Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Moskaus Polizeichef antwortet dem Interviewer

Einst saß hier, umgeben von Wachen und Dienern, Seine Exzellenz der Herr Polizeiminister und Stadthauptmann von Moskau. Jetzt, wenn man nach dem Chef der Kriminalpolizei fragt, wird man zu einer Tür gewiesen; ohne zu klopfen tritt man ein, geht auf einen Schreibtisch zu, doch der ist der falsche, es sind mehrere Schreibtische da. Mehrere Schreibtische im Bureau des Chefs? »Ja, im Westen wird ein eigenes Zimmer statt eines Ordens verliehen,« erhält man zur Antwort, »bei uns hat der das größte Zimmer, der den größten Parteienverkehr hat.«

Man möchte zuerst etwas Persönliches wissen, ob der Genosse Polizeichef schon früher auf diesem Gebiet gearbeitet hat, was er vor der Revolution gewesen ist. Aber darüber gibt er keine Auskunft. »Nennen Sie, bitte, keine Namen!« (Ist mir noch nicht vorgekommen. – Anm. d. Reporters.) »Wir sind Räder einer Maschine, namenlos, wir können morgen Volkskommissare sein oder Nachtwächter, je nachdem, wie unsere Arbeit von jenen eingeschätzt wird, die sie zu beurteilen haben. Morgen kann ein anderer an meiner Stelle sitzen.« Es muß aber Fachleute geben, Menschen, die den Betrieb kennen? »Gewiß, wir arbeiten und gewinnen wissenschaftliche und praktische Erfahrungen und haben auch Leute aus der zaristischen Zeit.« Viele? »Nein. Während des kaiserlichen Regimes zählte die Moskauer Kriminalpolizei zweihundertunddrei Beamten, denen die ganze Straßenpolizei unterstand, sie hatten eine ausgezeichnete Schule von strengster Disziplin, waren jedoch jeder Protektion zugänglich, mit Geld konnte man bei ihnen alles durchsetzen, und vor allem waren sie durch ihre politische Einstellung kompromittiert – sie arbeiteten der Ochranka in die Hände, deren Moskauer Abteilung gleichfalls in dem Hause untergebracht war, das wir jetzt innehaben. Wir mußten daher an ihren Abbau denken. Das konnten wir leicht, denn ihre Tätigkeit war von ganz anderer 272 Art als unsere. Die Moskauer Verbrecher der Friedenszeit konzentrierten sich zum großen Teil in bestimmten Distrikten, so bei der Chytrowka, wo Maxim Gorki in seiner Jugend gewohnt hat, und deren größtes Haus, in dem jedes Zimmer ein Massenquartier war, er zum Schauplatz des ›Nachtasyl‹ gemacht hat. Sie kennen das Stück?« Ja, auch in der Inszenierung Stanislawskis. »Stanislawski hat eine solche Wohnung der Chytrowka genau kopiert, so sah es aus. Die Polizei durfte sich gar nicht hinwagen, sie hatte nur Konfidenten dort. Wir haben eine Attacke gegen diese Schlupfwinkel unternommen, die Häuser renoviert und Wohnungen daraus gemacht. Jetzt scheint in einem andern Rayon, in der Nähe des Twerskoi-Boulevard eine neue Verbrechergegend zu entstehen, wir wissen nicht, ob wir uns darüber freuen oder ärgern sollen.

