Arthur Kahane
Tagebuch des Dramaturgen
Arthur Kahane

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Die Schauspieler und die anderen

Immerfort unter Schauspielern zu leben ist eine unerträgliche Vorstellung. Aber wo sind die anderen Menschen, mit denen man immerfort leben möchte? Dann schon lieber mit den Schauspielern.

62 Es gibt sogar Schauspieler, die es fertig bringen, immerfort nur unter Schauspielern zu leben. Bei denen ist es am unverständlichsten.

Die Schauspieler haben mehr Fehler als alle anderen Menschen. Aber dieselben Fehler, die man an allen anderen Menschen unerträglich findet, gewinnt man am Schauspieler lieb.

Alle Menschen sind eitel. Sogar die Schauspieler. Nur will auch Eitelkeit gekonnt sein. Die Schauspieler können es. Wenn ein Schauspieler eitel ist, ist er es con amore und versteht, es zu spielen. Darum hält man die Schauspieler für eitler als die anderen. Während sie doch nur deutlicher und wirksamer eitel sind als die Dilettanten der Eitelkeit.

Man wirft den Schauspielern vor, daß sie über der täglichen Verstellung ihr Eigentliches verlieren. Ich habe wenig Menschen kennengelernt, die so ängstlich auf der Suche nach ihrem Eigentlichen sind, wie die Schauspieler. Nur erwarten sie immer von andern, daß sie es ihnen zeigen.

Die Schauspielkunst wird als die Kunst der Lüge empfunden. Aber was man an Lüge in sich hat, in seine Kunst abzuleiten und nach außen zu projizieren, welche innere Wahrhaftigkeit, welcher Mut zur Wahrheit gehört dazu, ein Mut zur Wahrheit, der fast schon Schamlosigkeit ist.

Es gibt nicht zwei Triebe, die in ihren Auswirkungen so ähnlich sind, wie Scham und Schamlosigkeit. Sie sind die beiden engverschlungenen Wurzeln der Schauspielkunst.

Man wirft den Schauspielern Unmännlichkeit vor. Dasselbe ließe sich mit demselben Recht von den Dichtern, von den Musikern, von allen Künstlern, von allen Liebbabern 63 sagen. Um die Frauen zu lieben, muß man die Frauen verstehen; um die Frauen zu verstehen, muß man etwas von der Frau in sich haben. Um die Liebe spielen, muß man etwas von der Frau in sich haben. Um überhaupt etwas von der Welt zu verstehen, muß man etwas von der Frau in sich haben. Ich bin überzeugt, daß sich gleiches von Julius Cäsar, Friedrich dem Großen, Napoleon und Bismarck behaupten läßt. Die hundertprozentige Männlichkeit findet sich nur beim reinen Bürokraten-, Oberlehrer- und Wachtmeistertypus. Auch die Hausknechte haben sich noch Gott sei Dank! ziemlich uneffeminiert erhalten.

Die unmännlichsten Schauspieler sind die, die am männlichsten tun und am männlichsten ausschauen. Die sogenannten Kraftklacheln nehmen es an Hysterie mit jedem Frauenzimmer auf. Bekanntlich ist die Männlichkeit der Athleten meistens ein – legendarisch verbürgter – Bluff. Darüber kann man auch im diskretesten Theater mitunter ein Lied singen hören.

Am Theater wird intrigiert, zugegeben. Wo nicht? Wo sich drei zu einer Gemeinsamkeit zusammentun, stehen immer je zwei gegen einen. Aber, unter uns gesagt, es ist nicht schwer, Theaterintrigen zu durchschauen. Sie werden zu gut gespielt, als daß der Naivste darauf hereinfallen sollte. Und ihre Motive sind so durchsichtig, daß man sie errät, bevor sie wahr sind. Ich will nichts gegen die Politik, nichts gegen die Diplomatie gesagt haben: aber selbst in jedem anständigen kaufmännischen Betrieb, in jedem besseren bürgerlichen Haushalt sind die Intrigen gefährlicher. Was ist die Eboli gegen Tante Emma?

64 Am Theater herrscht Rivalität. Wie sollte sie nicht, da der Erfolg des einen der Mißerfolg des andern ist? Doch sie herrscht ebenso auch in jedem anderen Berufe, wo der Mißerfolg des andern noch lange nicht den Erfolg des einen, sondern nur eine reine selbstlose und uneigennützige Freude bedeutet.

