Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der 1. Mai und das Osterfest

Die beiden großen Feste Rußlands, das des alten und das des neuen, fielen zusammen. Die Einen feiern die Auferstehung des Herrn, die Anderen den 1. Mai, denn sie sind selber auferstanden. Drei Demonstrationen fanden statt. Demonstrationen von einer Eindringlichkeit und Mächtigkeit, wie sie nur ein Staat aufbringt, der aus der Organisation hervorging, und wie sie nur die Kirche hervorbringt, die die Psychologie der Massen länger kennt, als die Bolschewiken sie kennen, aber statt der lauten Agitation die stillen Mittel der Suggestion gewählt hat, dauerhafte Mittel, man sah es heute abend.

*

Zuerst war die Parade, eine Truppenparade mit allem, was dazu gehört und was im Grunde genommen auch auf dem Marsfelde von St. Petersburg nicht gefehlt hat und heute auf dem Champ de Mars in Paris nicht fehlt. In massiertem Viereck stehen funkelnagelneue Truppen mit geschultertem Gewehr, schnurgerade ausgerichtet und schnurgerade aufgedeckt, Fußvolk, Reiterei, Kanoniere und Troß, die Musikkapellen spielen Märsche und Hymnen, sogar der deutsche Schellenbaum hebt sich klingend empor, Kommandos erschallen, es wird geschworen mit vielen tausend Stimmen. Die Geschütze feuern den Salut, und am Schluß wird, Augen rechts, defiliert. Das ist überall so.

Und doch ist es anders. Schon Soffitten und Hintergrund: kein Exerzierfeld, sondern die krenelierte Kremlmauer mit frommen Fresken und geschichteten Türmen, über denen noch der Zarenadler horstet, und vor ihnen, aus neuer Zeit, die 148 Gräber der Revolutionäre, drüben der Kaufhof und das Historische Museum, und auf der vierten Seite das bizarrste Bauwerk Europas: die bunte Basilika des heiligen Basilius; ein steinerner Richtplatz davor, Schädelstätte Iwans des Grausamen, dort ließ er alle köpfen, die ihm nicht gefielen. Affichen von fünfzehn Quadratmetern sind heute an die Innenfläche des Würfels »Roter Platz« gespannt, ein russisches, ein deutsches, ein englisches und ein französisches Plakat, Aufrufe zur Einheit der arbeitenden Menschen,

Auf dem Mausoleum Lenins stehen die Ehrengäste der Parade, andere Ehrengäste als die auf den Marsfeldern von Petersburg und Paris, keine Fürstlichkeiten mit damastenen Ordensschärpen, keine Damen, deren Dekolletés Schaufenster eines Juwelenladens sind, keine Diplomaten in Operettenuniformen. Es sind die Vertreter der Volkskommissariate und der Gewerkschaften, der Organisationen, denen die Armee gehört, und doch defiliert sie nicht vor ihnen, sondern vor – – wir werden es sehen.

Auch die Truppen bieten einen andern Anblick als andere Truppen dar. Nicht weil sie Kalmückenhelme tragen mit dem roten Pentagramm, das ist schließlich egal. Aber weil die Mannschaft genau so aussieht wie die Offiziere; die bilden keine besondere Kaste, sind Mannschaftspersonen, die bereits eine Kompanie kommandieren oder ein Regiment, eine Brigade oder eine Division, wo ist der bunte Glanz der Generalsuniformen mit silbernen Tressen und goldenen Epauletten und grünen Federbüschen und weißen Waffenröcken und goldenen Lampassen! Da reitet eben eine solche Mannschaftsperson die Front ab, Woroschilow, Volkskommissar der Land-, See- und Luftstreitkräfte, jedem Truppenteil ruft er ein »Strawstwujte, Towarischtschi« zu und erhält gleichfalls den Gruß zur Antwort: »Sei gegrüßt, Genosse.« Er sprengt moi-tout-seul-allein über den großen Platz, kein Adjutant, kein Stab begleitet ihn. Dann spielen die Musikkapellen die Hymne. Es ist keine Hymne, Gott möge den König schützen, den Herrscher des Vaterlandes, überhaupt ist vom Vaterland nicht die Rede. Die russische Armee ist nicht die Armee Rußlands, sie ist die Armee der Weltrevolution, ihr Lied ist die Internationale, die im Westen 149 entstand und längst in alle Sprachen übersetzt war, bevor man auch in Rußland singen durfte: »In Stadt und Land, ihr Arbeitsleute, ihr seid die stärkste der Partei'n, die Müßiggänger schiebt beiseite, diese Welt muß unser sein . . .«

