Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Das ist ein Theater in Aserbeidschan!

Im Vestibül des Theaters sitzt die ganze Bibel: Lea, Rahel, Rebekka und Hagar und das übrige Morgenland, Scheherezade, Fatme, Salome und Genossen. Um Leib und Kopf der Frauen ist ein Tuch geschlungen, dergestalt, daß die Lippen verdeckt sind, die alten Weiber verschleiern nur eine Hälfte des Mundes, der Form wegen, sie wissen, daß er niemand mehr lockt, die jungen hingegen verbergen ihn ganz unter dem Kopftuch, eine Scham, die den Städterinnen des Westens besser anstünde. Das sind Tatarinnen. Die Türkinnen aus der Türkei verhüllen auch die Stirn, wir sind im bolschewisierten Islam, vom Halbmond zur Sichel ist nur ein Schritt, wir dürfen schon Augen sehen, schwarze Augen in schwarzem Oval und schwarze Locken, schwarzer Flaum wölbt sich unter der Nase. Auch die männliche Bibel ist vollzählig da, das alte Testament, soweit es nicht assimiliert ist, und der Koran. In Fez und Turban oder einer runden Pelzkappe, die nicht mehr der religiöse Fez ist und doch dieselbe Couleur in schwarz. Die Söhne Sems, die Tochter Sems haben sich in vorgeschriebener Weise vermehrt, seid zahlreich, wie der Sand am Meer, unter jedem Frauentuch kreischt ein Baby, auf jedem Schoß jauchzt ein kleiner Halbneger mit wulstigen Lippen und breiter Nase, und der blinde Mann, der draußen vor dem Eingang des Theaters steht, und den kaspischen Wind um sein unbedecktes Haar streichen läßt, ist von kleinen »Tjurken« umlagert (so nennt man die russischen Türken zum Unterschied von denen des Osmanenreiches), die sein märchenhaftes Zuckerwerk kaufen, eine Kopeke das Stück. 140

Die Glocke schellt eine halbe Stunde nach der plakatierten Anfangszeit, der Hellespont durchbricht alle Kontolleure, Türen und übrigen Hindernisse, man erstürmt die Sessel und wartet auf den Beginn, wartet eine halbe Stunde, dreiviertel Stunden; Kinder jagen im Parkett umher, Säuglinge weinen, Frauen nehmen ungeniert die Brust heraus, um sie den Ungestümen zu reichen, achten aber sittsam darauf, daß ihr Mund nicht sichtbar werde, schwarze Rotarmisten sind im Publikum. Auch die fünf Photographen vom Tor der Zitadelle; dort stehen sie tagsüber vor einer der bizarrsten Kulissen der Welt, und jeder hat eine grell gemalte Leinewand als Hintergrund der Photographie lockend neben sich, eine mit einem Salon oder eine mit einem Rosengarten oder eine mit einem Palmenhain – also diese fünf Photographen schnappen einander ihr Leben lang die Kunden weg und sitzen abends friedlich nebeneinander im Theater, nur ihre gemalten Hintergründe haben sie nicht mit. Da sind überhaupt alle Typen; die Jungen mit den Mützen, die sie als Hörer des Polytechnikums ausweisen, und die Alten, deren Bärte wie die Fortsetzung des Mützenfells aussehen, die Lastträger vom Hafen, die man beileibe nicht bemühen möchte, die zerlumpten Fruchthändler, die sonst in der Stadt auf dem Esel umherreiten, daß die Füße als Bremse auf dem Boden nachschleifen, die energischen Verkäufer, durch deren Spalier man in der Bazarnaja Spießruten laufen muß, und die Arbeiter von den Naphthafeldern.

Endlich, endlich tönt das Horn, das Spiel beginnt. Für den Westler: das absolute Theater; seit Sadda Yaccos Tagen hat der Westler das absolute Theater nicht mehr erlebt, das Theater, das keine Pantomime ist, sondern: die Sprechbühne, von der er kein Wort versteht. Nicht einmal den Namen eines Schauspielers kennt er, nicht den Namen des Stückes, kein Wort der Sprache – kein Wort.

Hier die Handlung getreulich: Ein glatzköpfiger Mann liegt auf einer Matratze, es wird dunkel, es wird hell, und eine Lokomotive en face glotzt aus zwei runden Signallichtern; aber da es ganz hell wird, sieht man, daß es keine Lokomotive ist, sondern eine riesenhafte Fratze, und die Signallichter sind die Augen 141 und unten ist ein großer Rachen. Der Kahlkopf richtet sich auf, schlottert und springt in den Rachen, wieder wird es finster, die Fratze verschwindet, und inmitten einer Landschaft toll brodelnder Kessel ruft er das erste Wort seiner Rolle aus: »Dschehenna!« Hurra, denkt der Westler, der sich auf das absolute Theater, das Unverständliche gefreut hat, hurra, der Autor hat sein Türkisch auch aus Karl May gelernt, Dschehenna = die Hölle, das wissen wir! Und richtig, Mephisto aus der Kostümleihanstalt, zwei Glühbirnen statt der Augen, klopft dem Ankömmling auf die Schulter, und dieser schreit entsetzt auf: »Scheitan!«

