Arthur Kahane
Tagebuch des Dramaturgen
Arthur Kahane

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Theater im Tageslicht

I

Es ist nicht wahr: das Theater ist nicht erledigt, wird nie erledigt sein. Auf dieses seltsame Wundergebilde, in dem Schein und Wirklichkeit zu einer neuen Einheit zusammenfließen, auf diese bessere Miniaturausgabe und Wiederholung des Weltganzen, die sie sich aus holder Lüge und einer tieferen Wahrheit, als es alle Wahrheit der Wirklichkeit ist, schöpferisch gebaut hat, wird die Kultur nie wieder verzichten. Sie braucht das unvergängliche Gleichnis der Vergänglichkeit, das Theater heißt, um in ihm Schicksal und Gesetz des Lebens zu lesen, das Chaos der Zeit gespiegelt, entwirrt und gedeutet zu haben. Längst nicht mehr Luxus, ist es Notwendigkeit geworden, Diener und Vollstrecker der Notwendigkeit, Notwendigkeit sein Gehalt, Notwendigkeit seine Entwicklung; Notwendigkeit bis in die 95 absurdesten Späße seiner spielerischen Formen und verspielten Abarten. Es wird nur scheinbar von außen, von Absicht und Willkür gemacht, es macht sich von selbst. Es wird sein, es ist. Es ist so, wie es ist, und kann nicht anders sein. In einem ewigen Flusse und Formenwechsel zieht es seine stärkste Kraft aus diesem So-Sein. So paradox es klingt: es hat etwas von Naturkraft innerhalb der Kultur. Darum der magische Reiz, der von ihm ausgeht und lockt. Nicht bloß das Allgemeine der Kultur: unser individuelles Leben, unsere äußere und innere Existenz wären anders, wenn man das Theater daraus wegdenken müßte. Aber es läßt sich nicht wegdenken. Das Theater ist ewig.

Seine fortwirkende Kraft währt ewig, sein eigentliches Leben drei Stunden. Rätselhafte Macht einer in drei kurze Abendstunden zusammengepreßten Falter- und Flitterherrlichkeit! Seine Schönheit benötigt – wie die gewisser Frauen – den Abend und sein künstliches Licht. Festglanz der Abendstunde, den Feierabend braucht es. Da vollendet es sich erst. Erwartung starrt fasziniert auf den Vorhang, hinter dem sich das Bild zu Saïs verbirgt. Erst wenn auf das dritte Gebot der Zauberglocke der große Lüster über dem Zuschauerraum erlischt und mit einem Schlage die Rampenlichter aufleuchten, beginnt sein Leben sich zu entfalten, langsam, zögernd erst, sich aufrollend, im wechselnden Spiel von Hell und Dunkel, der Farben und Schatten, und strahlt auf unter der Flut von Licht, die sich von allen Seiten darüber ergießt, von vorn und hinten, von oben und von den Seiten, aus der Fuß- und der Oberrampe, vom Kulissenapparat und aus den Scheinwerfern. Im magischen 96 Bann dieses künstlichen Lichts sehen die da unten eine zweite Wirklichkeit, die Wirklichkeit ihrer Könige und Helden, der Guten und der Bösen, der Männer und Frauen und alle Torheit und Weisheit der Liebe in allen ihren süßen und närrischen Formen. Sie sehen wirkliche Menschen, nur schöner, besser, größer, stärker, böser, leidenschaftlicher, deutlicher, näher an Gott und Tier. Sie sehen das Ringen der Persönlichkeit, die dunklen und doch unbeirrten Wege des Schicksals, und sie sehen den Zusammenhang der Dinge. Und durch den ganzen Betrug gestalteter Wahrheit hindurch finden sie im entschleierten Bilde zu Saïs – sich selbst. Im abendlich festlichen Spiele – Spiegel und Abbild ihres Lebens, alles Lebens.

