Arthur Kahane
Tagebuch des Dramaturgen
Arthur Kahane

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Edvard Munch

I

Es kam nicht alle Tage vor, daß Harald Harfagr unter den Direktionsmitgliedern und den Schauspielern des Deutschen Theaters auftauchte. »Skaal!« sagte mein Kollege Felix Hollaender, aber auch das genügte noch nicht, um alle Unterschiede völlig zu verwischen.

Unser Wikingerkönig, Harald Harfagr gleich an Wuchs, an Blitz des Auges, an kühnem Schnitt des Gesichts, an Wesen und stolzer, einsamer Haltung, hieß eigentlich Edvard Munch. Und wenn einst der letzte Skalde von jenem sagenhaften Norweger nicht mehr zu singen und zu sagen wissen wird, der Glanz des Namens Edvard Munch wird den Ruhm seines Vaterlandes über die Länder und durch die Jahrhunderte tragen.

Es gab damals schon einige unter uns, die wußten, welcher König in unserer Mitte wandelte. Aber es waren 150 nur wenige. Die anderen lächelten über sein einsilbiges Sonderlingsgebaren oder lachten gar, wenn sie seine Bilder sahen. Diese Bilder, die ein so einzigartig zu ihm gehöriger Ausdruck seiner einzigartigen Persönlichkeit waren, daß sie sich in keiner der damals herrschenden Schulen und Kategorien unterbringen ließen.

Es ist nicht zu schildern, welche unbegreifliche Wut diese Bilder erregten. Ich möchte ein Beispiel für viele erzählen. Damals lebte noch, von allen geliebt, ein kleines, schlichtes und stilles Männchen am Deutschen Theater, Gustav Knina mit Namen, ein zartes und unscheinbares Kerlchen, putzig anzuschauen, aus tausend genialen und tausend schnurrigen Zügen wunderlich gemischt, wie aus einem E. Th. A. Hoffmannschen Märchen in diese aufgeregte Theatergegenwart hineingeweht, ein Tausendkünstler und Zauberer, ein Bastler und Tüftler, der alles probierte und alles verstand, mit Zauberfingern, die alles konnten, und des übrigen eine Seele von Mensch, das reinste, sauberste, harmloseste und selbstloseste Kindergemüt. Er war ursprünglich Elektrotechniker gewesen, hatte sich aber in alle Materien des theatertechnischen Betriebes hineingearbeitet und war schließlich so unentbehrlich geworden, daß ohne ihn keine Bühne und kein Büro eingerichtet, keine Dekoration und kein Interieur fertiggestellt wurde, wenn auch sein Name immer bescheiden im Winkel der Anonymität blieb. Er war voll von Einfällen und Erfindungen, die allerdings nie rechtzeitig fertig wurden, was ihn nur wenig genierte: der einzige, der ruhig blieb, wenn's noch so toll um ihn herging, ließ er sich vom rasenden Theatertempo nicht 151 anstecken und nicht mitreißen, sondern schien es kühl und gelassen zu ignorieren, als wäre er völlig gleichgültig und abgestumpft dagegen. Schließlich hat's ihn doch aufgefressen.

Und dieser stille und schüchterne Mensch wurde förmlich rabiat, wenn die Rede auf Munchs Bilder kam. Vor der elementaren Kraft dieser Kunst versagte der sonst so feine, sichere, ja untrügliche Geschmack, zu dem er sich allmählich gebracht hatte. Er hielt uns, die wir an Munch glaubten, für betrogene Selbstbetrüger. »Wenn das Kunst sein soll, dann bin ich auch ein Künstler,« spottete er; »so viel kann ich auch!« Und dann kritzelte er schnell etwas hin, was ja auch ganz nett war, aber Munch war es doch nicht, darin täuschte sich unser lieber Knina.

Der Zufall aber wollte, daß die beiden fortwährend gemeinsam zu arbeiten hatten. Sie bildeten zusammen ein drolliges Gespann, der nordische Riese und das fast gnomenhaft kleine Männchen, und sie vertrugen sich auch in ihrer wortkargen Sachlichkeit ganz gut miteinander, ohne daß einer eine Ahnung zu haben brauchte, was in dem andern vorging. Ja, Munch schien den unermüdlichen Helfer mit den lebhaften Äuglein, dem schweigsamen Mund und den geschickten Händen geradezu liebgewonnen zu haben.

