Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Marx-Engels-Institut

Von Werkstätte und Werk, die ich eben rekonstruiert gesehen, bin ich bewegt, ich bin benommen von der Intimität alter Schriftzüge, in denen ich mit Entwürfen, Streichungen, Änderungen, Einfügungen fluktuierend das werden sah, was ich als feststehend kannte, ich bin erfüllt von dem direkten Wirkungswillen, aus längstbekannten Aufsätzen sprang er mir entgegen, da sie in ihrer ersten Form auf hastigen Zeitungsblättern vor mir lagen, ich bin betäubt von den Gebirgen an Material, das verwendet wurde, und von der Flut von Gegenschriften, Protesten . . .

Nun hinabgehend zum Moskwafluß male ich mir den Kontrast aus zwischen diesem schicksalsschweren Strom und der idyllischen Ilm, an deren Ufer ich nach dem Besuch des Goethe-Schiller-Archivs rastete in Weimar, dem Naturschutzpark vergangener deutscher Geistigkeit. Auch das Haus, von dem ich mich eben trennte, gilt dem Werk zweier deutscher Denker – aber Fürstengunst umsonnte sie nicht, und der Jubel des Theaterpublikums umtobte sie nicht, nie schritten sie würdig aus eigenem Palazzo am Frauenplan, niemals konnten sie sich in Leidenschaften der Liebe süß verzehren, sie bekamen keine Denkmäler, apollinisch verklärt, und ihre Werke sind nicht Erbgut und Möbel des deutschen Heims, ihre Namen spricht der Oberlehrer nicht mit verzücktem Schauer aus und ihre Biographie hat der Schüler nicht ehrfurchtsvoll auswendig zu lernen.

Gehetzt von Polizei und Verleumdung irrten sie von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, sie, die mit wissenschaftlichem Geschütz und aktuellem Kleinkaliber gegen eine internationale Front der Mächtigen kämpften und im Exil starben.

Da sitze ich am schrägen Kairand, noch voll von Eindrücken, 130 noch erregt über Verfolgung, Mißhelligkeit, Verleumdung und Not zweier Sozialisten und über die Unzerbrechbarkeit ihrer Riesenkraft, zu meinen Füßen fließt die Moskwa – anders plätscherte die Ilm. Wie konnte mir Weimar auch nur einfallen. Es muß doch Vergleichsmöglicheres geben in meiner Erinnerung? Was sah ich nicht schon für sonderbare Wallfahrtsorte, Ruhmestempel und Gedächtnisstätten in aller Welt. Zeigte man mir nicht gegen Eintrittsgeld ein Bauernhaus, in dem sich ein Kaiser gefangen gab. Sah ich nicht von Staats wegen ein Auto ausgestellt, in dem ein Thronfolger erschossen wurde. Sah ich nicht im Hôtel des Invalides einen gewöhnlichen Eisenbahnwaggon anstaunen, nur ungewöhnlich dadurch, daß darin ein Begehren um Waffenstillstand überreicht wurde. Sah ich nicht Familiengrüfte und Ahnengalerien, nicht Prunkbetten, in denen diese Fürstin mit ihren Liebhabern oder jener Fürst mit seinen Mätressen für Wohl und Wehe ihrer Untertanen sorgten, ungeheure Gebäude voll alter Uniformen und Ordenskollektionen. Welch teure Votivkirchen sind aufgerichtet, wo ein erlauchter Herr einer vermeintlichen Gefahr entging, pompejanisch konserviert die Häuser, in denen ein schlauer Staatsmann oder wenigstens ein Dichter geboren ward, Moden, Theaterdekorationen, Ballett und Schmuck haben Museen . . . nie aber gab es ein großes Institut, bestimmt zur Ehre und Lehre jener, die die Ungerechtigkeit der Gesellschaftsform erkannten, und physisch dafür leiden mußten, daß sie ihrem Leid darüber Ausdruck liehen, in Studierstuben oder auf der Barrikade ihr Streben zur Änderung menschlicher Nöte bezeugten. Nein, niemals wurden Anstalten gemacht, ihr Wirken dem Vergessen zu entreißen, in das Monarchen, Politiker und Beamten sie stürzen wollten. Niemals. Sonst hätte ich nicht heute im Marx-Engels-Institut in Moskau das zu sehen vermocht, was ich vergeblich in meinem Kopf und meinen Herzen zu ordnen versuche, dieweil ich bewegt und erschöpft am Uferbord der Moskwa sitze. Sonst wäre nicht binnen fünf Jahren eine Spezialliteratur in zweimalhunderttausend Bänden zusammengebracht worden, einst aktuell gewesene Broschüren und längst vergriffene Bücher, darunter Unikate, Originalfolianten aus dem sechzehnten Jahrhundert und 131 viele hundert handgeschriebene Dokumente. Wie wäre das, selbst bei der reichen Dotierung, die das neue Rußland für die wissenschaftlichen Grundlagen seiner Staatsform opfert, wie wäre das, selbst bei den größten Geldmitteln und dem Fanatismus des Marxforschers Rjasanow möglich gewesen, wenn je vorher ein öffentliches Institut in der Welt Interesse an dergleichen bekundet hätte?