II

Tagsüber liegt das Haus zwischen anderen Häusern, wie andere Häuser, nüchtern, grau und hat ein Werktagsgesicht, und es ist ein unaufhörliches Kommen und Gehen von Leuten. Manche, zumal unter den Frauen, sehen wohl ein wenig absonderlich aus, und es braucht nicht einmal ein geübtes Auge, sie von Bürgern zu unterscheiden. Sie wissen das auch und unterstreichen es wohl auch ein kleines, aber es ist ihnen nicht recht, wenn es andere zu bemerken scheinen. Schon in Hof und Vorhalle ein unruhiges Hin und Her lauter und lebhafter Menschen, die sich gerne sprechen und lachen hören, mit bewegtem Mienenspiel und entschiedenen Gesten, und die den Mut zu ihren Armen und Beinen haben.

Und siehe! dasselbe Haus, dazu bestimmt, im abendlichen Festglanz auf der Bühne ein Ab- und Spiegelbild des 97 Lebens vorzutäuschen, wird, ohne Willen und Absicht, in der unbarmherzigen und nüchternen Beleuchtung des Tages, in allen seinen Gängen und Korridoren, auf den Treppen, in den Büros und Arbeitsräumen selbst zum Bild des Lebens, zu einem vollkommenen, lückenlosen und unretouchierten Ausschnitt, in dem sich das ganze Leben des Draußen mit allen seinen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten wiederholt. Nur, daß die Schauspieler nicht mehr die freiwilligen Akteure ihrer Rollen sind, sondern unfreiwillig, fast unwissentlich die Rolle selbst.

Alle Situationen, Beziehungen und Konflikte, Erregungen und Leidenschaften finden sich hier wieder, nur stärker, heftiger und deutlicher, nur unverhüllter, hemmungsloser und unbeherrschter als draußen im bürgerlichen Leben.

Es gibt keine menschliche Schwäche, die hier nicht vorkommt. Aber vielleicht auch keine menschliche Tugend. Und beides bleibt nicht latent, versteckt sich nicht: der unaufhörliche Kampf aller gegen alle lockt unwiderstehlich Schwächen und Stärken ans Tageslicht.

Schauspieler sind nicht eitler und nicht ehrgeiziger als andere Menschen eben auch. Nur ist ihnen Eitelkeit und Ehrgeiz wesentlicher, für die Existenz entscheidender als anderen. Und wenn sie eitel sind, dann spielen sie einem auch, unaufgefordert, die ganze Komödie ihrer Eitelkeit bis zum Totlachen vor. Und wenn sie ehrgeizig sind, erleben sie ihren Ehrgeiz gleich als Tragödie, in anderen Dimensionen als andere. Und nicht gerade ohne Zeugen.

Es gibt viel Liebe und viel Haß in der Welt. Es hat den Anschein, als ob es nirgends so viel Liebe und so viel 98 Haß gäbe als in diesem Hause. Wer schämt sich hier, beides zu zeigen? In diesem Punkte sind wir eine enge Gemeinde, in der eins kein Geheimnis vor dem andern hat. Nicht einmal das eigene, geschweige das der anderen. Wo fließt die Beichte, selbst des Intimsten und Delikatesten, so leicht von den Lippen wie hier! Natürlich nur immer dem Einen, Auserwählten zu, der gerade da ist. Es gibt viel zu beichten.

Und doch gibt's auch unter ihnen Schüchterne, Schamhafte, Verschlossene, mit schweren Herzen und schweren Zungen. Aber seltsam! auch denen ist ihre Schamhaftigkeit deutlicher anzumerken als den anderen, ist repräsentativer, ihre Stummheit ist beredter. Man hat die Zuversicht, daß sie wenigstens des Abends, auf der Bühne, ihre Ventile finden wird.

