Ernst Jaedicke
Deutsche Sagen
Ernst Jaedicke

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Die drei Linden

(Adalbert Kuhn)

Auf dem Kirchhofe des Hospitals zum Heiligen Geist in Berlin haben vor vielen Jahren drei gewaltig große Linden gestanden, die mit ihren Ästen den ganzen Raum weithin überdeckten. Das wunderbarste an diesen Bäumen war, daß sie mit ihren Kronen in die Erde gepflanzt waren und dennoch ein so herrliches Wachstum erreicht hatten. Aber dieses Wunder hatte auch die göttliche Allmacht gewirkt, um einen Unschuldigen vom Tode zu erretten.

Vor vielen, vielen Jahren lebten nämlich zu Berlin drei Brüder, die mit der herzlichsten Liebe einander zugetan waren und mit Leib und Leben für einander einstanden. So lebten sie glücklich und zufrieden, als dies Glück plötzlich durch einen Vorfall gestört wurde, den wohl keiner hätte ahnen können. Denn so unbescholtenen Wandels auch alle drei bisher gewesen waren, wurde doch einer von ihnen des Meuchelmordes angeklagt. Er sollte, obgleich er noch kein Geständnis abgelegt, den Tod erleiden, da alle Umstände die ihm zur Last gelegte Tat wahrscheinlich machten.

Noch saß er im Gefängnis, als eines Tages seine Brüder vor dem Richter erschienen und sich beide des begangenen Mordes schuldig erklärten. Kaum hatte dies der zum Tode Verurteilte vernommen, als auch er der Tat geständig wurde, indem er erkannte, daß seine Brüder ihn nur retten wollten. So standen statt eines Täters drei vor Gericht, von denen jeder mit gleichem Eifer behauptete, daß er allein jenen Mord begangen hätte. Da wagte der Richter nicht, den Urteilsspruch an dem ersten zu vollstrecken. Er legte den Fall zuvor noch einmal dem Kurfürsten vor, der anordnete, daß hier ein Gottesurteil entscheiden solle. Er befahl daher, ein jeder der drei Brüder solle eine gesunde Linde mit der Krone in das Erdreich pflanzen, so daß die Wurzeln nach oben ständen, wessen Baum dann vertrocknen würde, den hätte Gott dadurch als den Täter bezeichnet.

Dies Urteil wurde sogleich beim Anbruch des Frühlings vollzogen, und siehe da! nur wenige Wochen vergingen, und alle drei Bäume, die man auf dem Kirchhofe gepflanzt hatte, bekamen frische Triebe und wuchsen zu kräftigen Bäumen heran. So war denn die Unschuld der drei Brüder erwiesen.

Die Bäume aber haben noch lange in üppiger Kraft an der alten Stelle gestanden, bis sie endlich verdorrt sind und andern Platz gemacht haben.


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