Ernst Jaedicke
Deutsche Sagen
Ernst Jaedicke

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Die verschwundene Glocke zu Pawonkau

(Grabinski)

Von der großen Glocke zu Pawonkau wird ein eigentümlicher Vorfall erzählt:

Die Glocke wurde, als sie aus der Glockengießerei nach Pawonkau gebracht war, sofort, ohne vorher getauft oder geweiht zu werden, auf den Glockenstuhl hinaufbefördert und ihrem Zwecke übergeben. Mehrere Tage hing sie im Turme und versammelte mit ihrem kräftigen Klange die Gemeinde zum Gottesdienst. Das Volk schüttelte aber höchst unzufrieden mit dem Kopfe und erklärte es als einen Frevel, daß man die Glocke läuten lasse, ohne daß sie getauft sei. Eines Tages war die Glocke vom Turme verschwunden. Niemand wußte, was mit ihr geschehen war und wo sie sich befinden möge. Daß sie nicht gestohlen sein konnte, war jedem klar, und man glaubte endlich mit Grund annehmen zu dürfen, daß sie sich von selbst an einen unbekannten Ort begeben habe, weil man an ihr die übliche Taufe nicht vollzogen habe. Mehrere Wochen waren verflossen, aber die Glocke wurde nicht gefunden, und man hatte sie bereits verloren geglaubt.

Einst hütete der Gemeindehirt von Pawonkau eine Herde Schweine und sang ein frommes Lied dabei. Da bemerkte er, wie ein Burg (Eber), das kräftigste Tier der Herde, das Ende eines Stranges aus der Erde herausgewühlt hatte und ihn vollends herauszuziehen versuchte. Lange zog der Burg an dem Seile und wühlte die ganze Stelle bis zu beträchtlicher Tiefe auf, bis es ihm endlich gelang, den Gegenstand, der an dem Strange befestigt war, bloßzulegen. Es war die vom Kirchturm verschwundene Glocke. In feierlicher Prozession wurde die Glocke abgeholt, nun getauft und zum zweiten Male auf den Glockenstuhl gebracht. Seit dieser Zeit ist es der Glocke nie wieder eingefallen, sich davonzumachen, aber sie verkündet ihre ehemalige Flucht selbst: Das Volk wenigstens erzählt mit voller Überzeugung, daß man aus dem Klange der Glocke sehr deutlich die Worte heraushöre: »Wieprz mie wyrot« (»Der Burg hat mich herausgewühlt«). Die Glocke befindet sich noch heute in der Kirche zu Pawonkau, und wer sich in den Klang der Glocke die obigen Worte hineindenkt, wird den Glauben des Volkes verstehen.


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