»Zum Schwören« wird kommandiert. Von wem? Von wo? Von allen Seiten dröhnt das Kommando aus den Lautsprechern. (In der Stadt hört man durch alle Radios die Befehle und die vorgesprochenen und nachgesprochenen Worte des Schwurs.)

Hierauf defilieren die Truppen. Vierzigtausend Soldaten der Moskauer Garnison ziehen in Reih und Glied vorüber, an dem Befehlshaber, der in Uniform mit dem Orden der Roten Fahne ruhig lächelnd im gläsernen Sarge liegt: an Lenin. Vor Lenin senken sich die breiten Pallasche, vor ihm beugen sich Fahnen und Standarten und Reiterfähnchen, zum Grabgebäude wenden sich, Augen rechts, die Kolonnen. Hinter der Infanterie kommen die Zöglinge der militärischen Fortbildungskurse, die Marine, die G. P. U., die Kavallerie, nach der Farbe der Pferde geordnet, eine Eskadron von Schimmeln, eine Eskadron von Rappen, eine Eskadron von Falben, dann die Maschinengewehre, die leichten und die schweren Geschütze, die Trains. Und jetzo rattern die unheimlichsten Gebilde der Welt, die Tanks, es dröhnt das Pflaster, kein Mensch ist zu sehen auf diesen Riesenwagen, neben diesen Riesenwagen, in diesen Riesenwagen, über deren Verdeck die Kette rollt, der Platz ist leer, als wäre alles geflüchtet, und man erschrickt beinahe, wenn sie, räderlose, fußlose Ungetüme, dem toten Lenin ihre Ehrenbezeugung leisten, indem sie einen Augenblick lang vor dem Eingang des Grabmals innehalten . . . Vom Firmament kommt das Geschwader der Äroplane, so hoch sind sie, daß man die Propeller nicht hört, plötzlich senken sie sich herab, tief herab, man glaubt, sie stürzen, aber sie neigen sich nur vor der Gruft Ilitschs und heben sich schwirrend wieder empor, über die Plakate, über die geschweiften Schießscharten der Kremlbrüstung, über die Zarenadler und die Kirchenkuppeln.

*

Es ist zwölf Uhr mittags geworden. Automobile rollen an, ihr Dach wurde als Rednertribüne hergerichtet (das Geländer 150 besteht aus Buchstaben »1. Mai«), und nun erst naht der Zug der Arbeiter. Alle Unternehmungen Moskaus sind ausgerückt. Zehnerreihen. Die Zahl der Teilnehmer: sechsmalhunderttausend Menschen. Vor jedem Betrieb eine Standarte, dann kommen die Söhne und Töchter der Arbeiter aus diesem Betrieb, meist mit dem roten Halstuch der Jungpioniere, sie tragen Attrappen oder Embleme mit den Produktionsmitteln und Arbeitsprodukten ihrer Eltern, Webstühle oder Spindeln, Hobel oder Hämmer, Automobilreifen oder Schuhe, Brote oder Zigaretten, Messer oder Ziegel. Hinter den Kindern marschieren die Komsomolsen, die Sechzehn- bis Zwanzigjährigen, die in dem Unternehmen angestellt und organisiert sind. Nach ihnen die Männer und die Frauen, und so bewegen sich tausend Fabriken, tausend Werkstätten, tausend Schulen, tausend staatliche Ämter und staatliche Firmen, tausend Vereine über den Roten Platz.

