Ernst Jaedicke
Deutsche Sagen
Ernst Jaedicke

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Der Brotstein

(Westpreußische Sage)

Einst wütete ein große Hungersnot im Lande; denn die Ernte war vollständig mißraten. Um die Not zu lindern, ließen wohlhabende Leute Korn zu Schiffe aus andern Ländern herbeiholen, wo es besser gewachsen war. Daraus bereitete man Brot und verteilte es unter die Armen. So geschah es auch im Kloster zu Oliva, und von nah und fern kamen Notleidende, um sich Brot zu holen.

Auch ein Schuhmachergeselle aus Wehlau, der auf der Wanderschaft war, erhielt dort ein Brot. Er steckte es unter seinen Mantel und zog weiter auf der Straße nach Danzig.

Hier begegnete er einer armen Frau, die einen Säugling auf dem Arme trug und noch ein Kind an der Hand führte. Ihre Wangen waren vor Hunger eingefallen, und wankenden Schrittes kam sie daher.

Da fiel ihr Blick auf den rüstigen Wandersmann, und sie vermutete, er werde ihr helfen können. »Lieber Herr,« bat sie ihn flehentlich, »ich bin nahe daran, mit meinen Kindern vor Hunger zu sterben, erbarmt Euch über uns und schenkt uns einige Brosamen, damit wir nicht umkommen.« – Jener aber antwortete: »Was suchst du Hilfe bei einem, der selbst nichts hat? In dieser Zeit der Not und des Jammers hat jeder mit sich selbst genug zu tun.«

Da blickte die Frau auf seinen Mantel und sah, daß er darunter etwas trug, daß die Form eines Brotes hatte. »Aber Ihr tragt ja ein Brot unter dem Mantel, wie ich sehe«, sagte sie. Doch er erwiderte: »Gott stärke deine Augen, daß du besser sehen mögest! Was du da für ein Brot hältst, ist ein Stein, den ich immer bei mir trage, um die Hunde zu verjagen, die mich auf den Dorfstraßen anfallen.« Mit diesen Worten ging er weiter, obgleich die armen Kinder vor Hunger weinten.

Bald aber fing das Brot unter seinem Mantel an so schwer zu werden, daß er es kaum tragen konnte, und als er, darüber verwundert, sich niedersetzte und es hervorholte, sah er, daß er nicht mehr ein Brot, sondern einen Stein trug.

Da kehrte er mit bitterlicher Reue im Herzen um und brachte den Stein in die Kirche, wo er noch lange zur Warnung für alle Unbarmherzigen gezeigt wurde.


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