Arthur Kahane
Tagebuch des Dramaturgen
Arthur Kahane

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Grete Wiesenthal

Ich wünschte, ich wüßte mehr Tatsachen. Tatsachen zeichnen besser als jede Lyrik. Aber ich habe alle Tatsachen vergessen, und mir ist nichts geblieben als die Lyrik des 206 ersten Eindrucks. Meine Erinnerung an Grete Wiesenthal hat sich ganz in Lyrik aufgelöst.

Es ist merkwürdig: vor dem Tanz wird alle Schriftstellerei gleich. Es fällt der besten Feder nichts Besseres ein als der schlechtesten. Es ist, als gäbe es nur einen Stil, in dem Schriftsteller über den Tanz schreiben können: sie versuchen selbst zu tanzen, wenigstens mit Worten. Aber leider sind Worte schwerfälliger als Beine.

Seit den Wiesenthals ist die Hochflut des Tanzes über die Welt hereingebrochen und eine Hochflut von Büchern über den Tanz, gelehrten und ekstatischen, historischen, metaphysischen, programmatischen und lyrischen, und eines schaut wie das andere aus, und um die Wörter: Elfe, Zauber, Wunder, Seele kommt keiner herum.

Aber man kann ja auch nichts anderes sagen als: wir erlebten ein Wunder, sie war eine Elfe, wenn sie tanzte, tanzte ihre Seele, und es ging ein unendlich süßer Zauber von ihr aus, der uns nie mehr losließ.

Max Reinhardt hat einmal – mir vielleicht das liebste seiner Regiewunder – Shakespeares »Wie es euch gefällt« inszeniert wie mit Zauberfingern, ganz unwirklich, ganz elfenleicht, ganz mozarten in Musik, Traum und Waldesnacht eingetaucht: ich glaube, er hätte die Rosalindenwelt nie so hinhauchen können, wenn er nicht vorher Grete Wiesenthal erlebt hätte.

Ein Dichter hat ein Gespräch über die Tänzerin geschrieben – warum soll ich seinen Namen nicht nennen, es ist der, der immer noch das beschwingteste Deutsch unserer Zeit schreibt, und heißt Hugo von Hofmannsthal: dieser 207 Dialog klingt wie ein von Mozart vertonter Plato. Er hätte ihn nie so schreiben können, wenn er nicht an Grete Wiesenthal gedacht hätte.

Mein historisches Gewissen mahnt mich: nicht von den Wiesenthals ging die Renaissance des Tanzes und die Überwindung des Ballets aus, die sich in den letzten dreißig Jahren vollzogen hat, von den Sisters Barrison an, denen auch bereits ein Dichter, Anton Lindner, ein Buch gewidmet hat, das mehr getanzt als geschrieben war, bis zu den Tiller-Girls: ich weiß, wie bahnbrechend die zähe Prophetennatur der armen Isadora Duncan gewirkt hat: ich erinnere mich an den Feuerzauber der Loie Fuller, an die exotisch elementare Wildheit der Saharet, an die männerbezwingende Otéro; ich weiß, um wie vieles technisch vollkommener die Russen tanzten, die einzige Pawlowa, Nijinski, Fokin, die Karsawina; und wie bedeutsam die transzendente Seelenkunst der Mary Wigmann ist; welche mystische Ausdrucksreiche durch Rhythmus und Linie Sent M'ahesa ahnen ließ; und ich unterlag wie alle dem spitzbübischen Eulenspiegelreiz des Wunderkindes Niddy Impekoven: ich spüre das ungeheure Zeitgefühl in der grotesken Phantasie der Valeska Gert und erinnere mich, wie sie, ganz jung und damals noch mit dem Willen zum Sprechtheater, in ihren Anfängen mir allein einmal in meinem Büro mit Grammophonbegleitung die Kleopatra und die Salome halb vorgesprochen und halb vorgetanzt hat. Alles das und vieles andere ist stark, schön und neu, revolutionär und tief und erzieherisch und weltanschaulich bedeutsam: aber wenn ich ans Tanzen denke, fällt mir nur die Grete Wiesenthal ein.