In diesem Hause herrscht, unter Tags, die Atmosphäre des gereckten Willens. Fast jeder, der es betritt, will etwas, will eine Rolle spielen, will zu Wort kommen, vorsprechen, eine Empfehlung, Gagenerhöhung, Urlaub, Vorschuß, kommt mit einer Bitte, einem Anspruch, einer Forderung. Und ist darauf gefaßt, einem Willen, einem Anspruch, einer Ablehnung zu begegnen. Er hängt die Ellenbogen ein: ohne Kampf wird's fast nie abgehen. Theater ist Kampf. Wie am Abend: auf der Bühne im Drama: der Kampf zwischen dem Ich und dem Schicksal; zwischen Bühne und Zuschauerraum: Kampf zwischen Kunstwerk und Publikum: so vormittags: Kampf zwischen Direktion und Mitgliedern, zwischen Regie und Schauspielern, zwischen den Schauspielern untereinander, zwischen Theater und 99 Autoren. (Ist's im Leben anders? In Politik; Presse; Wirtschaft? Zwischen den friedlichen Künstlern untereinander; zwischen den friedlichen Gelehrten untereinander; zwischen Frauen untereinander? Und schließlich die Ehe . . .?)

Da ist's kein Wunder, wenn im Theater, wie im Daseinskampf, sich die Kämpfereigenschaften auf Kosten der anderen, milderen entwickeln. Selbstsucht und Selbstbesessenheit: wenn einer wartet, bis die anderen seiner denken, kann er lange warten; wenn die anderen ihn nicht loben, muß er's eben selbst. Neid und Rivalität: wie soll er sich über den Erfolg des Fachkollegen selbstlos freuen? Kriegt er ihn doch sofort am eigenen Leibe zu spüren: Rollenentgang, Sinken des Marktwertes; der Erfolg des Fachkollegen (»Fachfaller« nennt ihn der Bühnenwitz) ist sein persönlicher Mißerfolg; jeder Erfolg des einen ist der Mißerfolg aller andern; gefährdet die Unizität ihrer Erscheinung, ihrer Beliebtheit. Machtgier und Herrschgier: wie sollten sie in einer Atmosphäre nicht gedeihen, in der Wille und Einfluß so schicksalsentscheidend und bestimmend wirken, in der die am leichtesten zu beeinflussenden Menschen es so verführerisch nahelegen, nach Einfluß zu trachten und Einfluß zu üben! Und Geldgier: wenn Geld die ganze Welt beherrscht, warum sollte es diese Welt nicht beherrschen, in der so oft die Höhe der Gage die Höhe der Geltung bestimmt?

Alle Laster, die es draußen gibt, finden sich, mit allem Guten und sehr Guten bunt gemischt, auch hier. Vielleicht ist es die Atmosphäre, die, mit Spannungen geladen, diese Menschen widerstandslos macht gegen jede Versuchung und Verführung des Augenblicks, dem sie leben und von dem 100 sie nichts verlangen als Intensität. Aber auch ihre Laster haben den Charme einer ahnungslosen Naivität. Sie bleiben immer die großen Kinder, die an sich nichts sind und nur darauf warten, vom Leben mit Inhalten, gleichviel welchen, überschüttet zu werden, gleich leeren Gefäßen, die gefüllt werden sollen. Frühreife und wohl auch ein wenig verdorbene Kinder, sehr nervöse, sogar neurasthenische und darum jeder Hypochondrie leicht anfällig. Wie die meisten Kinder sind sie oft verlogen, aus reiner Freude an der Kunst des Lügens, die ihnen so leicht wird, und weil sie die Verblüffung der Wirkung lieben: Zahlen, die im Theater genannt werden, stimmen selten, übertreiben fast immer. Immer mißtrauisch, immer in Erregung, pflegen sie ihren geschäftlichen Unterredungen gern die gesellschaftliche Form des Krachs zu geben, aber man darf ihre Kräche nicht allzu ernst nehmen: so locker ihnen das heftige Wort in der Kehle sitzt, so rasch sie es parat haben, so rasch verfliegt es auch wieder. Man schlägt und verträgt sich nirgends so leicht und nirgends so oft wie am Theater. Und ist der dramatischen Form des Kampfes treu geblieben.

