Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Vormals Zarskoje Selo

Vormals: Zarskoje Selo. Mehr Zarskoje als Selo. Mit den andern russischen Dörfern hat das kaiserliche nichts gemein. Da gab's keinen dumpfen Muschik mit Wodka und Tee, kein kümmerlich bebautes Feld und keine zerbrochenen Schlitten und keine rostige Pflugschar, da herrschte kein Pope über Männlein und Weiblein. Hier hatten die Zaren ihr Schloß, und alles was sich im kaiserlichen Glanz sonnen wollte oder wenigstens etwas von der Luft erhaschen, die der Hof ausatmete, baute, vorausgesetzt, daß er die Erlaubnis dazu bekam, in Zarskoje sein Sommerhaus. Das war Rußlands Ischl. Hier leuchtete schon elektrisches Licht, als selbst in den größten Städten noch die Ölfunzel brannte, hier war Kanalisation, als Rußlands Bauern die Jauche noch in Bierfässern aufs Feld führten, hier gab es bereits Wasserklosetts, als im übrigen Rußland nicht einmal ein Zaun die Verrichtung maskierte.

Jetzt: Detskoje Selo. Die schönen Datschen, die schönen Steinbauten, die schönen Gärten gehören den Kindern. Es bestehen Kinderkommunen, Kindersanatorien, Arbeitsschulen, und die Vertreter der Kinder sitzen im Gemeindeausschuß. Wo einst im Rokoko die Fürsten mit ihren Gattinnen zur Rechten und zur Linken spazierten, treiben jetzt Nachkommen der Leibeigenen ihre Kinderspäße, schlagen Purzelbäume über die Rasenbeete, und in der Liebesgrotte steht ein Barren, auf dem sie turnen.

Nur der Palast der Zarin Maria Pawlowna ist für eine Behörde von Erwachsenen frei gemacht worden, für das Exekutivkomitee des Gemeindesowjets, und der des Großfürsten Boris Wladimirowitsch ist Zentral-Versuchs-Station für Botanik und Selektion. 20 Die beiden Kaiserschlösser, die in der russischen Geschichte der letzten zweihundert Jahre eine Rolle gespielt haben, wie Versailles in der französischen, sind als Museen geöffnet.

Wie Versailles? Armseliges Versailles: wenn »der Louvre eine Rumpelkammer ist gegen die Eremitage« mit ihren 49 Rembrandts, mit ihren 30 Rubens', mit ihrem Sassanidensaal und tausend andern Unikaten, so ist das Schloß von Versailles eine Hundehütte gegen das Katharina-Schloß von Zarskoje Selo. Um wieviel reicher war jeder russische Selbstherrscher als alle Fürsten Frankreichs und Europas zusammen, ihm gehörte nicht nur das weitaus größte und reichste Reich, nein, auch alle Menschen und deren Geld gehörten ihm, in Asien und Europa, all das, was an Kunstwerken geschaffen oder gefunden wurde, wanderte in die Hände von Gottes kaiserlichem Stellvertreter, und Tribute wurden geleistet, hoch und kostbar genug, Länder freizukaufen.

Mandelgrün strahlt die Fassade, Bronze verdeckt das Mauerwerk, und Turmspitzen von fettem Gold verbanden den Obersten der russischen Kirche mit seinem einzigen Vorgesetzten, dem Zaren des Himmels. Und innen ein noch satterer Glanz, ein noch wüsterer Luxus, hinter dem man fühlt, wie wenig die Herren seiner froh werden konnten. In der Kirche zum Beispiel, die ein Exzeß ist in Blau und Gold, in der Kirche, die mitten im Haus des Zaren stand, in der Kirche, deren Ikonen und Altäre in ihrem Prunk nur der Kaiser würdig sein sollten, konnten die Kaiser nicht knien: sie fürchteten immer den Dolch eines Nebenbuhlers, eines Prätendenten, eines Empörers. Nur ganz oben auf der Balustrade erschienen sie, geschützt vor allzunaher Berührung selbst mit den Auserwähltesten.

Von einer Stelle des Palastes aus kann man eine Flucht von sechzig Sälen und Zimmern sehen. Hier warteten die Audienzwerber, bis die Kaiserin endlich herankam, zuerst ein kleiner blitzender Punkt von Brillanten, dann ein Tanagra-Figürchen in Atlas, dann in menschlicher Größe, und schließlich in Krone und Krinoline, eine überlebensgroß erscheinende Gestalt, ihr eigenes Denkmal, zu dem kein Mensch mehr menschlich zu sprechen wagte.