208 Kann sein, daß es die eingeborene Weltanschauung des Wieners ist: es gibt nur einen Tanz, und das ist der Walzer. Das Dionysische geschieht für den Wiener im Dreivierteltakt.

Natürlich sind wir erst später draufgekommen, daß unser Erlebnis ein dionysisches gewesen war. Damals, als wir Grete Wiesenthal mit ihren Schwestern zum erstenmal tanzen sahen, fiel uns das Wort noch nicht ein. Gar nichts fiel uns ein. Die tiefen, philosophischen Gedanken, die der Tanz der anderen Tänzerinnen auszulösen pflegt, blieben unausgelöst im Gehege unseres Unbewußtseins. Es waren nur alle, die dabei waren, mit einemmal ganz glücklich und ausgelassen heiter, die ältesten Herren hatten ein junges Glück in den Augen und einige Damen, die sonst gar nicht so sind, rutschten plötzlich und unmotiviert, quietschvergnügt quietschend das Treppengeländer hinunter. Die seligen Wesendoncks, in deren würdigem Patrizierhause sich der Elfenspuk abspielte, drehten sich entrüstet in ihrem Grabe um, wenn sie es nicht vorzogen, unsichtbar mitzutun und den Tristanwalzer zu pfeifen.

Keiner von uns allen wird diese erste Begegnung mit der Tänzerin Grete Wiesenthal vergessen.

Gesprochen hatten wir auch schon vorher mit ihr und sie war auch im Gespräch nicht bloß bezaubernd, sondern ein ganz aparter und origineller Mensch kam heraus, produktiv und reich an Einfällen, witzig und grundgescheit, dabei ganz einfach und natürlich und doch nicht eben durchsichtig und nicht ohne eine scharmante Bosheit. Wir wußten schon, daß ihr etwas total mißfiel, wenn sie mit einem seelenvollen Augenaufschlag ihr: »Aus–ge–zeich–net!« sagte und die 209 Silben begeistert auseinanderzog. Nein, unkritisch war sie nicht, dieses scheinbar einfache Volkskind hatte das verfeinertste Abwehrgefühl gegen alles Unkünstlerische und bloß Gefällige mit dem natürlichen Instinkt für das Hohe und Reine. Aber erst im Tanze öffnete sich diese im Grunde schamhafte Seele und der eigentlichen Grete Wiesenthal sind wir erst begegnet, als wir sie tanzen sahen.

Wie ein Gruß der Heimat war die Tanzprinzessin mit ihren anmutigen Schwestern zu uns gekommen, von Dichtern verkündigt, von einem Hofstaat junger Maler bedient, die für sie zarteste Kostümgebilde dichteten, ganz jung, schlank, in einer unbeschreiblichen mädchenhaften Schönheit und Lieblichkeit, und legte ihr Berliner Schicksal vertrauensvoll in die Hände Max Reinhardts, in dessen so leicht angeregter Phantasie sich sofort eine Fülle neuer Visionen und Ideen entzündete. Vieles davon ist später Wirklichkeit geworden, unter anderem auch die orientalische Pantomime »Sumurun«. Zuerst aber führte er die Schwestern einem kleinen Kreis naher Freunde vor, eben in dem damals von ihm bewohnten Wesendonckschen Hause in den Zelten.

Die Wiesenthals tanzten Chopin. Sie tanzten Beethoven. Sie tanzten Schubert. Und Grete Wiesenthal tanzte den klassischen Straußwalzer »An der schönen blauen Donau«.

Aber im Grunde war alles, was sie tanzten, Walzer und Wien.

Wo gibt es noch eine Stadt, deren Seele so singt und tanzt! Wo gibt es noch eine Stadt, die so wünschen, so träumen, so küssen und so schweben kann? Wo gibt es noch eine Stadt, der für ihr Träumen und verliebtes 210 Wünschen ein so leichter, ein so natürlich unmittelbarer, ein so beschwingter Ausdruck geschenkt ist!

Kann das je aufhören?

Arme Generation, die den Walzer nicht mehr kennt! Und wer kennt den Walzer, der ihn nicht von Grete Wiesenthal hat tanzen sehen!

Wer Grete Wiesenthal begegnet ist, der ist der liebenswürdigen Seele der Stadt Wien begegnet.

 


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