Es geht hier genau so zu wie in der Politik. Cliquen, Anticliquen, Strömungen, Gegenströmungen. Man vergißt auch hier, daß der Parteienkampf nur das Mittel ist, dem Ganzen zu dienen, und der Kampf wird Selbstzweck; frißt Zeit und Nerven und Kräfte auf, die dem Eigentlichen, der künstlerischen Arbeit entzogen werden. Regierung und Regierte: wie die Regierungen vergessen, daß sie um der Regierten willen da sind, vergißt das Büro mitunter, daß des Theaters Zentrum die Bühne ist, deren Arbeit 101 vorzubereiten, aufzubauen und zu ermöglichen sein Existenzsinn ist, und wird sich aus dem bloßen Mittel zum Selbstzweck. Und die Bühne rächt sich, indem sie auf den grünen Tisch schimpft, dessen Leistung sie weder zu übersehen noch zu verstehen vermag. Und wie in der Politik erhebt sich das wirtschaftliche Gespenst, wird immer stärker, präpotenter und brutaler, verdrängt alle Ideologien und Erwägungen und bringt das künstlerische Gewissen zum Schweigen mit dem ewigen Kehrreim seiner Dawesfrage: wer zahlt die Reparationskosten?

Der sanguinische Schauspieler aber verschiebt in wienerischem Fatalismus alles »auf d' Nacht«, tröstet sich skeptisch: »am Theater kommt ja doch alles anders«, und lächelt resigniert: »Wie's auch wird, um half elf ist's aus.«

III

Das Theater spielt abends ein Drama: vormittags ist es eins. Ein richtiges, richtig nach den alten Regeln gebautes, mit Exposition, Verwicklung, Höhepunkt, Peripetie, Entwirrung; mit Spannung, Entladung, Entspannung; mit Helden, Gegenspielern und Episoden. Auch der Intrigant fehlt nicht.

Die Schauspieler aber, die abends die Rollen spielen, sind vormittags selber die Rollen. Es sind, in jedem Sinne des Wortes, undankbare Rollen.

Das Stück läßt sich zunächst friedlich an wie ein bürgerliches Lustspiel. Ein behagliches Milieu mit heiterer Atmosphäre. Es ist immer einer da, der die Witze macht. (Je nach dem Geschäftsgang der Direktor oder der 102 Bürodiener.) Kein Mensch ahnt Schicksalsnähe und Gewitterdrohung.

Man kommt um zehn Uhr morgens ins Theater. Man hat in langer Nachtsitzung (nach vielen anderen langen Nachtsitzungen) in mühsamer, nur mit komplizierter Algebra bewältigter gemeinsamer Kopfarbeit alles für den folgenden Tag vorbereitet: die Proben eingeteilt, daß keine die andere störe, die Schauspieler verständigt, die Rollenbesetzung des Abends in Ordnung gebracht, den Wochenspielplan mit allen Besetzungen der einzelnen Tage ausgearbeitet, die nächsten Stücke ausgewählt, vordisponiert und zueinander passend besetzt und ist dann mit dem beruhigten Gefühl, gute Arbeit getan zu haben, auseinander und nach Hause gegangen: nun kann nichts mehr passieren. Nun ist man wieder beisammen. Noch hält das beruhigte Gefühl an. Das Haus liegt so friedlich und vertrauenerweckend in der Morgensonne da. (Und wenn es regnet oder schneit, sind die Büros so behaglich warm geheizt.) Alles ist noch so still und ordentlich und unberührt: ein Idyll.