Da fand ich mich denn, seit Monaten fern von Deutschland, im Hause an der Moskwabiegung, im einstigen Palais des Fürsten Dolgorukow, vor Schränke gestellt, deren Reihen deutscher Bücher sich mit nichts befassen als mit der Rheinfrage und dem Moselstrom und der Stadtgeschichte Kölns, weil dort die »Rheinische Zeitung« und die »Neue Rheinische Zeitung« ihre Kämpfe ausfochten, als ausgedienter Österreicher staunte ich, in Bänden und Broschüren und Flugblättern die Revolution von 1848 chronologisch geordnet, und über alle sozialistischen Begebenheiten hinaus bis zum Weltkriege und zur Gründung der Roten Garde in Wien fortgeführt, zu erblicken; die lückenlose Serie des »Vorwärts« und sogar die seines Vorgängers, des »Berliner Volksblattes«, und alle preußisch-revolutionären Reminiszenzen des Sturmjahres, die mir in Berlin nur unter großen Schwierigkeiten zugänglich geworden waren, stehen zur Benützung; im Schweizer journalistischen Universitätsseminar meines Freundes Professor Wettstein hatte ich vor kaum Jahresfrist die Emigrantenzeitungen durchsucht, und muß mich nun wundern, wie Moskau es fertig brachte, soviel mehr davon zu erlangen als das Land der Drucklegung; der tschechoslowakische Staatsangehörige blätterte heute in den rarsten Raritäten seiner heimatlichen Literatur, im unversehrt erhaltenen »Volksblatt für Böhmen«, herausgegeben von G. W. Medau, redigiert von Eduard Breier, in den Nummern der vom »Konstitutionellen Verein« (Bernh. Gutt, Dr. Franz Klier) edierten »Deutschen Zeitung aus Böhmen« und in Klutschaks »Bohemia« und in Längstgesuchtem, verschollen Geglaubtem, wie dem »Spiegel des konstitutionellen Lebens«, verlegt bei Gerzabek, Brenntegasse, in dem der Autor Josef Wintif, Kriminalaktuar in Prag, für mündliches Gerichtsverfahren eintritt. 132

In dieser Abteilung kommt mancher Schriftsteller zu den revolutionären Ehren, auf die er im späteren Mannesalter verzichtet hatte, so Joseph Görres oder Richard Wagner, der in den Dresdner »Volksblättern« August Röckels in wahren Siegfriedsrufen zu Haß und Verachtung gegen die Gesellschaft aufreizte. Klassiker, die ihre Gesinnung nicht widerriefen, wurden vom deutschen Parnaß relegiert, George Forster oder Franz Mehring, und Rußland ist es, das sie nun auf einem internationalen Parnaß vereinigt.

Die Demagogenverfolgungen stehen hier auf dem Pranger, die Darstellungen der Todesmißhandlung Pastor Weidigs, der Kerkerhaft Sylvester Jordans, wenn auch die Bücher des Hauptdenunzianten Witt von Doering nur dürftig vertreten sind. Die Bedeutung der Kriminalsoziologie, zu der diese politische Martyrologie überleitet, wird vom Marx-Engels-Institut offensichtlich unterschätzt; in den Regalen fehlt Wesentliches, die Spitzel-, Provokateur-, Verhaftungs- und Verurteilungstaktik im Kölner, Wiener, Leipziger, Berliner (Waldek) und den übrigen Hochverratsprozessen ist immer die nämliche, und wird vergleichend aufgedeckt werden müssen; das Juristische Kabinett des Marx-Engels-Instituts füllt die vorhandene Lücke nicht auf, und nur unter den Anarchisticis beleuchten einige Darstellungen politischer Verbrechen die Tat von der andern Seite und verurteilen den Gerichtshof.