In der früheren Ära setzte sich das Moskauer Gaunertum meist aus geschlossenen Gruppen zusammen, Einbrecherkolonnen, Räuberbanden, Familien von Dieben, Hehlerkonsortien, die heute ganz verschwunden sind. Einbruchsdiebstähle kommen in Moskau fast überhaupt nicht mehr vor, was zum Teil in der enormen Wohnungsnot der neuen Reichshauptstadt seinen Grund hat, – es ist immer jemand zu Hause – zum Teil in der Restringierung des Privatkapitals. Mit Räuberbanden hatten wir allerdings in den Landbezirken unseres Gouvernements schwer zu kämpfen, unter anderm haben wir die aus sechs Männern und vier Frauen bestehende Kolonne Kotows unschädlich gemacht, die an der Grenze des Smolensker Gouvernements in den Jahren 1920 und 1921 wohl den Weltrekord an Verbrechen erreicht hat: hundertfünfzig Raubmorde in dieser kurzen Zeit. Ein zweiter Fall von ungeheurem Ausmaß ist der des Kutschers Wassilij Komarow-Petrow, der unter dem Vorwand, ein Pferd zu verkaufen, allwöchentlich einen Menschen in sein Haus lockte und mit dem Hammer erschlug; das Blut ließ er in eine Wanne strömen, die jetzt in unserm Museum ist. Den nackten Leichnam band er, wobei seine Frau ihm half, mit Stricken und steckte ihn in einen Sack, den er in der waldigen Umgebung Moskaus ins Wasser warf. Sechsunddreißig Menschen hat er umgebracht und wurde – ähnlich wie Haarmann, Denke, Landru und Großmann – 273 nur durch Zufall entlarvt. Als man bei ihm nach einer Wodka-Schwarzbrennerei suchte und die Polizeibeamten in den Keller stiegen, wollte er fliehen, wurde erwischt, und im Keller fand man eine Leiche – das letzte seiner Opfer. Man verurteilte ihn und seine Frau zum Tode, ihre drei kleinen Kinder wurden der Staatserziehung übergeben. Seither kamen keinerlei Monsterverbrechen vor und das Bandenwesen ist vollständig liquidiert. Unsere Mordkommission tritt seltener in Tätigkeit als in den andern Großstädten.

1914 waren der Polizei 4191 Verbrechen gemeldet, von denen nur 1739, also 41 Prozent, aufgeklärt wurden. Im Februar 1917 sprengte die Kerenskirevolte die Gefängnistore, die Kriminalität nahm jäh zu, und zu den Berufsverbrechern traten Gelegenheitsverbrecher. Trotzdem gelang es im Jahre 1918, dem ersten unserer Tätigkeit, inmitten großer Wirrnisse, von 11 565 Verbrechen 3622 aufzuklären, das sind 31 Prozent. Im Jahre 1919, das der Reorganisation des Detektivkorps gewidmet war, wurden uns 10 613 Delikte gemeldet – die Täter von 4942 machten wir ausfindig (49 Prozent), 1920 von 10 707 Verbrechen 5670 (53 Prozent), und im nächsten, dem Hungerjahr, blieb der Prozentsatz konstant. Schwer waren die beiden folgenden Jahre: die Neue ökonomische Politik, die Wertanhäufung bei Privatpersonen, die Entwicklung des Handels, die Verdreifachung der Moskauer Bevölkerungsziffer und das Auftauchen von Gastverbrechern aus der Provinz steigerten die Kriminalität, fast auf das Vierfache der Friedensziffer schnellten die registrierten Straffälle dieser beiden Jahre empor, auf 15 719 und 14 054, von denen 8707 und 7290, das sind 55 und 52 Prozent, aufgehellt wurden. Allerdings mußte die Beamtenzahl des ›Mur‹ (Moskowski Ugalowni Rozisk, Moskauer Verbrechensaufklärung) um beinahe hundert erhöht werden. 1924 sank die Kriminalität auf das normale Maß, die Verhaftungen der Schuldigen stiegen auf 59 Prozent (von 10 206 Verbrechen wurden in 6082 Fällen die Täter ermittelt), und die eben abgeschlossene Statistik des vergangenen Jahres stellt unsern und vielleicht den europäischen Rekord dar: 7198 Meldungen von Delikten, davon 4929 Täterschaften aufgeklärt, nicht weniger als 68 Prozent. 274

