammentritt, bestehend aus dem Vorsteher des Hauses, der Vertreterin der Gewerkschaftskommission und einer Volksrichterin des Bezirkes, in dem sich das Gefängnis befindet. Die Kommission kann dringende oder provisorische Maßnahmen aus eigener Machtbefugnis veranlassen, in wichtigen Angelegenheiten erstattet sie der Verteilungsinspektion für das Gouvernement oder dem Justizministerium Vorschläge, die in praxi immer angenommen werden.

Hundertfünfundneunzig Frauen, im Alter von sechzehn bis sechzig Jahren, sind gegenwärtig im II. Moskowski Schenski Isprawtruddom untergebracht, für vierhundert und für ein Personal von 68 Leuten ist Raum in den vielen Gebäuden innerhalb der so unklösterlich drohenden Bastionen. Doch in den 183 Zimmern, in denen einst die Mönche des reichen Klosters lebten, rücken die Frauen ihre Betten möglichst eng zusammen, sie wollen, zumeist alte Frauen, nicht allein sein im Jammer ihrer Haft, an dem selbst die kühnste Humanität nichts ändert; sie stopfen ihre Strümpfe und streicheln ihre Katzen und erzählen einander von den Jahren ihrer Schönheit. Ein Großteil ist wegen Diebstahls hier, Kindesmörderinnen, die in der kaiserlichen Zeit mehr als zwanzig Prozent der weiblichen Sträflinge Rußlands ausmachten, gab es im ersten Jahr nach der Revolution noch zwei Prozent, da die Auffassung von der Gleichstellung der ehelichen mit der unehelichen Mutter und die Kenntnis von der staatlichen Säuglingsfürsorge nicht in alle Schichten gedrungen war, jetzt sind keine Kindesmörderinnen mehr in der Anstalt; auch keine »unbefugte Geburtshelferin« (früher vier bis sechs Prozent), weil Schwangerschaftsunterbrechungen auf den Kliniken durchgeführt werden. Betrugsfälle kommen häufiger vor, und eine ehemalige Schauspielerin, die stolz von ihren Gastspielen in Paris, Berlin und Wien erzählt und »L'Illustration« abonniert, ist wegen Kuppelei zu zwei Jahren verurteilt. Wie Stuben eines Pfründnerinnenasyls sehen die Kammern aus, armselig und alt sind die Feldbetten, die Strohmatratzen kaum eine Spanne hoch, dünn die Kissen, und aus grauem grobem Leinen der Bettüberzug. Rußland hat wenig Material und wenig Geld, und Übelwollende können leicht behaupten, daß die Generosität der Urlaube, die Strafverkürzungen und Begnadigungen, manche Freiheiten, die man den der Unfreiheit Verfallenen gewährt, und die Begründungen dieser Erleichterungen der ideologische Überbau für die Notwendigkeit sind, Ersparnisse zu machen und Arbeitskräfte zu gewinnen. Selbst wenn man eine solche Möglichkeit zugeben wollte, dürfte damit nicht gesagt sein, daß solche, der Not entsprungenen Maßnahmen nicht auch dem Westen wohl anstünden, der in seinen Kerkern barbarischere Methoden hat. Keine Milderung kann groß genug sein – das Gefängnis bleibt immer der Ort des Schreckens und der Qual.

*

184 Dem schönen Gartenhaus gegenüber, in dem Peter Kropotkins fürstliche Wiege schaukelte, steht hochgemauert ein Bau, der Kropotkins Wort, daß die Zuchthäuser Hochschulen des Verbrechens sind, einschränkt und erweitert. Auch soziale Verhältnisse können Hochschulen des Verbrechens sein, und Zuchthäuser Lehr- und Lernstellen des Irrenwesens. Die gefährlichsten Individuen Rußlands sind in diesem Gebäude interniert, es ist das Gerichts-Psychiatrische Sachverständigeninstitut. Ein kleiner Junge kommt uns entgegen. Er hat aus Brot und Farben ein blaues Herz geknetet, das sich öffnen läßt, und darin liegt wieder ein blaues Herz und darin ein drittes. Er freut sich seiner Arbeit, kindlicher Künstlerstolz leuchtet aus seinen Augen, und man würde nicht glauben, daß er in einem Kinderheim vor vierzehn Tagen einen Kameraden mit dem Messer seines Bestecks ins Herz gestochen hat, ins wirkliche Herz, so daß er tot umfiel. Vielleicht rettet ihn das Psychiatrische Gutachten, das er von hier mitnehmen wird, davor, in eine Hochschule des Verbrechens zu kommen.