Mir ging es merkwürdig mit Munch. Es ist eine alte Gewohnheit von mir, der ich immer wieder unterliege, daß ich bei gewissen Malern, die ich liebe, unwillkürlich an gewisse Dichter, die ich liebe, denken muß, und umgekehrt; und es kommt vor, daß sich beide Gestalten in meinem Gefühl fast bis zur Identität mischen, so unlösbar miteinander verbinden, daß sie mir zu einer werden. So kann 152 ich mir nie van Gogh vorstellen, ohne daß sich mir das Bild Verlaines aufdrängt: der arme Vincent, der arme Lelian bedeuten mir eine Not und ein Schicksal, eine Frömmigkeit und eine Demut. So ging es mir auch mit Munch und Knut Hamsun. Ich war mit den Büchern Hamsuns, in dem ich den größten Dichter unserer Zeit sah und sehe, seit lange vertraut, und darum wurde ich es sofort mit den Bildern Munchs, war sofort in seinem Werke heimisch. Die wunderbare Seelenwanderung der gleichzeitig Lebenden, wie begriff ich sie bei diesen beiden! War es nicht die gleiche leidenschaftliche Durchdringung der geliebten Wirklichkeit bis auf den letzten Grund ihrer Seele und das gleiche sie in Phantastik Auflösenmüssen durch den gleichen Zwang einer fast schmerzlichen Schamhaftigkeit des Gefühls? Das sich um Gottes willen nicht in seiner Nacktheit überraschen lassen konnte und für das die Flucht in seine notwendige Form tiefstes Gebot der Seele bedeutete. Wo gab es noch eine Kunst als bei diesen beiden, die so hautlos persönlichkeitnah und zugleich in ihrer Form so selbstverständliche, organisch gewachsene Notwendigkeit war?

Und natürlich sah ich den ganzen Menschen in seinem täglichen Gehaben unwillkürlich genau so, wie ich seine Kunst sah.

II

Eigentlich hätte ich vorher erzählen müssen, wie Munch zu Reinhardt und ans Deutsche Theater kam. Aber es ist lange her, und ich kann mich nur noch an die Hauptsachen 153 erinnern. Das Haus der Kammerspiele war eben fertiggestellt, in nächtelangen Unterredungen die noch schwierigere Bildung des Namens endlich vollzogen, dem damals noch kein Mensch voraussagte, wie bald er sich dem Bestande des deutschen Sprachschatzes einbürgern würde, und man stand vor der feierlichen Eröffnung. Als Eröffnungsstück hatte man nach sorgfältiger Überlegung Ibsens »Gespenster«-Drama gewählt, das mit seiner psychischen Konzentration im Gegeneinander seiner fünf Figuren die beste Gelegenheit zu schauspielerischer Kammermusik, zu einem Quintett fünf erlesener Instrumente bot. Die Besetzung stand fest: die Sorma, Moissi, die Höflich, Reinhardt und Kayßler. Der Maler fehlte: nach Reinhardts Prinzip, für jedes Stück nicht bloß den besten, sondern den einzig möglichen zu finden, kam nur Edvard Munch in Frage. Es war schwer, den Eigensinnigen zu gewinnen; es gelang schließlich durch die Möglichkeit, der kein Malergemüt widerstehen könnte, ihm einen Raum in den Kammerspielen, den Festsaal im ersten Stock, zur Ausmalung nach Herzenslust zu überlassen. So entstand, als herrliches Nebenprodukt jenes »Gespenster«-Auftrags, die Bilderreihe. die später unter dem Namen »Reinhardt-Fries« berühmt wurde. Für die »Gespenster«-Aufführung machte er nicht, wie die anderen Maler, Dekorationsentwürfe und Figurinen, sondern malte zwei oder drei Bilder, die Situationen des Stückes darstellten. Aber ich habe Reinhardt hundertmal versichern hören, daß er von keinem Maler so starke und befruchtende Stimmungsanregungen empfangen habe, wie von diesen Munchschen Bildern. Und es gelang 154 Reinhardt in jener denkwürdigen Aufführung lückenlos, die unbeschreiblich eindringliche Haltung und Stimmung der Malervision in die Wirklichkeit der Bühne umzusetzen.

Übrigens hat Munch auch später noch einmal für eine Ibsen-Aufführung der »Kammerspiele« den dekorativen Teil übernommen: für eine »Hedda Gabler«-Inszenierung, bei der Hermann Bahr Regie führte. Ich erinnere mich, daß Munch damals unter anderem für die Tochter des Generals Gabler sehr wirksam und richtig ein Interieur aus wundervollen alten echten norwegischen Bauernmöbeln zusammenstellte, die er selbst in Norwegen für uns aussuchte und aufkaufte. Als sie in Berlin ankamen, stellte sich allerdings heraus, daß die echten alten norwegischen Bauernmöbel eine verdammte Ähnlichkeit mit vielem hatten, was damals in Deutschland unter dem Namen Jugendstil grassierte. Und da man nicht annehmen konnte, daß die Altvorderen uralter norwegischer Bauerngeschlechter die Formen und die Farben ihres Hausrats in München gestohlen haben, wird's wohl umgekehrt gewesen sein, was der Völkerkunde zu denken geben sollte. Immerhin, als Munch die letzte Hand ans Werk legte, standen die Dinge prächtig im Raume, und Frau Hedda Tesman war um ihre Diele zu beneiden.

