Egon Erwin Kisch
Zaren, Popen, Bolschewiken
Egon Erwin Kisch

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Erziehung durch den »Geschlechtskranken«

Das Auditorium, diesmal durchwegs aus Frauen bestehend, zwei-, dreihundert Frauen, erhebt sich, da der Gerichtshof eintritt. An dem langen Tisch, über den ein rotes Tuch gespannt ist, nehmen der Vorsitzende, die beiden Beisitzerinnen, der Sachverständige und der Schriftführer Platz, rechts der Verteidiger, links der Staatsanwalt. Aus den Aktenstücken verliest der Vorsitzende, daß Pawel Iwanowitsch Kysselow aus dem Jaroslawer Gouvernement, neunundzwanzig Jahre alt, nicht vorbestraft, angeklagt ist, die Krankheit seiner Frau verschuldet zu haben und hierdurch auch den Tod des Kindes und den daraufhin verübten Selbstmord der Frau.

Vorgerufen wird der Angeklagte, ein schwarzhaariger Mann von hoher Statur, sorgfältig ist sein Scheitel, schräg die dunkeln Augen gegen die Schläfen gezogen, hochgeschlossen sein Mantel. P. I. Kysselow gibt ruhig seine Personalien an, aber die Lippen pressen sich, wenn er ein Wort gesprochen hat, fest zusammen, was darauf hindeutet, daß er Aufregung bemeistern will. Es treten die Zeugen ein. Die würdige Matrone, das Spitzentuch um den Kopf geknüpft: Mutter der Toten. Eine blonde, lebhafte Frau: Hausgenossin des Ehepaares Kysselow. Ein Jugendfreund des Angeklagten, sanguinischen Typs. Die Hebamme, eine Rosa Valetti mit Brille. Rechtsbelehrung wird erteilt, die Zeugen unterschreiben einzeln die Präsenzliste, sie können nach der Verhandlung, wie ihnen der Vorsitzende mitteilt, im Zimmer 26 die Zeugengebühren ausbezahlt erhalten.

»Nein«, antwortet der Pawel Iwanowitsch auf die Frage, ob er sich schuldig bekenne. »Bestreiten Sie auch, daß Sie Ihre Frau 290 infiziert haben?« – »Nein, das bestreite ich nicht. Wenn die Ärzte es sagen, wird es wohl so sein.« – »Und warum haben Sie das getan?« – »Warum werde ich das getan haben? Absichtlich werde ich das nicht getan haben, wie Sie sich denken können«, erwidert der Angeklagte trotzig. Er wird zur Ordnung gerufen, er hat die Fragen nicht ironisch zu wiederholen, sondern zu beantworten. – »Wußten Sie nicht, Angeklagter, daß Sie krank sind?« – Nein, das wußte er nicht. Damals, als er sechzehn Jahre alt war, merkte er schon, daß er erkrankt sei, aber er hat nichts getan, um sich zu heilen. »Warum nicht?« – »Um zu einem Arzt zu gehen, fehlte mir das Geld, ich war Gymnasiast, und womöglich hätte mir der Doktor verordnet, wochenlang zu Hause zu liegen, dann konnten die Lehrer erfahren, was los ist, und ich wäre erbarmungslos ausgeschlossen worden.« – »War Ihnen nicht bekannt, daß es sich um eine leichte Infektion handelt, die sofort geheilt werden kann, jedoch, wenn man sie vernachlässigt, chronisch bleibt? Was wußten Sie über diese Krankheit?«

Der Gerichtshof, Verteidiger und Staatsanwalt, die wiederholt Zwischenfragen stellten, hatten die Krankheit nicht nur mit dem lateinischen Namen, sondern auch mit dem im Volke üblichen Ausdruck bezeichnet, und über die Art der Erwerbung ohne Rücksicht auf den mit Frauen besetzten Saal gleichfalls offen gesprochen, lautlos war das Publikum dem Prozeß gefolgt, aber da der Angeklagte jetzt darüber aussagt, was er von der Krankheit wußte, und hierbei drastische und vulgäre Worte gebraucht, brechen zwei, drei Frauen in hüstelndes Lachen aus. Der Vorsitzende schwingt die Glocke und verkündet, er werde, falls sich die Störung wiederholen sollte, unnachsichtlich den Saal räumen lassen.

Man traut ihm das ohne weiteres zu, sagt er das doch, die Stirnhaut faltend, mit ernster, lauter Stimme; das Auditorium zuckt zusammen – obwohl eigentlich jeder weiß, daß, wenn das Publikum jetzt den Saal verließe, das ganze Schauspiel vorzeitig zu Ende wäre. Denn es handelt sich gar nicht um eine wirkliche Gerichtsverhandlung, hier soll nicht Recht gesprochen, sondern Recht verbreitet und sanitäre Aufklärung gegeben werden, es ist 291 eine »inszenierte Gerichtsverhandlung«, die in Rußland jetzt allgemein übliche Art der Aufklärungspropaganda, wir sind in einem Versammlungssaal, und die heutige Vorstellung findet für Arbeiterinnen des Bezirkes statt; das nächste Mal wird sie für Männer wiederholt. Andere Stücke des Repertoires befassen sich mit Prostitution und Kuppelei, mit Tuberkulose und dergleichen, und sind Paradigmen wirklich vorgekommener Gerichtsverhandlungen; ein Akt aus Brieux' »Schiffbrüchigen«, nach russischen Gerichtsprotokollen adaptiert, wird gleichfalls manchmal vorgeführt. Einige der Szenen sind im Verlag des Volkskommissariats für Volksgesundheit gedruckt erschienen, die Schauspieler halten sich jedoch nicht durchaus an den Wortlaut. Alle Rollen, männliche und weibliche, werden von Ärzten des Dispensaires (des in jedem russischen Stadtbezirk eingerichteten Prophylaktoriums und Ambulatoriums gegen Ansteckung) dargestellt, nur die Hebamme, die wie Rosa Valetti mit Brille aussieht, von der Manipulantin jener Poliklinik.