Aber eine so große Rolle auch Rivalität im schauspielerischen Leben spielt, die berufliche Sachlichkeit ist doch stärker. Ich kenne kaum einen guten Schauspieler, der sich dem Eindruck einer wirklich guten Leistung auch des Todfeindes entziehen könnte, und ich kenne viele, denen ich zutraue, zähneknirschend zu sagen: »Der Kerl ist ein Schweinehund, er ist der gemeinste Hundsfott, den je die Erde getragen hat, aber den Shylock spielt er zum Küssen, und ich wüßte keinen zweiten, der ihn – außer mir natürlich! – besser spielen könnte.«

Und bei den Frauen ist es ebenso, nur daß es statt des Shylock das Gretchen ist, und daß sie dazusetzen: »Schade nur, daß sie so unmöglich ausgesehen hat!«

Schauspieler sind die willigsten Menschen, wenn sie einer führt, an den sie glauben, und die unwilligsten, widerspenstigsten, wenn sie den Glauben verloren haben. Den Glauben brauchen sie, auch darin wie Kinder, sie glauben gern und gut. Niemand begreift schneller als der willige Schauspieler, niemand schwerer, wenn der Führende den Kontakt zu ihm nicht zu finden vermag. Er wird unbarmherzig grausam, wenn ihm einer nichts zu geben hat, und quittiert die leiseste Willensunsicherheit, den geringsten Widerspruch, den verzeihlichsten Irrtum. Er wittert mit 65 sicherstem Fingerspitzengefühl den, der ihm etwas zu geben hat, und ist der Dankbarste für alles, was ihm gegeben wird. Wenigstens in der Arbeit. Später vergißt sich's manchmal.

In der Arbeit kennt die Willigkeit des Schauspielers keine Schranken. Er ist zu allem bereit und zu allem fähig. Er geht in jedem Augenblick auf den letzten Grenzen seines Könnens und seiner Kraft spazieren. Er tut sein Möglichstes, aber wo's not tut, auch das Unmögliche. Es gibt für ihn nichts Unmögliches, gibt Hunger, Müdigkeit, Schlafbedürfnis nicht, gibt nichts, was er nicht kann, nicht zu versuchen sofort bereit ist. Der Seriöseste, wenn es verlangt wird, singt, tanzt, geht auf den Händen, steht auf dem Kopf. Alles dem Manne zuliebe, an den er glaubt. Ich glaube nicht, daß Ministerialräte für ihren Minister so ohne weiteres auf dem Kopf stehen würden.

Schauspieler sind immer hilfsbereit, immer opferfähig. immer gefällig. Nicht bloß die Schauspielerinnen, sondern auch die Schauspieler. Gutherzig sind sie alle.

Immerhin ist ihre spontan aufwallende und leichtfertige Gutherzigkeit menschlicher als die sich ethisch motivierende Unrührbarkeit der anderen. »Wenn ich den Windhund verrecken lasse, geschieht's zu seinem eigenen sittlichen Besten.«

Es gibt kaum einen zweiten Beruf, in dem sich der Charakter und seine Eigenschaften bis in die geheimnisvollen Tiefen der seelischen Struktur so unmittelbar aus dem Wesen der täglichen Hantierung ableiten. Man ist nicht ungestraft Schauspieler.

Aber auch nicht ungelobt. Man wandelt ebensowenig ungestraft unter Lorbeeren wie unter faulen Äpfeln.

66 Es ist nicht bloß die Rolle, die auf den Schauspieler abfärbt. Die Rollen, die sich bis zur Identität mit der Natur des Schauspielers decken, sind durchaus nicht immer seine besten, sondern sehr oft gerade die, die er seiner Natur abtrotzen muß. Aber es läßt sich keiner Natur etwas abtrotzen, was nicht doch auch in ihr gelegen ist.

Jenes Decken und dieses Nicht-Decken – ist's ein Wunder, wenn dieser tägliche Boxkampf mit sich selbst, wer stärker ist, das eine Ich oder das andere, auf das Ich abfärbt, es scheinbar entfärbt und täglich neu färbt!

Die letzte Entscheidung in diesem Boxkampf hat nicht der Boxer, sondern der Trainer, genannt Regisseur.

Man ist am Theater lasterhaft. Sehr lasterhaft. Genau so lasterhaft wie in der bürgerlichen Welt. Nur ist am Theater die Publizität des Lasters größer, in der bürgerlichen Welt die Lasterhaftigkeit.

Noch größer als die Publizität des Lasters ist am Theater das Laster der Publizität.

Die Natur des Schauspielers ist die Verwandlung. Es gibt keine gründlichere als die vom Schauspieler im Büro zum Schauspieler auf der Bühne. Ist das noch derselbe Mensch, der Schauspieler in der Unterhandlung und der Schauspieler in der Arbeit? Der eine ist mißtrauisch, eigensinnig, selbstbesessen, geldgierig, borniert; der andere vertrauensvoll, lenkbar, sachlich, großzügig, voll geistiger Elastizität. Wie er die Rolle braucht als Ventil seiner menschlichen Schwächen, braucht er offenbar das Büro, um seine sozialen Schwächen abzureagieren. Beides braucht er zum Leben wie Luft und Brot: die Rollen und das Büro.

67 Immerhin hat er die reinigenden Ventile: die anderen, denen sie fehlen, ergießen ihre Dunkelheiten ungereinigt in die Kanäle des öffentlichen und des privaten Lebens.