Wie in allen Königsschlössern, so auch hier: Spanischer Saal, 21 Paradesaal, Pompejanisches und Chinesisches und Elfenbeinzimmer, Spiegelgalerie und dergleichen, nur prunkvoller als im armen Bayern, im armen Frankreich, im armen Wien. Ein solches Bernsteinzimmer zum Beispiel gibt es nirgends, am allerwenigsten in Sanssouci, und doch ist der ganze Raum ein Geschenk Friedrichs des Großen an den Zaren, ein Gegengeschenk sogar, überreicht zum Dank für hundert Grenadiere von je vier Ellen Größe. Im Speisesaal fehlt nicht der Witz des Tischleindeckdich, das plötzlich aus dem Parkettboden emportaucht, was für andere Sterbliche ein Märchen aus dem Märchenbuch ist. Der Thronsaal aber ist ein Märchen aus dem Kopf von hundert Künstlern, und aus einer Goldkammer, die keinen Boden hatte, und neunhundertsechsundvierzig Lampen beleuchten ihn und werfen ihr Licht aus zwölfhundert Spiegeln einander wieder zu; klatscht man in die Hände, so läuft der Schall die Wand entlang, fast zwei Minuten dauert dieser Galopp des Echos. Ein Saal schimmert von Silber, einer im Weiß der Porzellantäfelung und im Violett gläserner Säulen, des einen Parkett ist blankes Perlmutt, der Luster des anderen ist Lapislazuli, ein Gemach ist von einer Vase erfüllt, an der drei Generationen einer chinesischen Künstlerfamilie geschnitzt haben, fünfundsiebzig Jahre lang, in einem Zimmer wurde die Teilung Polens vollzogen, und in einem wohnte Emile Loubet im Jahre 1902, als er hierherkam, um Rußland zum Bündnis mit Frankreich gegen Deutschland zu gewinnen.

An das Dampfbad der Gardeoffiziere grenzt eine winzige Dienerkammer, aus der ein kaum anderthalb Meter breiter Korridor in die kaiserlichen Gemächer führt; dieses Kämmerchen soll die Loge gewesen sein, aus der Katharina II. beobachtete, um die Wahl ihrer Favoriten zu treffen.

Hinter all dem hemmungslosen Genuß und hemmungslosen Luxus verbargen sich Fratzen der Angst und die gequälten Mienen derer, denen all dieser Reichtum und Glanz ausgepreßt wurde.

Drüben das neue Schloß, das Alexanderpalais, ist die unpersönliche Villa einer kleinen Spießbürgerfamilie ohne persönlichen Geschmack, ohne Charakter. Hier wohnte der letzte Zar 22 und seine Familie. Wer es nicht glaubt, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird und mit wie wenig Kulturgefühl man viel Geld auszugeben vermag, der kann im Hause Nikolaus II. untrügliche Beweisstücke in Massen vorfinden. Nein, kein Mensch von Verstand und Geschmack möchte in diesem Sammelsurium von gipsernen Jungfrauen, von schablonenhaften Alpenlandschaften, von sezessionistischen Ornamenten auf Leuchtern und Tintenfässern leben. In manchem Zimmer hängen fünfzig bis sechzig Seestücke an der Wand (die einzige Kunst, die sich auf ihnen offenbart, ist die, einen Meeressturm langweilig darzustellen) und Genrebilder aus dem Bojarenleben, und zweihundert lithographierte Gibsongirls mit einem einzigen Mund, dem zum Kotzen beliebten Kirschenmündchen, schmücken dein Heim, und in den intimen Gemächern stecken Hunderte von Photographien in Rahmen, alle Männer und alle Frauen in den gleichen Uniformen und mit den gleichen Gesichtern, auf allen steht mit Tinte derselbe Text: »Meinem lieben Niki zum freundlichen Andenken, Valerie von Hessen«, »Meinem lieben Niki zum freundlichen Andenken, Hermine von Hessen«, »Meinem lieben Niki zum freundlichen Andenken, Ernst Ludwig von Hessen«. Es ist geradezu eine Erquickung, wenn man unter dem Konterfei eines solchen hessischen Prinzen, den man nun schon zum Überdruß oft in effigie gesehen hat, lesen kann, daß er kein Prinz von Hessen ist, sondern ein Prinz von Dänemark. Aber an diesen Photographien der lieben Familie hatten Niki und seine Frau nicht genug. Auf jedem der vielen Tische liegt ein Album mit Bildern der Prinzen von Hessen, Koburg, Dänemark, Hessen, Preußen und Hessen. In etwa dreißig dicken Mappen sind sorgfältig Kameraaufnahmen von Nikolaus II., seiner Frau und den Kindern eingeklebt, bald sieht man ihn in Schwimmhosen, bald in der Galakalesche, bald mit einem erlegten Eber, bald bei einer Truppenparade, bald beim Tennisspiel, bald auf einem Schiff – um Gottes willen, hatte er nicht genug daran, daß er das alles tun mußte, erfreute er sich außerdem noch an der Erinnerung? Kopfschütteln erregt der Anblick des Schlafzimmers, in dem auf einer Matratze Zar und Zarin nebeneinander schliefen (die offizielle Geliebte des letzten Zaren, die Ballerina Kschesinskaja, hatte 23 in ihrem pompösen Palast auf der Petersburger Insel einen pompösen Schlafsaal), nicht wegen dieses schmalen Bettes, sondern deshalb, weil für ein breiteres kein Platz vorhanden war. Denn das Zimmer ist vollgestopft mit Ikonen: Heiligenbilder, Medaillons, Kreuze, Ketten, Reliquien, ewige Lampen füllen den ganzen Raum und alle Wände von oben bis unten. Und im Seitenkämmerchen, an dem ein oberflächlicher Besucher diskret vorbeischreiten würde, ist der Altar, wo die Morgenandacht verrichtet wurde, gleichfalls umhängt von mehreren hundert frommen Bildchen. Die elektrische Klingel paßt durchaus nicht zu dieser Draperie. Aber noch weniger paßt dazu, daß über der elektrischen Klingel ein Hufeisen angebracht ist, auf Weisung des Zaren, der fest an diesen Glücksbringer glaubte. So sind in einem kleinen Zimmer Glaube und Aberglaube sinnfällig benachbart. Überall, wo Nikolaus arbeitete, mußte ein Hufeisen auf die Schwelle genagelt sein und eine Ikona in der linken Ecke hängen und ein Gibsongirl an der Wand. (Die Ikonen aus dem Schlafzimmer waren das einzige, was die Zarin nach ihrer Verhaftung in die Verbannung mitnahm: drei schwere Kisten hatte sie selbst gepackt. Erst nach ihrem Tode wurden sie zurückgeschickt, und eine Kunsthistorikerin bekam den weniger kunst- als historischen Auftrag, nach einer vorhandenen Photographie des Zimmers, die man vergrößerte, die Bildchen und Kreuze wieder so zu befestigen, wie sie gewesen waren. Fast drei Monate arbeitete sie an diesem Geduldspiel.)

