Arthur Kahane
Tagebuch des Dramaturgen
Arthur Kahane

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Die Duse

Im Hause Mendelssohn. 1904 war es. Max Reinhardt hatte mich beauftragt, Eleonora Duse, die damals eben in Berlin zu ihrem bevorstehenden Gastspiele eingetroffen war, in seiner Vertretung zu besuchen. Sie hatte 122 Reinhardt wissen lassen, daß sie ihren letzten freien Abend gerne dazu verwenden wolle, eine seiner Inszenierungen zu sehen, und ihn ersucht, ihr für die »Elektra«-Aufführung des Kleinen Theaters eine Loge zur Verfügung zu stellen. Ich hatte die Mission, ihr im Namen Reinhardts die offizielle Einladung zu überbringen, und den Nebenauftrag, sie, wenn irgend möglich, von der Logenbedingung abzubringen: das Kleine Theater sei ein neuer Theatertyp, der nicht auf Logen eingerichtet sei, und die einzige vorhandene, eine Art gelegentlicher Direktions- oder Regieloge, liege an der Seite, und so, daß man die Bühne nicht übersehen könne, weshalb, unter diesen etwas exzeptionellen Umständen, Plätze in der vordersten Parkettreihe vorzuziehen seien.

Ich gestehe, daß mich dieser Auftrag mit mehr Freude erfüllt hat als irgendein anderer Auftrag, den mir Reinhardt gegeben hat. Ich bin sonst kein Freund von ersten Gesprächen mit berühmten Menschen: ich habe ihrer zu viele gesehen. Beim ersten Gespräch sind berühmte Leute meist nichts als berühmt: erst bei späteren werden sie netter. Oder auch nicht, je nachdem. Aber bei der Duse war es etwas ganz anderes; diese Frau stand ganz anderswo, in einer anderen Wirklichkeitssphäre als die anderen Menschen. Ihr Name hatte schon den transzendenten Klang, den Nimbus einer Verklärung, dem sich auch der Profanste nicht entzog. Und meine Erregung war nicht geringer als die Freude, mit der ich zu dieser Unterredung ging. Auch der Name des Hauses Mendelssohn trug nicht wenig zu meiner Aufregung bei. Denn er bedeutete in meiner Vorstellung, seit ich von Berlin weiß, das Höchste von berlinischer Kultur, 123 den letzten feinen Abglanz von Berlins schöner romantischer Vergangenheit, seine fast einzige Legitimation zur Tradition vornehmer Gesittung, inmitten der wilhelminischen Lautheit die stille Oase eines nie unterbrochenen Lebens in Geist, Schönheit und Musik. Wie paßte Eleonora Duse in den Rahmen dieses Hauses! Ich betrat das Haus in der Jägerstraße, und ich erinnere mich, durch einen langen, hohen Saal geführt worden zu sein, feierlich ruhig in den Ausmaßen und feierlich dunkel im Farbenton der Möbel und schweren Stoffe, an einem Kamin vorbei, über dem ein van Dyck hing, und dann saß ich im nächsten Raum, der, etwas breiter, kürzer und behaglicher, jenen anderen als der letzte einer Zimmerflucht abschloß, an einem großen, runden Tisch allein und wartend, an einem Kamin, über dem der wunderschöne Akt eines liegendes Weibes von Rubens leuchtete (an derselben Stelle, an der später die Saskia und ein Rembrandtsches Selbstbildnis hängen sollten). Es war unsäglich still, still bis zum Vergessen, daß draußen Berlin und Weltstadt und Gegenwart war. Und dann ging die Türe auf, und die beiden wunderschönen Königinnen treten ein.

Von diesem Augenblick an zog sich die Rubens-Dame beschämt zurück und blieb verschwunden.

Elisabeth und Maria Stuart. Freilich nicht als Feindinnen, sondern durch die innigste Freundschaft eines Lebens miteinander verbunden. Unnahbar und hoheitsvoll die eine, nicht minder hoheitsvoll die andere in der transparenten Zartheit ihrer unsäglich milden und weichen Züge. Man kann sich nichts Rührenderes vorstellen als die Art, mit der 124 Frau v. Mendelssohn die Freundin, ihren Gast und Schützling, betreute, ihrer Empfindlichkeit die kleinsten Störungen und Reibungen zu ersparen suchte. Aber wer hätte zu dieser Einzigen nicht ebenso sein mögen! Meine armen Augen können sich nicht erinnern, je eine schönere Frau gesehen zu haben, als mir die Duse jenes erste Mal aus der Nähe erschien. Doch! Eine. Das war die Duse, als ich sie das letzte Mal sah.