Und nun kommt es, ganz langsam und allmählich und zögernd erst, wie in jeder guten Exposition, eine Absage erst, und dann die zweite, und dann Schlag auf Schlag, der eine Schauspieler ist erkrankt, und der zweite kann wegen Filmens nicht zur Probe kommen, und der dritte gibt die Rolle zurück, und von der Bühne wird herauftelephoniert, die Probe könne nicht anfangen, weil überhaupt niemand da sei, und der Regisseur erscheint und lehnt den vierten wegen Unfähigkeit ab, und jedes Telephongespräch – wenn es zustande kommt, die wichtigsten 103 kommen nie zustande oder lassen Ewigkeiten auf sich warten – bringt eine neue Absage und jeder Brief bringt Unangenehmes, das Stück, mit dem man als nächstem gerechnet hat, gehört einer anderen Direktion, und jener Prominente, mit dem man gerechnet hat, filmt zurzeit in Sizilien, und die Unterhandlung mit der weiblichen Hauptkraft, auf die man gerechnet hat, zerschlägt sich an der Gage, und die Kasse ruft an und wünscht eine Änderung des Spielplans, weil kein Mensch ein Billett kauft, und auf einmal – allen stockt der Atem: die Hauptdarstellerin der Abendvorstellung sagt ab: sie hat keinen Ton in der Kehle, sie kann abends nicht spielen.

Natürlich wird sofort der Arzt alarmiert und hinbeordert; der Arzt ist nicht zu erreichen, und erst, als man schon den zweiten Arzt informiert hat, meldet sich der erste und tritt die Mission an, während man in alle Himmelsrichtungen telephoniert, um eine Ersatzdarstellerin zu finden, die nirgends zu finden ist, so daß man sich bereits entschließt, die Abendvorstellung abzuändern, was eine Reihe von Umbesetzungen zur Folge hat (von denen hoffentlich keine vergessen wurde), zu denen man alle Beteiligten zusammenzuziehen beginnt, als sich plötzlich eine Ehrgeizige findet, die die Rolle des Abends mit einer Probe zu übernehmen die Courage hat, wozu nun neuerdings alle Beteiligten zusammengetrommelt werden müssen, woraufhin die Betreffende es sich meistens überlegt und ihr übereiltes Anerbieten zurückzieht.

Und nun hat es einen Augenblick lang den Anschein, als ob alles auf dem Kopf stünde: alle Dispositionen sind 104 über den Haufen gerannt und keine Probe kann stattfinden, und die Abendvorstellung kann nicht stattfinden, und es kann überhaupt nie wieder eine Abendvorstellung stattfinden. Die Aufregung erreicht ihren Höhepunkt. Die Damen des Büros verlieren die Fassung und drohen jeden Moment in Weinkrämpfe zu verfallen; die Kiebitze, die herumstehen und hören, halten es für angebracht, zu erklären, dieses sei ein Narrenhaus. Und diesen Augenblick suchen sich – was dem Faß den Boden einschlägt – die Episoden aus, um aufzutreten: ein Autor, der durchaus seinen »Kaiser Domitianus« einreichen und die Entscheidung bis morgen haben will; ein jugendlicher Held von auswärts, der vorsprechen möchte, aber sofort, da er noch heute nach Neuruppin zurück muß; ein Herr, der den Direktor persönlich sprechen muß, weil er ihn fragen will, wer 1914 die Entwürfe zur Dekoration von »Kabale und Liebe« gemacht hat; ein anderer, der ihn über seine nächstjährigen Pläne zu befragen gedenkt. Und Freikarten, Freikarten, Freikarten! Es gibt gar nicht so viele Plätze im Theater, wie gerade in solchen Augenblicken begehrt werden.

Und während nun endlich einer den glücklichen Mut findet, die allgemein aufs höchste gestiegene Spannung in einem plötzlichen Wutausspruch zu entladen, der sich natürlich über den Unschuldigsten ergießt, kommt die Nachricht, daß die Hauptdarstellerin sich erholt hat und spielen kann. Alles atmet auf.

Und nun ist der Höhepunkt überschritten und die Peripetie setzt ein. Die Pechserie ebbt ab. Die Abendvorstellung 105 findet statt. Die Proben sind im Gange; allmählich haben sich alle Darsteller eingefunden. Es war ein Irrtum (oder ein Geschäftskniff) des Verlegers: das gewünschte Stück ist nicht vergeben. Der Prominente wird rechtzeitig aus Sizilien zurück sein. Und mit der anspruchsvollen Diva hat man sich inzwischen geeinigt. Und ehe es drei Uhr nachmittags geworden, ist alles wieder in schönster Ordnung und die Erinnerung an das Überstandene nur noch wie das ferne Abklingen eines verzogenen Gewitters.