Die Töchter des Zaren wohnten oben im ersten Stockwerk mit ihren Erzieherinnen, und in dem großen Spielzimmer ist ein Berg aus Holz aufgebaut, auf dem sie kraxeln, rutschen und rodeln konnten. Nur der Zarewitsch hatte ein eigenes Spielzimmer, wie sich's für den künftigen Beherrscher aller Reußen geziemte. Prachtvolle Wiegen stehen darin, eine aus Tula, eine von den Holzschnitzern der Ukraine, und viel Spielzeug. Neun wirkliche Militärgewehre, jedes in einer andern Größe, mit dem einen mag er gespielt haben, als er drei Jahre alt war, mit dem nächstgrößeren im Alter von vier Jahren, und so weiter, im Kriege aber bekam er ein leibhaftiges Maschinengewehr mit einer Lafette, und einen Gurt Knallpatronen, das stellte er zum Fenster, 24 vielleicht um auf die bösen Deutschen zu schießen, wenn sie bis Zarskoje Selo vordringen sollten. Neben dem ikonengeschmückten Bettchen war die Kammer des Matrosen Andrej Iremejitsch, des »Onkel Djerewenka«, der als robuster Schutzengel des kranken Prinzen einen feinen Posten hatte, »Vertreter des Volkes« am Zarenhof war; seit 1917 ist er verschollen, wo mag er gekämpft haben, bei den Weißen oder bei den Roten?

Im Arbeitszimmer des Zaren liegen auf einem Tische Landkarten ausgebreitet, auf denen man die Front der Österreicher und der Deutschen mit rotem Strich verzeichnet sieht, und die der Russen mit einem gelben. Bücher stehen hier, Almanache und Schematismen, und auch Belletristik, meist englische und französische Romane, sicherlich aber las er auch deutsch, und nur während des Krieges hat er diese Lektüre beiseite schaffen lassen. Oder sollte wirklich »Jörn Uhl« das einzige Buch gewesen sein, das er von der deutschen Literatur besaß?

Im Empfangszimmer der Zarin hängt die Verwandtschaft in Pastell an der Wand, sowie ein Porträt der Kaiserin selbst und eines ihrer Schwester, von Kaulbach. Nur ein Bild paßt nicht in diese neuzeitliche Galerie: es ist eine Kopie des Vigée-Lebrunschen Gemäldes von Maria Antoinette und ihren Kindern, der sich Alexandra in ihrem Schicksal ähnlich glaubte. Sie fürchtete, denselben Tod zu erleiden wie ihr Vorbild. Das Wort »Schafott« durfte man vor ihr nicht aussprechen, jedes Buch, das sie las, mußte vorher daraufhin durchgesehen werden, ob nicht eine Hinrichtung darin erwähnt sei. Furcht vor dem Tod durch Revolution und Henker verdichtete sich in ihr bis zur Psychose des religiösen Wahnsinns, veranlaßte sie zu einem Kult von Bildchen und dazu, dem Wunderpriester Rasputin hörig zu sein. Unter dem Porträt Maria Antoinettes wurde sie festgenommen und in Verbannung und Tod geführt.

 


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