Fast vor jedem Kindertroß schreitet eine Musikbanda, setzt sie aus, so fangen die Kleinen selbst zu konzertieren an, jeder Pionierklub hat seine zwei Tamboure und seine zwei Trompetenbläser, manche nehmen die Sache sehr ernst und trommeln, daß sich der Rücken bewegt, manche sind lustig und werfen die Schlegel mitten im Wirbel in die Luft. Auch innerhalb der Betriebe gibt es Musikinstrumente – in jeder zehnten Reihe ist eine »Garmoschka«, die Ziehharmonika, oder eine Balalaika – eine Gruppe von Mädchen mit roten Kopftüchern spielt auf Kämmen, die mit Seidenpapier umwickelt sind – Frauen halten sich untergefaßt und singen.

Vom Dach des Rathauses sieht man die beiden Teile des Zuges herankommen, rechts und links kilometerweit nichts als rote Fahnen und rote Standarten, von den Peripherien Moskaus bis ins Zentrum eine unendliche rote Schaukel. Auf den Standarten stehen meist Zitate, die ganze achtzehnbändige Gesamtausgabe Lenins kann wohl am 1. Mai auf der Straße ausgelesen werden, auch Karl Marx unterrichtet heute peripathetisch. Einige Sprüche sind individuell und selbst verfaßt, eine Jugendgruppe trägt die Devise: »Wir werden euch ablösen!«, eine zweite noch knapper: »Wir: der Schichtwechsel!« Eine Betriebszelle: »Lieber sterben, als jemals einer Regierung dienen, die nicht aus Kommunisten 151 besteht!« Sehr viele schwingen fremdsprachige Parolen, deutsche, französische, englische. Die Nationalitäten Rußlands sind in Einzelgruppen vertreten, die Sensation machen, Tataren in buntem Schmuck, Kaukasier in ihrer Wildwestuniform, Mongolen und Kirgisen. Die Organisation der Arbeiterkorrespondenten trägt ein überlebensgroßes Porträt Franz Mehrings als Standarte vor sich.

Auch karikaturistische Gruppen gibt es, mit Ausfällen gegen Völkerbund, Faschismus und Zweite Internationale. Mussolini in schwarzem Hemd ist auf ein tragbares Plakat gemalt, wie er Matteotti ermordet, eine Karikatur Kautskys, unter der die Worte stehen: »Wenn ich sterbe, wird die kapitalistische Presse doch sagen, daß ich der beste Sozialist war.« Eine dicke Puppe mit der Tafel: »Ein Viertelstündchen lang war ich Revolutionär, weil Papa mich geärgert hat. Gezeichnet: Friedrich Adler.« Der tschechoslowakische Außenminister Benesch, der vor zwei Tagen gegen das deutsch-russische Abkommen protestiert haben soll, wird als Hampelmann gezeigt, den Schneider-Creuzot in der Hand hält, Macdonald mit einem Strumpfband, das drei Leute tragen: »Honny soit, qui mal y pense.« So geht das stundenlang. Alles über den Roten Platz von zwei Seiten kommend, an der Gruft Lenins vorbei und an den Tribünen, auf denen die Volkskommissare stehen, jubelnd begrüßt. Der alte Kalinin, der im Rat der Volkskommissare das Ressort Popularität verwaltet, dürfte heute einige hundertmal gerufen haben: »Seid bereit, Kinder der Arbeiter- und Bauernklasse«, und aus einigen hunderttausend Kehlen die Antwort erhalten haben: »Wsegda Gotow! – Wir sind immer bereit!« Er ist nicht zu beneiden, der alte Kalinin, und die Jungpioniere auch nicht. Denn sie sind mindestens sechs, sieben Stunden im Manifestationszug, und man kann diese Anstrengung nicht vermindern, da man die Kinder nicht allein defilieren, sondern mit den Betrieben der Eltern ziehen lassen will. Viel besser haben es die ganz Kleinen, die Oktobrinen, die nach dem Oktober 1917 geborenen Kinder; für sie sind sämtliche Automobile, Lastwagen, Droschken freigemacht worden, die Fahrzeuge sind dekoriert mit Girlanden und Schleifen, jedes Kind hat ein Fähnchen in der Hand und 152 darf es schwenken und nach Herzenslust brüllen, und diese Autos dürfen überallhin fahren, auch der Demonstrationszug muß ihnen Platz machen, und selbstverständlich die Kordons der Polizei.