So verläuft ein Vormittag im Theater, und so ungefähr sieht jeder Vormittag im Theater aus.

IV

Und nun kommen dieselben Menschen, die du eben im Büro sich hast wie bockig unvernünftige und widerspenstige Kinder aufführen sehen, feindselig, mißtrauisch, selbstsüchtig, eitel und eigensinnig, nun kommen sie auf die Bühne, zur Arbeit auf der Probe. Ein Wunder geschieht. Mit einem Schlage sind sie wie verwandelt. Alle Feindseligkeit ist verflogen. Ernste, sachliche Menschen stehen da, freudig zur Arbeit entschlossen, von Erwartung der Arbeit erfüllt, eine fromme Gemeinde, ihrer Mission andächtig bewußt. Wenn sie im Regisseur Qualität und Persönlichkeit erraten – und sie haben dafür ein untrügliches Fingerspitzengefühl, eine Feinfühligkeit ohnegleichen, – dann geben sie sich ihm willenlos und mit einem rührenden Vertrauen in die Hand. Die feste Hand freilich müssen sie spüren, den sicheren Willen, der sich und seine Absicht weiß. Keiner hat es so schnell heraus wie sie, ob einer etwas kann und ihnen 106 etwas zu geben hat, und keiner erweist sich so dankbar wie sie. Der Mann, an den sie glauben, kann mit ihnen machen, was er will, kann von ihnen haben, was er will. Unermüdlich wiederholen sie ungezählte Male dasselbe, wenn er es von ihnen verlangt. Die Arbeit kann ihnen nicht lang genug dauern, und sie verrichten sie nicht wie ein Opfer, sondern wie eine Gnade, die ihnen wird, nehmen sie als ein Geschenk. Sie scheinen keine Ermüdung zu kennen, keine Erschöpfung zu scheuen, die Arbeit gibt ihnen neue Kräfte, neue Frische. Ein jeder läßt sich bis an den Rand seines Könnens treiben und auch über diesen Rand hinaus. Es ist wunderbar, was für ungeahnte Fähigkeiten in diesem Volke stecken. Wenn der Schauspieler in der Rage ist, leistet er, was man von ihm verlangt. Der Wille will und der Körper pariert. Im Bedarfsfall können Schauspieler alles. Auch auf dem Kopf stehen, Purzelbäume und Pirouetten schlagen, auch Feuer fressen, wenn's drauf ankommt. Ihre Ambition, das vom Regisseur Gewünschte zu bieten, kennt keine Grenzen. Ein Arbeitseifer, Arbeitsfreude, ein förmlicher Arbeitsfanatismus scheint alle ergriffen zu haben, vom ersten bis zum letzten, von der Haupt- bis zu den letzten Nebenrollen. Mit Leib und Seele sind alle bei der Sache. Nur die eine, nur das Ganze scheint es für sie zu geben. Die Sonderwünsche, die Nebengefühle, die kleinen Eitelkeiten und Menschlichkeiten werden während der Arbeit ausgeschaltet, vergessen. Die subjektivsten aller Menschen werden durch die Arbeit ganz objektiv. Nur noch die Leistung gilt. Vor der Leistung, vor wahrer Kunst wird der Schauspieler demütig. Da kann er ganz an sich vergessen. 107 Und wenn es der gefährlichste Nebenbuhler, wenn es sein Todfeind ist, er muß neidlos anerkennen, wo es anzuerkennen gibt. Es gibt kein dankbareres, kein empfänglicheres Publikum, als es Schauspieler sind. Und nichts ist schöner, als Schauspieler auf der Probe zu beobachten, wenn sie, von Bewunderung mitgerissen, stumm und mit großen, staunenden Augen dem Werden großer Kunst zuschauen.

Solche Momente sind es, wundervolle Siege der Sachlichkeit und der Arbeit, die mit allen anderen am Theater aussöhnen. 108

 


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