Ernst Jaedicke
Deutsche Sagen
Ernst Jaedicke

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Die schwarze Schatzhüterin

(A. Haas)

Auf dem Felde bei Treten (Kreis Rummelsburg) lag früher ein gewaltig großer Feldstein. Ein Hirtenknabe, der in der Nähe seine Herde hütete, saß gerne auf diesem Stein, und eines Tages erschien ihm dort ein wunderschönes Fräulein. Sie war in schwarze Gewänder gekleidet und in einen schwarzen Schleier gehüllt, auch ihr Gesicht und ihre Hände waren von rabenschwarzer Farbe. Der Hirtenknabe wollte erschreckt davonlaufen, aber das Fräulein bat ihn flehentlich, er möge bleiben und sie anhören. Da sprach das Fräulein: »Seit vielen Jahren bin ich verwünscht und muß einen unermeßlichen Schatz hüten, der unter diesem Steine verborgen liegt. Nur du kannst mich erlösen, lieber Junge, und seit langer Zeit warte ich auf dich; du bist ein Sonntagskind und warst immer fromm und gut. Verlaß mich nicht in meiner Not!« Da versprach ihr der Knabe, daß er ihr gern helfen wollte; sie möge ihm nur sagen, was er zu ihrer Erlösung tun könne. Das Fräulein erwiderte: »Jetzt beginnt gerade der Maimonat. Komm an den vier Freitagen, wenn die Sonne untergeht, in deinen Sonntagskleidern an diesen Stein und singe das Lied ›Der lieben Sonne Licht und Pracht‹, dann bete drei Vaterunser und nachher geh still nach Hause! Aber du darfst dich nicht umsehen und außer dem Lied und Gebet kein Wort und keinen Ton laut werden lassen. Am vierten Abend bin ich erlöst und finde meine Ruhe im Grabe, und du erhältst alle meine Schätze.«

Der Hirtenknabe führte alles genau so aus, wie das Fräulein von ihm verlangt hatte. Wenn er sich an den bestimmten Abenden an dem Steine einfand, war das Fräulein schon zur Stelle, und ein mächtiger, mit Eisen beschlagener Kasten stand vor ihr. Der Knabe sang und betete, und am zweiten und dritten Freitag schien ihm das Fräulein schon weniger schwarz zu sein. Am vierten Freitag waren ihre Gewänder und ihr Gesicht völlig weiß, nur die Hände waren noch schwarz. Er faltete seine Hände und sang sein Lied; als er aber an die Stelle kam: »Ihr Höllengeister, packet euch!« flog eine große Eule krächzend um seinen Kopf, und ihr Flügel strich ihm über das Gesicht – infolgedessen mußte er niesen, einmal, zweimal, dreimal. Ein furchtbarer Donnerschlag krachte, und der Kasten versank in die Erde. Gleichzeitig verschwand das Fräulein, welches wieder ganz schwarz geworden war, nachdem es jammernd ausgerufen hatte: »Verloren – auf ewig verloren!« Niemand hat das Fräulein je wiedergesehen.


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