Aber mit Einwänden, denen Gegeneinwände der Archivare folgten, und mit kritischen Überprüfungen konnte ich mich nicht länger aufhalten, da ich die Räume durchwanderte, deren es viele gibt, und eben wird noch ein Seitentrakt mit Aufwand von viermalhunderttausend Dollar angebaut. Die bibliophile Hingabe an einzelne Objekte muß man sich gleichfalls aus Zeitmangel versagen, so schwer es auch fällt, angesichts von Büchern, die noch vor Erscheinen beschlagnahmt wurden, von Werken, die nur handschriftlich existieren, wie Bruno Bauers Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, angesichts einer Marat gewidmeten Sammlung mit den vollständigen Nummern des »Ami de Peuple«, der Seltenheiten von und über Danton, Robespierre, Saint Just, Gloots und Baboeuf. Fünfzehnhundert Nummern, 133 darunter Manuskripte von Louise Michel, Blanqui, Jaurès, Photographien und Zeitungsbände umfaßt das Archiv der Pariser Kommune von 1871, aus England sind Erstausgaben von Godwin, Riccardo, Adam Smith, Moorus und Mill da, Pamphlete und Flugschriften aus den Zeiten ökonomischer Aufstände und Organisationsversuche.

Es wird angestrebt, die von Marx zitierten Ausgaben zu sammeln und alle ihn beeinflußt habenden Werke. Streitschriften um Kant, Fichte, Schelling und Hegel und vor allem um den historischen Materialismus sind in der Philosophischen Abteilung vertreten, und die ganze Bibliothek, die Fichte besaß und die von ihm an Windelband überging. Den Saal der Politischen Ökonomie hat Marx selbst in Fachgruppen eingeteilt: die Bestände brauchten bloß nach den Kapitalüberschriften des »Kapital« angeordnet zu werden, Wert, Mehrwert, Profit, Preis-, Geld- und Kreditverkehr und so weiter, doch sind die Bücher teils recht vormarxistisch, teils nachmarxistisch und viele antimarxistisch. Was es je an Systemen der Gesellschaftsverbesserung, des Sozialismus, des Kommunismus und des Anarchismus gab, wurde in der Abteilung für Sozialismus zu vereinigen versucht, die Utopistica, der Saintsimonismus, die Phalanstère, Proudhon und Owen mit ihren Schriften und Zeitungen, und von Abbé Meslier, der auf dem Obelisk im Alexanderpark am Kreml unter den Vätern des Kommunismus eingereiht ward, ist ein handgeschriebenes Exemplar des Testaments vorhanden, aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stammend; auch die Anarchisten haben hier ihr Pantheon gefunden, Bakunin, Kropotkin, Elisée Reclus, Bellegarrigue mit der »L'Anarchie, Journal de l'Ordre«, Most mit seiner »Freiheit« und andere, Götter kleiner Leute.