Ein blasser Mann mit eingefallenen Wangen hockt in der Ecke, verhaftet wegen irgendwelcher Briefe, die er ins Ausland schrieb. Er hat in Leipzig studiert bei Wundt und Bücher. »Alles ist hier symbolisch«, sagt er. »Das wahre Leben steckt in den Wänden, und was draußen ist, ist nur Mörtel.« Bietet man ihm eine Zigarette an, so lehnt er sie ab: »In jeder Zigarette steckt die Seele eines Kindes.« – Sie haben auch ein Kind? – »Es ist gestorben und meine Frau auch.« – »Aber sie kommen doch jede Woche Sie besuchen«, unterbricht ihn die Ärztin. – »Nein, das ist nur meine Imagination, hier ist alles verkehrt.« Auf dem Bettrand sitzt ein Mann und macht Perlenbeutel, ein regelmäßiges ornamentales Muster aus Brotkügelchen, die er im Munde formt, mit Farben versetzt, durchlocht und sorgfältig aufreiht. Er hat Drohungen gegen die Ärzte des Spitals ausgestoßen, in dem seine Frau krank lag, und, als er verhaftet wurde, gegen den Untersuchungsrichter, weil ihn seine Frau besuchte. Eifersucht. Er glaubt, alle stellen ihr nach, Behauptungen, die wahrscheinlich von der Frau aufgestellt werden, aber in ihm einen abnormal starken Nährboden gefunden haben. Ein pausbäckiger, gut gekleideter junger Ingenieur ist hier, der Goldschmuggel an den 185 Grenzen betrieben hat und vorher im Dienste Koltschaks stand; er ist Paranoiker. Mit drohendem Auge verfolgt ein Kranker den Gast aus Berlin. Die Deutschen sind böse Menschen, brüllt er, sie haben im Kriege meinen kleinen Bruder erschossen, weil er ihnen den Weg nicht zeigen wollte, ich muß einen Deutschen erschlagen. Ein blonder Zwanzigjähriger mit schöner, freier Stirn antwortet mit hihi, fifi auf die Frage, was ihm fehlt. Dann zeigt er jubelnd, mit der Fußspitze wippend, einen Hampelmann, der an der Wand hängt, hihi, fifi. Der junge Mann war das Haupt einer Betrügerbande, die mit gefälschten Amtsvollmachten und Aufgabescheinen in Rußland Durchstechereien verübte, ganze Waggons mit Nahrungsmitteln erschwindelte und verkaufte. Sein Lallen, seine Freude am Hampelmann und sein hihi, fifi sind Simulation. Seit vierzehn Monaten hat er kein Wort gesprochen und nichts getan, als irres Gelächter und diese unartikulierten Laute ausgestoßen und mit den Händen seine Speisen in den Mund gestopft. Eine Energie, die ungeheuer ist, so daß es die Ärzte nicht wagen, ihn ordentlichen Gerichten zu übergeben. In einer Einzelzelle lebt ein Inder, der zarte Hände und vornehme Gesten hat, zwei Schritte zurücktritt, wenn er auf eine Frage antwortet, und sich dreimal verneigt, wenn er zu Ende gesprochen hat. Er wurde aufgegriffen, weil er keine Papiere hatte und nicht angeben wollte, weshalb er zu Fuß nach Rußland kam. Gott wisse alles, sagt er, und wir seien alle sündige Menschen und dürften nicht verraten, was Gott weiß, und er neigt sich dreimal. Ein Alkoholiker stöhnt nach Schnaps; er war Kommunist, im Sicherheitsdienst tätig und wurde in berauschtem Zustand arretiert; vor der besonders schweren Strafe kann ihn das Gutachten der Ärzte retten, die ihn als schwer pathologischen Alkoholiker erklären. Ein Mann hat seine Schwester nach geringfügigem Streit mit einem Kochtopf erschlagen. Ach