Die Seele des Schauspielers ist eine Abendschönheit: ihre Runzeln und Flecken sieht man nur bei Tage.

Das Material des Schauspielers ist seine Stimme, sein Verstand, seine Seele, seine Leidenschaft. Im Grunde aber ist es nicht Stimme, Verstand, Seele und Leidenschaft, sondern sein Körper, der Musik, Geist, Seele und Leidenschaft in einem ist. Der Körper ist die Seele der Schauspielkunst.

Manche Schauspieler haben keinen Schimmer vom Sinn ihrer Rolle. Aber ihre Augen, ihr Lächeln, ihr Mund wirken so geistreich oder treffen vielleicht auch nur den Tonfall des Geistes so täuschend, daß du den Sinn des Textes bis in seine Hintergründe durch sie besser begreifst, als durch den gescheitesten Kommentar.

Die Worte des Dramatikers im Buch sind wie unerfüllte Wünsche. Wünsche sind, solange sie nur in Träumen und Vorstellungen leben, vage, beiläufig und uferlos: die Wirklichkeit des Lebens fehlt, sie zu konturieren, sie zu fixieren. Die guten Schauspieler sind unsere heimlichen Wünsche, die zwei Arme, zwei Beine und eine Stimme bekommen haben.

»Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, ist nicht zu teuer mit dem Tod bezahlt.« Das eigentliche Leben des Schauspielers besteht aus lauter Augenblicken, gelebt im Paradiese, die nicht zu teuer mit seinem übrigen Leben bezahlt sind.

68 Die Größe seines Erfolgs und seines Mißerfolgs, die Güte und die Schlechtigkeit seiner Leistung sind abhängig von der Gnade des Augenblicks. Versagt sich ihm diese, ist aller Aufwand mühsamster Vorbereitung vergeblich vertan. Darum lebt er wie keiner im Augenblick, vom Augenblick, in der Gegenwart, für die Gegenwart. Jedes neue Schaffenserlebnis des Schauspielers bringt ihm den Reiz und die Gefahr eines neuen Abenteuers in unbekanntem Land, mit unbekanntem Ausgang.

Seltsamer Beruf! – Erwachsene Menschen, die nicht aufhören zu spielen, wie sie als Kinder gespielt haben! Erwachsene Menschen, die ihre Kinderträume von adeligen und überlebensgroßen Menschen, von Schönheit und Leidenschaft nicht loswerden können und sich einbilden, sie in Wirklichkeit zu verwandeln, wenn sie sich Fett ins Gesicht schmieren, Fußsäcke ums Kinn hängen und ihre Leiber in lächerliche Fastnachtskostüme stecken! Erwachsene Menschen, die sich dazu hergeben, für Geld anderen Menschen mit Todesernst Spaß vorzumachen! Die glücklich sind, wenn andere Hände klatschen, und unglücklich, wenn andere Lippen pfeifen! Bis zur Selbstvernichtung vom Beifall und Mißfallen der Leute abhängig, die sie im Grunde ihres Herzens verachten! Bemüht, andere mit Freude und Schönheit zu überschütten! Bemüht, den anderen Menschen ihre heimlichsten Wünsche zu entreißen und ihnen die lebendig gewordenen vorzugaukeln! Bemüht, anderen in wechselnden Gleichnissen und Verwandlungen den Sinn des Lebens zu deuten, der ihnen selbst verborgen bleibt! Tun sie es auf der Jagd nach dem eigenen Ich? Oder auf der Flucht vor sich selbst? Tun sie 69 es aus Scham, die eigene Seele hinter Masken zu verstecken? Oder aus Schamlosigkeit, die sie treibt, die letzten Hüllen von der Seele zu reißen und die nackte der öffentlichen Schau preiszugeben? Sie verlieren den Gebrauch der eigenen Sprache und sprechen Worte, die andere gedacht haben und die sie nie gebraucht hätten. Sie fühlen Gefühle, die andere gefühlt haben. Und sie fühlen sie stärker, besser, schöner als die andern. Dadurch, daß sie sie fühlen, werden die Gefühle erst wahr, werden wirklich und leben. Seltsamer Beruf! Menschen schreien und brüllen, verstummen, regen sich auf bis zur Verzweiflung. Und warum? Um Hekuba!

Um ein zweckloses Nichts herum haben sie, fast unbewußt, aus Schein und Spiel eine zweite Welt geschaffen, die konzentrierter, sinnvoller, in tieferem Sinne wirklicher ist als die wirkliche.

Wenn der Vorhang gefallen und das Spiel aus ist, dann entfernen sie mit Mastix den Bart vom Kinn, reinigen ihr Gesicht von der Schminke, ziehen ihre bürgerliche Gewandung an, gehen nach Hause oder ins Wirtshaus und sind wie die anderen. Sind sie wirklich wie die anderen? Nicht doch ein wenig leichter, freier, heißer, reicher?

 


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