Der Vorsitzende des Gerichtshofes hätte übrigens gar keine Veranlassung, den Saal zu räumen, denn die fieberhafte Aufregung schafft sich in keinem Ton mehr Luft. Die Mutter der Selbstmörderin, sichtlich noch unter dem Eindruck des Verlustes stehend, macht mit erkämpfter Fassung die Aussagen über die Liebe und die Ehe und den Tod ihrer Tochter, ihre Erregung wächst mit jedem Detail, das sie preisgeben muß, die Zwischenfragen des Verteidigers irritieren sie vollends und am Schluß stößt sie hervor, das Gericht müsse diesen Menschen einsperren, wenn es wirklich Gerechtigkeit üben wolle. Streng, doch den Schmerz der Mutter respektierend, weist der Vorsitzende sie zurecht: »Das Gericht hat immer Gerechtigkeit zu suchen, und Sie dürfen nicht vorschreiben, was es zu tun hat. Setzen Sie sich auf die Zeugenbank.« Die nächste Zeugin, die Hausgenossin und Vertraute der verstorbenen Frau Kysselow, erzählt über die Symptome vor und nach der Entbindung, von der Depression, die diese beim Tode ihres Kindes befiel, und schließlich davon, wie Frau Kysselow vom Arzt den Grund ihres Leidens erfuhr und sich erhängte. Der Jugendfreund des Angeklagten, von der Verteidigung als Zeuge geführt, ist bemüht, in heiterem Ton Kysselow zu 292 entlasten. Vor der Eheschließung habe Kysselow sich mit dem Zeugen beraten, ob seine Beschwerden kein Hindernis für Eheglück seien, schließlich habe er sogar fachmännischen Rat eingeholt und gehört, daß tausende Männer an ähnlichen Dingen laborieren und trotzdem gesunde Kinder haben. Allerdings muß der Zeuge zugeben (und der Angeklagte bestätigt es), der »fachmännische« Rat sei nicht von einem Arzt, sondern von einem Kurpfuscher gegeben worden, und auch das Charakterbild, das der Zeuge wider Willen entwirft, spricht nicht zugunsten des angeklagten Freundes. Dann kommt die Hebamme dran, die den Gerichtshof mit »Euer Hochwohlgeboren« und »Euere Vorzüglichkeit« tituliert, obgleich sie energisch belehrt wird, daß es in Rußland nur Genossen gäbe. Der Richter und der ärztliche Experte fragen sie über Geburt und Tod des Kindes aus, der Vorsitzende teilt mit, daß gegen die Zeugin bei einer anderen Kammer desselben Gerichtes das Verfahren wegen Vernachlässigung der pflichtgemäßen Obsorge und Verletzung der Anzeigepflicht schwebt.

Schon während der ersten Zeugenaussagen hatten Frauen im Auditorium etwas auf Papierchen geschrieben und diese Zettel dem Schriftführer auf das Podium gereicht, der sie gelesen und teils dem Vorsitzenden und den Beisitzern, teils dem ärztlichen Sachverständigen, teils den Vertretern der Anklage und der Verteidigung übergeben hat. Es sind Interpellationen, die behandelte Materie betreffend, und die Beantwortung wird nun von den Gerichtsfunktionären in Fragen an die Zeugen vorbereitet und in den Gutachten, Resümees und Plädoyers erteilt, weshalb ja das Ensemble aus Ärzten besteht.

Wenn die Reden beendet sind, die Schuldfragen verlesen, stimmt der ganze Saal ab: 1. Ist der Angeklagte Pawel Iwanowitsch Kysselow schuldig, seine Frau infiziert zu haben? 2. Ist der Angeklagte schuldig, hierdurch den Tod seines Kindes herbeigeführt zu haben? 3. Ist der Angeklagte schuldig, hierdurch den Selbstmord seiner Gattin herbeigeführt zu haben? 4. Verdient der Angeklagte mildernde Umstände? Die überwältigende Mehrheit hebt bei den ersten drei Fragen verdammend die Hand, und bloß bei der vierten Frage stimmen sie zugunsten Pawel 293 Iwanowitschs. (Ein Forum von Männern pflegt erfahrungsgemäß den Angeklagten nur im ersten Punkt schuldig zu sprechen.)

Der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück, der Sachverständige liest inzwischen jene Zettel vor, deren Beantwortung noch nicht im Verlaufe der Verhandlung erfolgt ist und die oft nur in losem Zusammenhang mit dem Substrat des Prozesses stehen. In längerer Rede, durch fragende Zurufe unterbrochen, gibt er die verlangten Aufklärungen und verweist auf die Institution der Dispensaires. – Der Gerichtshof tritt ein, atemlose Spannung herrscht, da er verkündet, der Angeklagte wird unter Zubilligung mildernder Umstände zu einem Jahr Gefängnis bedingt verurteilt und hat sich unverzüglich in die Behandlung des Dispensaires zu begeben.

Langsam leert sich der Saal, auch die Mitglieder des Gerichtshofes drängen zum Ausgang. Vor Pawel Iwanowitsch Kysselow weicht alles zurück, und es ist zu befürchten, daß keine Patientin des Dispensaires sich von ihm behandeln lassen werde.

 


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