Noch immer marschieren die Kolonnen. Es ist schon sieben Uhr abends, die roten Fahnen auf den Häusern sind von Reflektoren beleuchtet, an den öffentlichen Gebäuden brennen Sichel und Hammer, Marx und Lenin, Sowjetstern und die Buchstaben »1. Mai«, die Straßenbahnen fahren nicht, die Geschäfte sind geschlossen, aber die Schaufenster drapiert und illuminiert, in den Klubs der Organisationen wird unentgeltlich Theater und Kino gespielt.

*

Am selben Abend wieder eine Demonstration, gleichfalls eine, wie die übrige Welt sie nicht kennt: russisches Osterfest, eine Veranstaltung voll mittelalterlicher Mystik und mittelalterlicher Ekstasen. Voll waren die Kirchen, die Menschen zwängten sich ineinander, jeder trug eine brennende Kerze, und die tausend Flämmchen warfen ihren Glanz auf die goldenen Mäntel, die über die Heiligenbilder gespannt sind und nichts frei lassen als das Gesicht, die Haare und die Hände des Abgebildeten. Viele hatten gefastet, und der Wachsgeruch der Lichter mischte sich mit dem heißen Atem der Hungernden und mit dem Weihrauch, der in Schwaden unter den Kuppeln lag. Eine Viertelstunde vor Mitternacht ergriff der Priester das Venerabile, schritt aus der Kirche, hinter ihm Mönche, Nonnen und Popen, hinter ihnen jene Gläubigen, denen vergönnt war, eine Ikona zu tragen, doch berührten sie diese nicht, sondern hielten sie mit einem Tuch, und ihnen nach strömten tausend Fromme, jeder die Mütze und die Kerze in der Hand. So wandelte die Prozession aus der Kirchentür und dreimal um das Gotteshaus, singend, daß Christus im Grabe liege, was sich auch die Glocken zuriefen. Und Punkt zwölf Uhr, der Ostersonntag beginnt, steht der Zug wieder vor der Tür, sie öffnet sich, das Bild des Heilands über dem Altar ist von Lichtern umstrahlt, der weißbärtige Erzdiakon schreit auf: »Christ ist erstanden!«, alle Stimmen schreien auf, 153 als sähe man das Wunder vor sich: »Er ist in Wahrheit auferstanden!« Das wird jetzt wiederholt in einer Litanei, »Kristos woskresse«, – »Wo jistinu woskresse«, zehnmal, zwanzigmal, hundertmal, immerfort, bis der Morgen da ist, man nach Hause geht, um Kulatsch zu essen, den Osterpudding, und Paska, die süße Osterspeise. Krüppel stehen und liegen vor der Tür und betteln die Frauen an, die mit der brennenden Kerze die Kirche verlassen, daheim das Lämpchen in der heiligen Ecke daran zu entzünden, und jene Frommen, die vorsichtig die Kerze verlöschen und in der Tasche verbergen, weil sie nicht gern als fromm erkannt werden möchten. Wie viele von ihnen mögen nachmittags an der Maifeier teilgenommen haben, die »gegen Pfaff, Adel, Kapital« durch die Straßen zog? Viele, gewiß. Aber eines ist festzustellen: Jugend ist am Abend nicht dabei, keinen jungen Menschen sieht man in der Kirche. Die Jugend weiß nicht mehr, was am Karfreitag vor neunzehnhundertsechsundzwanzig Jahren geschah, und was sich zwei Tage später ereignet hat, und weiß auch nicht, was man feiert. Und wenn sie es weiß, so glaubt sie es nicht.

In den ersten Jahren nach der Revolution hat man die Auferstehungsfeier verhöhnt, indem man die mitternächtige Prozession mit Katzenmusik oder Gelächter empfing. Das hat aufgehört, diesmal, am 1. Mai, zog der Ostersonntag ohne Störung ein.

*

So ist heute jede der drei Demonstrationen solenn verlaufen. Welche hatte Beweiskraft? Die, zu deren Begleitung die Kanonenschüsse dröhnten, die, zu der die Melodie der Internationale erklang, die, zu der die Glocken läuteten?

Ein Tank, hinter seinem unheimlichen Panzer läßt kein Mensch sich ahnen, wackelt räderlos, fußlos durch die nächtliche Straße nach Hause.

 


 << zurück weiter >>