Ich habe sie damals nicht interviewt. Ich habe diese Gelegenheit vorübergehen lassen. Ich habe sie auch nicht danach gefragt, welche ihre Lieblingsrolle sei, und ob sie sich zu den Schauspielern rechne, die sich immer aufs neue verwandeln, oder zu denen, die bloß ihre Natur geben, und welchen Typus sie für den höheren halte, und ob sich bei ihr der Prozeß des Erlebens während der Vorarbeit abspiele oder am Abend, und ob sie am Abend in oder über der Rolle stehe; und ich habe sie auch nicht gefragt, wen sie für den größten Dichter der Zeit und wen sie für den größten Dichter aller Zeiten halte, und ob sie die Modernen oder die Klassiker vorziehe; ich habe sie nicht einmal gefragt, wie sie über d'Annunzio denke; und als die Rede auf die Loge kam und Frau v. Mendelssohn meine schüchternen Bedenken nicht ganz ohne Energie mit der Bemerkung abschnitt, Frau Duse gehe in die Loge oder gar nicht, und Frau Duse mit einem beschwichtigenden Lächeln (o dieses Lächeln!) hinzufügte, es sei nicht etwa eine Art Hochmut von ihr, sondern sie vertrage es rein körperlich nicht, mitten unter den Leuten zu sitzen, und die Nähe vieler Menschen mache sie müde und nervös und sogar ein wenig 125 ängstlich, habe ich nicht insistiert, denn ich war von nichts in der Welt in diesem Augenblick überzeugter als von der monströsen Unmöglichkeit, daß die Duse mitten unter anderem Publikum sitzen solle. Was ich damals sagte, weiß ich nicht mehr: ich wußte es auch damals nicht. Ich sah nur dieses Gesicht, und ich hörte diese Stimme. Und ich weiß nur, daß sie sehr warm von Reinhardts wachsendem Ruhm sprach und sich angelegentlich und mit Anteil nach der Eysoldt und ihrer Elektra erkundigte, auf die sie sich sehr freue. Und daß ich beim Abschied sehr glücklich war, weil ich die schönste aller Hände hatte küssen dürfen.

Gott! Was war diese Frau schön! Und wie habe ich sie geliebt!

Im Kleinen Theater, Direktionsloge. Am nächsten Tage. Hofmannsthals »Elektra« wurde gespielt, die Duse saß in der Loge, ich saß neben ihr und machte den Dolmetsch. Sie verstand natürlich jedes Wort von selbst. Sie folgte dem anstrengenden Spiel, das sich auf dunkel gehaltener Bühne in fast zwei Stunden ohne unterbrechende Pause unter unausgesetzt sich steigernden Ekstasen abrollte, mit gespanntester Aufmerksamkeit, ja Erregung. So fremd ihr die neue Art dieser Inszenierung sein mußte, die geflissentlich den mykenischen Frühcharakter des antiken Stoffes unterstrich, der Italienerin barbarischer als uns, so willig ging sie bis zur Erschütterung mit. Alles sah, bemerkte, begriff sie in seinen Absichten, alles interessierte sie. Nur einmal ließ sie (der gewissenhafte Chronist darf es nicht unterdrücken) die Bemerkung fallen: »Warum schreien die meisten deutschen Schauspieler immer, wenn sie Leidenschaft 126 ausdrücken wollen?« Von der Eysoldt war sie entzückt. Und als sie zum Schlusse ihre dankbare Begeisterung für Reinhardt aussprach, geschah es in so einfachen und überzeugten Worten, daß ihn dieses Lob gegen allen künftigen Angriff und Tadel hätte feien müssen.

Venedig. Sommer 1912. In dem von der Duse bewohnten Palazzo an den Zattere. Wir sitzen als ihre Gäste in einem prachtvollen Frührenaissancesaale, weit und luftig wie eine Halle, das breite Riesenfenster aufgezogen, mit dem freien Blick auf die Lagune und die Giudecca. Eingeladen sind Moissi, Rainer Maria Rilke, ein Herr P. (einer jener höchst kultivierten Globetrotter, deren genießendes Leben sich zwischen Rom, Wien, Berlin, London, Paris und Venedig teilt, Mäzen ohne Snobismus, der wunschlose Vertraute der besten und erlesensten Menschen in Europa) und ich. Und dann ist noch ein ganz junges, hübsches Mädchen da, Freundin und Schützling der Duse, Italienerin, mit dunklem Teint, schwarzen, kurz geschnittenen Haaren, blitzenden, kohlenschwarzen Augen und einer kühnen Nase. Um dieses jungen Mädchens willen sind wir nämlich da. Es hat ein Stück geschrieben, und die Duse möchte gern, daß Reinhardt es aufführt. (Leider hat sich offenbar nicht der richtige Übersetzer gefunden, denn das Manuskript ist später nie in unsere Hände gelangt.)