Wir verzichten von nun an auf die Wiedergabe des Wortlautes und beschränken uns darauf, den Inhalt des Stückes kursorisch zu berichten. (»Ich zeichne den Kreis natürlich nur schematisch«, pflegte Professor Tiesel sich zu entschuldigen, wenn er statt eines Kreises die Kontur eines zackigen Embryos auf die Tafel malte.) Also der Teufel redet dem Glatzenmann, der äußerst witzig ist und das Publikum mit Recht zum Lachen zwingt, zu, in den Kessel zu springen – möchte man meinen, dem ist aber nicht so, davon kann keine Rede sein, denn alle Kessel sind besetzt. In dem einen ist ein Hadschi, ein Mekkapilger, Ihr wißt doch?, in dem andern ein Stotterer, in dem dritten ein Choleriker, die von Zeit zu Zeit auftauchen und einige sehr zutreffende Worte sagen. Schließlich packt der Teufel, da die Situation sich nicht mehr halten läßt, den Kahlen an und wirbelt ihn im Kreis umher. Es wird dunkel, es wird hell, der Mann ruht auf der Matratze, er hat nur geträumt, seine Frau kommt herein, und mit einem geradezu ausgezeichneten Witz schließt der erste Akt.

Im zweiten steigert sich die Begebenheit in außerordentlicher Weise: vier Männer liegen jetzt auf einem grünen Teppich, eingewickelt in verschiedenfarbige Tücher, verschiedenfarbige Kissen unter dem Kopf. Draußen wird Gesang hörbar, die Schläfer erwachen; einzeln geht jeder zum Fenster, erkennt mit unverhohlenem Erstaunen den merkwürdigen Ursprung des Gesanges, gibt einigen Gedanken Raum, die der Gesang und dessen Ursache bei ihm auslösen müssen und legt sich wieder schlafen. 142 Der letzte bewegt sich in Purzelbäumen vom Fenster fort über die Schläfer hinweg, was man unter solchen Umständen nicht übelnehmen kann, aber die drei andern springen entsetzt auf, raffen Teppiche und Polster zusammen und wollen in panischem Schrecken enteilen; doch werden sie aufgeklärt und nun können sie abgehen, allerdings bloß auf einem Fuß hüpfend, die linke Hand selbstverständlich auf dem rechten Knie, und mit aufgesperrtem Mund. Nummer vier ist nun allein, hebt einen Vorhang und weckt den dahinter liegenden Herrn, dessen Kopf von einem Turban und dessen Kinn von einem halben Meter Watte verlängert wird, berichtet ihm alles Vorgefallene. Gerade in diesem Moment – mag man's nun für Zufall oder Kismet halten – kommt ein armer Mann auf Krücken hereingehumpelt, beschimpft, nicht ohne gewisse Berechtigung, den Turban mit dem Wattebart und verschwindet mit einem Wort, das wir gar nicht wiedergeben wollen. Der Alte grollt, aber schließlich verläßt auch er – begreiflicherweise auf einem Fuße hüpfend, die linke Hand auf dem rechten Knie, und mit aufgesperrtem Mund – die Bühne, und unter stürmischem Jubel fällt der Vorhang.

Nunmehr im dritten Akt kommt alles wie es kommen muß. Eine Dame steigt auf eine Leiter und rechts und links schweben Reifen, in denen zwei äußerst wenig bekleidete Frauen sitzen, was man um so praktischer findet, als ein ungeheurer Aufwand von Manufaktur notwendig wäre, den Popo der linken Dame zu umhüllen. Am Fuße der Leiter steht, in völlig klarem Zusammenhang mit der bisher erzählten Handlung, ein aus Pappe geschnittener Amor, und daneben kauern ein lebendiges Mädchen mit offenem schwarzen Haar und zwei Feen in faltigem Trikot und angeschnallten Flügeln – »Houris«, wie man bei uns in Aserbeidschan die Feen nennt, die im Paradies im faltigen Trikot mit angeschnallten Flügeln herumlaufen. Das Mädchen mit den aufgelösten Haaren legt in sehr erregtem Ton ihre Gedanken dar, die Dame auf der Leiter antwortet geradezu demgemäß und geht durch die Mitte ab, nachdem sie, was sich erwarten ließ, eine Henne aus Blech einem Schubfach entnommen und der linken Houri überreicht hat. 143

Drei Männer treten ein, glatzköpfig alle drei, vollbärtig alle drei, und der geneigte Leser wird sich denken, daß der Mann aus der Hölle darunter ist, wenn sich das auch nicht beschwören läßt. Sie geraten miteinander in Konflikt, dann versuchen sie vergeblich nach den Houris zu haschen, ein ausgestopfter Pferdekopf senkt sich zur rechten Zeit vom Schnürboden herab – das Mädchen mit dem aufgelösten schwarzen Haar erblickt ihn, was bleibt ihr anderes übrig, als sich einen Dolch gegen die Brust zu stoßen? Doch jetzt naht wieder die uns von der Leiter her bekannte Dame, entreißt ihr die Waffe, worauf der Pferdekopf verschwinden muß, und dem Ballett nichts mehr im Wege steht. Das Mädchen, das mit dem stattlichen Popo bisher auf dem so tragfähigen Reifen saß, beginnt mit ihrer Partnerin einige langsame Pirouetten, und hinten tanzen, zum Teil in parodistischer Weise, die andern Personen des Dramas.

Die drei Akte dieses ausgezeichneten Werkes könnte man auch in anderer Reihenfolge spielen. Vielleicht überhaupt als drei Einakter, die in keinem Zusammenhang miteinander stehen – es käme nur auf einen Versuch an. Aber solche Stücke spielt man bei uns selbstverständlich nicht!!

 


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