Allerheiligstes dieser soziologischen Kathedrale ist das Marx-Engels-Kabinett, wo alles ist, was von den beiden Dioskuren herrührt: Erstausgaben ihrer Arbeiten, die in Amerika und in der Schweiz erschienenen Auflagen des Kölner Kommunistenprozesses, die »Kritik der politischen Ökonomie« in jenem Exemplar, in das Lassalle seine polemischen Bemerkungen an den Rand schrieb, die »Rheinische Zeitung« von 1842 bis 1843, der Pariser »Vorwärts«, die »Deutsche Brüsseler Zeitung«, die Londoner 134 »Kommunistische Zeitschrift« von 1847 und die »Neue Rheinische« in ihrer vollständigsten Form – die fehlenden Seiten sind nach den in andern Archiven liegenden Originalen photographisch ergänzt, ebenso alle Manuskripte von Marx und Engels, und die von ihnen geschriebenen oder an sie gerichteten Briefe, soweit sie nicht original vorhanden. Nicht weniger als 55 000 Aufnahmen von Druckseiten und Schriftstücken hat das Institut herstellen lassen, zumeist im SPD-Archiv in Berlin, im Historischen Archiv der Stadt Köln, im Engelsschen Familienarchiv in Engelskirchen, im Geheimen Staatsarchiv Berlin und in der New York Public Library, so daß man im Haus an der Moskwa das ganze Werk der beiden deutschen Gelehrten, ihrer philosophischen, politischen, literarischen und ökonomischen Freunde und Feinde studieren und zur Publikation einer monumentalen Marx-Engels-Ausgabe schreiten kann; die bisherigen Veröffentlichungen litten teils an der Lückenhaftigkeit des Materials, teils an der physischen Unzulänglichkeit von Einzelpersonen, alles wissenschaftlich durchzuarbeiten, und teils an Streichungen, die aus Platzmangel oder aber aus Gründen der aktuellen Politik vorgenommen worden sind. Jetzt vergleicht man mit philosophischer Akribie jede handschriftliche und gedruckte Zeile, prüft jedes Zitat und jede statistische Angabe nach, und beschafft Erklärungen zu den Werken, dem Briefwechsel und den Akten. Welch seltsamen Dinge sah ich hier: die Aufgabe des Schülers Marx »Betrachtungen eines Jünglings bei der Wahl seines Berufes« mitsamt dem Zeugnis, worin der Lehrer tadelt, daß »sein Aufsatz . . . häufig mit Ungehörigkeiten beladen« ist, Briefe und Briefentwürfe aller Art, aus denen unter anderem die vergeblichen Versuche Marx' hervorgehen, im September 1848 in Wien sozialistisches Verständnis zu finden und den Prager Verleger Borrosch zur Bundesgenossenschaft zu bewegen. Komisch andere Briefe aus der Tschechoslowakei, wie das Schreiben aus Brünn vom 21. März 1872, worin der Absender Jos. A. Fiedler sich in einer Familienangelegenheit an den emigrierten Marx nach England wendet: der Herr Doktor möchte doch so liebenswürdig sein, sich nach einer Verwandten Fiedlers zu erkundigen, die sich in London der Prostitution ergeben hat . . . 135

Engels antwortet seiner Mutter (sie wollte ihren Fritz von dem Verkehr mit Marx abhalten) in einem Brief, in dem er seine Empörung darüber äußert, daß die Pariser Commune wegen der Erschießung einiger Geiseln überall wütend beschimpft wird, während sich gegen die Versailler Armee, die 40 000 Menschen ermordete und brandschatzte, nirgends ein Wort der Anklage erhebt. Die Verleumdungen, Lügen und Haßgesänge gegen jeden Versuch der Weltverbesserung gehen jahrhundertelang durch die Literatur, Marat ist ein Bluthund und Napoleon ein Gott, die Räteregierungen der intelligenten Arbeiter und arbeitenden Intellektuellen sind »Blutregime«, und die Metzeleien der jagdlüsternen Aristokraten und sadistischen Feldwebel heißen: Restauration der Ordnung. Man müßte diese Stelle aus dem Briefe Engels' als Motto über dem Moskauer Institut anbringen, denn von hier aus soll wissenschaftlich die Defensive gegen die ewige Lüge und die Offensive für die ewige Wahrheit aufgenommen werden.

In den Kabinetten, im Lesesaal und in dem bilderreichen Museumszimmer arbeiten Forscher von überall, Dokumente benützend, die das Vaterland nicht besitzt, und ich hocke unten an der schrägen Kaimauer und blättere in Zetteln, auf die ich mir Hinweise und Büchertitel notiert. Es ist, denke ich, dieses Haus eine lebende Bibliographie, eine Bibliographie in Büchern – es gibt viele Spezialbibliotheken, medizinische zum Beispiel, aber für die Medizin, die nicht den Einzelnen heilen will, sondern alle, gibt es nur diese.

Ich blättere in meinen Notaten, heimgekehrt nach Deutschland, werde ich dieses oder jenes Buch in der Staatsbibliothek heraussuchen. Das wird jetzt leicht sein – wenn sie es nur hat. Wahrscheinlich nicht. Sonst würden die Leute, die im Lesesaal und in den Kabinetten arbeiten, das in Berlin besorgen. Sie sind meist Deutsche.

Das Heim einer verleumdeten und verfolgten Wissenschaft, zur Heilung der Gesellschaft begründet, steht dort, wo ihre Schöpfer gelebt und ihr Grab gefunden haben: in der Fremde. Ein Archiv im Exil.

 


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