Ernst Jaedicke
Deutsche Sagen
Ernst Jaedicke

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Die heilige Gertrud auf der Gertraudenbrücke

(O. Monke)

Die heilige Gertrud soll eine Tochter des Pippin von Landen gewesen und im Jahre 659 als Äbtissin des Klosters in Nivelles bei Brüssel gestorben sein. Sie war mildtätig gegen Kranke und gründete Hospitäler, sowie Herbergen für Reisende, von denen sie denn auch besonders verehrt wurde. Das Spittel vor dem ehemaligen Teltower Tore und die 1881 abgebrochene Spittelkirche auf dem Spittelmarkt waren nach ihr benannt, und neuerdings hat man ihr auf der nahen Brücke ein Denkmal errichtet. Da kreuzt die Straße den Wasserweg; darum ist diese Stelle für sie ganz besonders passend. Zu ihren Füßen kniet ein »fahrender Schüler«, dem sie einen Trunk reicht. Lächelnd blickt die Heilige zu ihm nieder und übersieht absichtlich die gestohlene Gans, die der Bursch an einer Leine mit sich führt. Zu den Wanderern gehören nach dem Volksglauben aber auch die Seelen der Verstorbenen; sie verwandeln sich, wie man sagt, in Mäuse und kommen in der ersten Nacht nach dem Tode zur heiligen Gertrud, in der zweiten zum heiligen Michael und erst in der dritten dahin, wohin sie gehören, wie sie es verdienen. Darum umgibt ein Mäusekranz den Sockel des Standbildes, weil nun die hl. Gertrud eine Beherrscherin der Mäuse ist, kann sie auch die Fluren und Felder vor Mäusefraß beschützen, wenn sie will. Deshalb beten die Landleute zu ihr und bringen ihr in jedem Jahre am 17. März, ihrem Gedächtnistage, die ersten Frühlingsblumen. Daher sprießen auf dem Denkmal zu ihren Füßen Lilien.

Nach einer alten Sage liegt das Reich der Toten unter der Erde, und die Todesgöttin Hel oder auch Frau Holle führt dort die Herrschaft. Frau Holle ist aber gleichzeitig die Beschützerin des Flachsbaues und der Spinnerinnen. Darum hat man auch der hl. Gertrud einen Spinnrocken in die Hand gegeben und gesagt, am 17. März beißen die Mäuse den Faden ab. Da soll das Spinnen aufhören; denn der Frühling beginnt und mit ihm die Arbeit in Feld und Garten. Denkmäler wie dieses werden gar leicht zu Wahrzeichen einer Stadt, und früher, als es noch keine Wanderbücher gab, fragte man sogar die Handwerksburschen danach. Die Kenntnis der Wahrzeichen galt dann als Beweis, daß der Bursch kein Landstreicher war, sondern in der Stadt auch wirklich längere Zeit gelebt und gearbeitet hatte. Darum kannten früher die Leute ihre Heimat und die Wahrzeichen ihrer Stadt, und es wäre schön, wenn das heute noch so wäre.


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