III

Kehren wir aber zu den »Gespenstern« zurück.

So war also Edvard Munch täglich im Deutschen Theater, lebte mitten unter uns, arbeitete des Tags und trank des Nachts und malte abwechselnd an den 155 »Gespenster«-Bildern und an seinem Zyklus. Manchmal saß er auch lange, lange ganz still und unbeweglich in meinem Büro da, ganz ernst, sprach fast nichts und mit niemandem, schien nichts zu sehen und zu hören, was um ihn geschah, schien tief in sich versunken und nichts rührte sich in seinem Gesicht: was ging hinter diesen ehernen Zügen vor? Was arbeitete hinter dieser seltsamen, ehernen Stirn? Und dann genügte ein kleiner Anlaß, und er wachte auf und wurde ganz hell und lachte: ein einfaches, heiteres Kinderlachen, mit den Augen, mit den Mundwinkeln, übers ganze Gesicht. Sein Wesen war immer gleichmäßig freundlich und doch irgendwie zugeknöpft, nordisch steif, verschlossen und undurchsichtig. Er blieb der fremde Mann, blieb uns das Rätsel. Er hatte etwas vom Kinde und vom Wilden, eine fast animalische Primitivität; eine parzivalhafte Unschuld. Und dann wieder diese ungeheure Kompliziertheit, dieses Wissen um tiefste Geheimnisse. Man brauchte nur die Bilder zu sehen: wo gab es noch einen, der so ganz Mann war, das Weib zu erleben und am Weibe zu leiden? Er war manchmal von einem lächerlichen Eigensinn, schaute nicht, hörte nicht nach rechts noch links, blieb ungerührt, unbeirrt von Lob und Tadel; aber hinter diesem Eigensinn steckte ein titanisch eiserner, sich seines Weges somnambul bewußter Wille. Und ein Wille zur Freiheit, der alle Grenzen der Gesellschaft zu sprengen schien, wie er nur in einer letzten wirklichen Einsamkeit hatte geboren werden und wachsen können.

Dieser Munch war schon ein seltsamer erratischer Block im Strudel des Theaterbetriebs. 156

IV

Wir feierten den Triumph der »Gespenster«-Aufführung in größerer Gesellschaft bei Borchardt. Ich saß am unteren Ende der Tafel zwischen Munch und Gordon Craig, dem englischen Maler, Theaterreformator und damals noch jungen Sohne der Ellen Terry. Auch er ein blonder, schlanker Hüne vom Siegfriedtyp. Da Munch nicht englisch sprach oder sprechen wollte, Craig natürlich von Norwegisch noch viel weniger Ahnung hatte, vollzog sich die ein wenig stotternde Unterhaltung auf dem Rücken der geduldigen deutschen Sprache. Es war ein köstliches Deutsch, das mir zu hören vergönnt war. Gordon Craig ließ sich aber durch die fremde Sprache nicht behindern, in seiner immer ein wenig aggressiven und britisch weltbeherrschenden Weise zu bemerken: »Ich habe gesehen in Stockholm eine Ausstellung von Ihre besten Maler. Alle Bilder, die ich habe gesehen von Ihre besten Maler, waren sehr schlecht. Die besten Bilder von diese schlechten Bilder waren von Strindberg.« Worauf Munch lakonisch erwiderte: »Das freut mich. Denn wenn Strindberg ist unser bester Maler, dann werde ich sein unser bester Dichter.«

V

Dann sprach man von Oscar Wilde und seinen letzten Lebenstagen in Paris. Plötzlich sagte Munch: »Ich habe ihn gesehen in Paris.« »Um Gottes willen, so erzählen Sie doch!« schrie ich ganz aufgeregt. »Wie lebte er? Wie war er? Wie sah er aus?« Und Munch antwortete: »So«, nahm einen Fetzen Papier und zeichnete mit zwei 157 Bleistiftstrichen einen Rücken darauf, so beredt, so traurig, so trostlos, so gebeugt und beladen, als wäre der ganze Jammer der Menschheit diesem einen Rücken aufgebürdet.

Er schenkte mir das Blättchen, und dieser Papierfetzen, mit dem Rücken Oscar Wildes, von Edvard Munch gezeichnet, ist noch heute mein stolzester Besitz.

 


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