Arthur Kahane
Tagebuch des Dramaturgen
Arthur Kahane

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Die Naive

Es gibt sie nicht mehr.

Schade! Wie entzückend wäre es, sie zwitschern zu hören, mit dem Silberglöckchen in der Stimme zum himmelblauen Augenaufschlag: »Denk' dir, Mama, ich habe verdrängte Triebe! Vetter Kurt sagt es«, oder: »Schau', Mama, das tadellose Coty-rouge, das mir heute nacht im Pavillon Mascotte ein Herr geschenkt hat! Seh' ich nicht geliebt damit aus? – Wer der Herr war? Das weiß ich nicht: fabelhaft pervers sah er aus. Goldig, sag' ich dir.«

Diese reine, kindliche, unschuldvolle Naivität gibt es nicht mehr. Wir werden sie nicht mehr hören. Sie ist aus unserem Leben weg, und darum ist sie auch von der Bühne verschwunden.

Es gibt keine Naiven mehr, es gibt, dem allgemeinen Geschlechtskuddelmuddel entsprechend, nur noch weibliche Naturburschen.

Die Naiven unserer Jugend sind, wenn sie den Übergang ins ältere oder älteste Fach überlebt haben, was ihnen schwer wurde, mittlerweile Großmutter geworden und erleben Großmutterfreuden, die für sie freilich mehr Großmutterwehen bedeuten. Ich glaube, sie sind nie Mütter, 60 sondern gleich Großmütter geworden, nie in die Wochen, sondern gleich in die Jahre gekommen, was sie allerdings nicht hindert, immer noch die Gretchenfrage zu stellen, was ein Leutnant sei. Wer sich durch Jahrzehnte an diese Frage gewohnt hat, den läßt sie nicht mehr, auch wenn die Empirie des Lebens sie längst beantwortet hat, ja nicht einmal, wenn es keine Leutnants mehr gibt.

Es gab einmal eine Naive, die Naive aller Naiven, sie war die Jüngste nicht mehr, im Gegenteil die Älteste, die ewige Naive, möchte man sprechen, von der man schwören konnte, daß es niemals jemand gewagt hat, vor ihren keuschen Ohren das Schmutz- und Schundwort: Unterhosen auszusprechen. Die Ärmste mußte die schöne Welt verlassen, ohne erfahren zu haben, daß es Unterhosen gibt.

Die Unterhosen sind, mit Ausnahme dieses einen Grenzfalles, natürlich nicht buchstäblich gemeint, sondern nur ein kleidsames Symbol für alles das, was es nicht gab und nicht geben durfte. Jene Welt des deutschen Lustspiels, dem die Naive ihr ewig junges Leben verdankte. Ein Symbol, das man nicht nur nicht aussprechen, sondern nicht einmal hinter den Dingen denken durfte. Jene Welt des deutschen Lustspiels war eine Welt, in der man sich langweilte, und sie war so unwirklich, daß ihre Menschen nicht nackt in den Kleidern steckten und das, was in den Kleidern steckte, nicht Menschen waren.

Zwischen Kleiderpuppen und Uniformen spielte sich ein Scheinleben, dem keine Wirklichkeit entsprach, in Situationen, die es nur auf der Bühne gab, mit einer künstlichen und verdünnten Heiterkeit, die sich von den »Fliegenden Blättern« 61 nährte, mit der Attitüde eines Gesellschaftstreibens, hinter dem nie eine Gesellschaft stand.

Und in dieser Scheinwelt trippelte, trällerte, kicherte, zwitscherte, kindschelte, dalberte ahnungslos ein unwahrscheinliches Geschöpf mit einem Vogelhirnchen im Blondkopf, sentimental und seelenlos, mußte lachen ohne Grund und weinen ohne Grund, als stets verlangte Einlage, und das war die Naive. Es gab richtige, gute, wundervolle Schauspielerinnen, die allen Charme einer Jugend und alle Anmut ihres Geistes an diese Homuncula verschwendeten.

Ihr männliches Gegenstück, aus demselben gesellschaftlichen Snobismus entstanden, ebenso leer, ebenso verlogen, ebenso unwirklich, war die Figur des Leutnants. Der Leutnant und die Naive liebten einander und konnten ohne einander nicht leben. Als der Leutnant sein faszinierendes Spiel ausgespielt hatte, war es mit der Naiven vorbei. Mit ihm verschwand sie von der Bildfläche des Theaters, und so ist es eigentlich das Aufhören des Militarismus, das dem neckischen Treiben der Naiven ein Ende bereitete. Was Weltkrieg und Revolution nicht alles auf dem Gewissen haben!

 


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