Wir arbeiten ohne Mitwirkung der Miliz, der die Verkehrsregelung untersteht,. und ohne Mitwirkung der G. P. U., der die Bekämpfung der Gegenrevolution obliegt, die Erfolge sind jedoch nicht unser alleiniges Verdienst. Wie gesagt, vieles liegt in den wirtschaftlichen und Wohnungsverhältnissen, vor allem aber hat die Erziehung der Bevölkerung zur Gemeinschaft ergeben, daß unsere Arbeit gefördert wird, während man vor der zaristischen Polizei viel zuviel Angst hatte, als daß man sich ohne zwingenden Grund an sie gewandt und damit bureaukratischen Scherereien ausgesetzt hätte. Der Hauptzweig des Verbrechertums in den russischen Städten war der Bauernfang – es wär ein leichtes, den analphabetischen, obdachsuchenden Muschik zu prellen. Heute ist der Landmann propagandistisch bearbeitet, kann lesen und schreiben, hat in jeder Stadt seinen Klub, wo er wohnt, Rechtsbelehrung und jeden andern Rat unentgeltlich erhält, so daß – wenigstens im europäischen Rußland – die Bauernfänger ihr Dorado verloren haben. In der Zeit der wirtschaftlichen Blockade traten Damen an die Stelle des gefoppten Muschiks: es entstanden klandestine Fabriken bekannter Parfüms, Coty, d'Orsay, Houbigant – sie entsprachen den Falschmünzerwerkstätten von ehedem. Durch die Verhältnisse gingen diese Laboratorien von selbst zugrunde. Den geheimen Wodkaerzeugungen, die hier eine Zeitlang mehr florierten als die Schwarzbrennereien in Thüringen, ist durch die partielle Wiedereinführung des Branntweinmonopols das Handwerk gleichfalls gelegt. Die internationale Welle des Opiumrauchens, Kokainschnupfens und Morphiuminjizierens kam zu uns in besonders starkem Maße, weil die chinesischen Händler zunächst in Rußland Absatz suchten, das Hasardspiel mit den schmalen chinesischen Karten grassierte in Kellern, Spelunken und Schlupfwinkeln der Prostituierten und macht uns noch heute Arbeit. Eine zeitgemäße Art von Dokumentenfälschung ist es, Gewerkschaftslegitimationen nachzuahmen, um Arbeitslosenunterstützung oder Sozialversicherungsprämien zu entlocken – einige Werkstätten haben wir bereits ausgehoben. Wichtig ist, daß die Blockade der Verleumdung, die von einigen Staaten gegen uns verhängt wurde, nun aufgehoben scheint und der Verkehr mit den fremdländischen 275 Behörden wieder in Fluß kommt. Besonders häufen sich die Anzeigen gegen Emigranten – in den ersten Jahren hatten sie sich in Berlin, Paris und Prag von den mitgenommenen Schätzen und durch die Inflation ehrlich ernährt, jetzt haben einige von ihnen Diebstähle und Unterschlagungen begangen; im Dezember bekamen wir zwanzig Steckbriefe aus dem Ausland gegen Persönlichkeiten, die einst sehr, sehr hochstehend waren; es scheint aber nicht, daß sie nach Rußland zurückgekehrt sind. Wir beziehen auch wieder Literatur und Instrumente aus Deutschland – aber unser Budget ist klein, die Union braucht ihr Geld für Maschinen und Bauten.«

Vom Loblied zum Klagelied war dieser Diskurs des Kriminalchefs nicht in einem Zuge vor sich gegangen, Leute waren mit Meldungen eingetreten, wir rauchten Zigaretten, der Polizeichef hatte ein Faszikel durchstudiert und mit Randbemerkungen versehen, Legitimationen unterschrieben und Tee getrunken, zwei, drei Beamte blieben im Zimmer und nahmen an der Unterhaltung teil, es ging zu, wie es im Westen etwa in Zeitungsredaktionen zuzugehen pflegt, aber nie in einem Amt, nimmer bei der Polizei, nie und nimmer beim Chef des Polizeiamts. Und da wir über den Hof gehen, ins Gefangenenhaus (mit Einzelzellen für die schweren, Gruppenzimmern für die leichten Delinquenten), in die Registratur mit 40 000 Negativen von Photographien und 25 000 Karten von Fingerabdrücken, ins daktyloskopische und anthropometrische Atelier, und vor allem in das wissenschaftliche Kabinett, wo ein Psychiater jeden Festgenommenen nach den ökonomischen Verhältnissen und seiner Herkunft befragt und auf den biologischen Typus hin untersucht, grüßt der Genosse Polizeichef kollegial die vorbeikommenden Hilfsbeamten, zwei schließen sich ihm an, um auch die Institutionen zu besichtigen, es gibt keinen äußerlichen Respekt, und das ist gut, denn sollte der Polizeichef der Millionenstadt wieder abkommandiert werden, wie er eingangs sagte, in ein anderes Land versetzt und dort wegen seines Passes einmal in den Vorraum einer Kanzlei geraten, kann er es leichter ertragen, vom Amtsdiener angeschnauzt zu werden: »Halten Sie gefälligst den Mund, wenn Sie mit einem Polizeibeamten reden!«

 


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