Und die Duse sprach. Nachdem wir unseren Masagran geschlürft hatten, stand die Duse auf, trat in unsere Mitte, bat um die Erlaubnis, einige Worte sagen zu dürfen, die ihr am Herzen lägen, und hielt eine Rede. Eine richtige Rede. Und ich möchte den Parlamentarier, den Volksredner, 127 den Kanzelredner sehen, der es an Wirkung mit der Rede dieser Frau aufgenommen hätte. Das heißt ich möchte sie nicht sehen: es war viel erfreulicher, diese Frau zu sehen.

Sie war schöner als je. Sie war etwas voller geworden, die Gestalt noch königlicher, die wundervolle Krone des dichten, leicht ergrauten Haares mit dem Silberschimmer über den edlen, reinen Linien des Gesichts, das vergeistigt war wie kein zweites, aber der schmerzliche Zug war weg, es lag ein glücklicher, fast heiterer Glanz darüber.

Sie fing französisch an und glitt, je mehr sie in Leidenschaft (und in welche Leidenschaft!) geriet, vielleicht ohne es selbst zu merken, ins Italienische über.

Sie begann, als Artigkeit gegen die Gäste, mit einem Hymnus auf Max Reinhardt. Sie schien über alle Stadien seines Weges unterrichtet, dessen Geltung damals bereits angefangen hatte, über die deutschen Grenzen hinaus in die Welt zu dringen. Sie sprach von dem kostbarsten Besitze der genialen Persönlichkeit, die nicht einem Vaterlande, sondern allen gehöre. Sie wandte sich mit einer reizenden Geste der Begrüßung an Moissi, der für sie auch als deutscher Schauspieler immer noch der Landsmann bleibe, auf den sie stolz sei und mit dem als Oswald sie sich die Frau Alving zu spielen wünsche. Sie sprach von der völkerverbindenden Kraft der großen Kunst (ach, wie viele haben das gesagt, und wie neu, wie wahr, wie erstmalig klang es aus ihrem Munde!). Und dann kam sie auf ihr Thema: das neue Italien. Da fühlten wir, wie sehr alle ihre Gedanken, ihre ganze Begeisterung, ihr ganzes Herz dieser Sehnsucht gehörte. Sie sprach von einem Italien, das es müde sei, immer 128 nur als das große Museum, als die Schönheitsgalerie, die Antiquitätenkammer der ganzen Welt zu gelten, und das danach brenne, nun endlich sein eigenes Leben zu leben. Ohne Verrat an seiner großen Tradition, auf die es nie aufhören werde, stolz zu sein, im Gegenteil, auf dieser aufgebaut, ihr organisch entwachsend, wolle es neben seiner politischen auch eine kulturelle Gegenwart haben, die der großen Vergangenheit würdig und ebenbürtig sei. Wie sie es spüre, rief sie, indes ihre Augen blitzten und ihre Wangen sich röteten, mit einer Deutlichkeit, die nicht irren könne, und bis ins Innerste spüre, wie sich überall unter der Oberfläche die neuen Kräfte regten und bäumten, neue Energien, eine neue Generation stolzer und wollender Menschen, eine neue Jugend! Auf allen Gebieten, in allen Künsten erhebe sich die neue Zeit und warte nur mit fiebernder Ungeduld auf den Augenblick, aufzubrechen wie eine reife Frucht. Und sie führte Moissi, führte die junge italienische Dichterin, für die sie warb, als Beispiel unter hunderten für diese neue Jugend an, die im Inlande wie im Auslande von dieser neuen Art des italienischen Willens zur Gegenwart Zeugnis ablegten. Wie sie diese Jugend liebe! Der sie von jetzt an alle ihre Kräfte, ihre ganze Kunst weihen wolle. Denn sie sehe das neue Italien kommen, unaufhaltsam, sie sehe es bereits, das Reich einer neuen Schönheit der Gegenwart.

Als wir uns verabschiedet hatten, gingen wir alle in einem Rausch und Glückstaumel, und wir alle, der Dichter und der Weltmann, der Schauspieler und der Dramaturg, hatten das Gefühl, einen großen, einen historischen Moment erlebt zu haben.

129 Alle Prophezeiungen der Duse vom neuen Italien sind buchstäblich eingetroffen. Aber wie sieht der erfüllte Traum in der heutigen Wirklichkeit anders aus als das wundervolle Phantasiegebilde einer visionären Frau!

 


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