was, es tut mir nicht leid, brummt er, sie hat immerfort gezankt. In einer anderen Zelle sitzt sein Bruder, festgenommen wegen öffentlicher Gewalttätigkeit. Sie gewährleisten sich gegenseitig den Freispruch – hereditäre Belastung. Wegen Kuppelei ist eine alte Paralytikerin da, um den Hals eine Kette von Korallen geschlungen, die rotgefärbte Brotkügelchen sind. Die Alte hat ihrer Tochter und deren 186 Freundinnen Männer zugeführt. Ein hagerer, verhärmter Mann mit struppigem Vollbart stellt sich feierlich vor und weist auf die Armseligkeit seines Bettes hin, betonend, er habe einst zwei der schönsten Schlösser in der Krim besessen, einen Rennstall und vier Automobile; man möge gütigst veranlassen, daß sie ihm zurückgegeben werden. Dagegen sieht ein rothaariger, buckliger Mann nicht von seiner Arbeit auf; aus kleinen Holzstäbchen konstruiert er das Modell eines Aeroplans, der wie ein Zuckerhut aussieht. Viele brüllen, viele knurren, viele fluchen, manche kratzen sich, manche ziehen die Decken über die Ohren, manche laufen wütend umher. Eine Wandzeitung hängt da, die Weihnachtsnummer, in der die Redakteure ihre neunzig Mitpatienten in Wort und Bild verspotten. Sie wünschen dem Mann, der den Aeroplan baut, ein Fünfpudgewicht mit Anspielung darauf, daß er mit einem Gewicht ein Fenster des Zentralkomitees eingeschlagen hat, um auf seine Erfindung aufmerksam zu machen, zu deren Durchführung er zehntausend Rubel verlangte. Dem Knaben, der seinen Freund erstochen hat, wünschen sie einen Gummischnuller, damit er nicht mehr in die Lage komme, beim Essen mit seinem Messer jemanden umzubringen. Dem Villenbesitzer aus der Krim wünschen sie vier lahme Gäule, damit er sie vor seine Automobile spanne. Einem, der sich einbildet, ein Sänger zu sein, hängen sie auf einen gemalten Christbaum eine Kollektion von Stimmgabeln. Von teuflischem Humor ist es, daß die Redaktion behauptet, jener simulierende Patient mit dem Hampelmann beantworte hiermit die an die Zeitung gelangten Anfragen. X. Y. fragt an, wie lange er noch hier liegen und Injektionen bekommen werde. Antwort: hihi, fifi. N. N. fragt an, warum man hier keinen Schnaps ausschenke. Antwort: hihi, fifi.

Dem Kranken, der in allem das Gegenteil zu erkennen behauptet, und zwei anderen Patienten, wegen konterrevolutionärer Umtriebe in Untersuchung befindlichen Menschewiken oder Sozialrevolutionären, widmet die Wandzeitung der Verrückten ein gar nicht so verrücktes Märchen: Ein Moskauer Bürger betete Tag für Tag zur Iberischen Madonna, seine Mutter, die krank und elend war und viele Kinder hatte, möge bei der Lotterie tausend 187 Rubel gewinnen. Wirklich wurde im Februar ihr Los mit tausend Rubeln gezogen, und der Sohn war sehr stolz und ging nicht mehr in die Iberische Kapelle. Als aber im Oktober die alte Frau hunderttausend Rubel gewann, und gleichzeitig ihre Krankheit schwand, da wütete der fromme Sohn, er wollte seine Mutter, seine Brüder und Schwestern erschlagen, und reizte die Leute auf, ihr Haus anzuzünden. Verhaftet, rettete ihn nur die Anstalt der kriminellen Irren vor dem Tode.

 


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