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Eine Erinnerung von Julius Hart

Als Peter Hille reich war

(In; Reclams Universum, Heft 37, Leipzig, 13. Juni 1929)

Vor 25 Jahren ist der Dichter Peter Hille gestorben. Der feinsinnige und tiefe Poet, von dem auch Reclams Universal -Bibliothek ein Bändchen Aphorismen und Gedichte unter dem Titel »Aus dem Heiligtum der Schönheit« enthält, lebt noch im Andenken vieler Menschen, die sein zeitfremdes Wesen verstanden und liebten. Wir bringen heute eine Erinnerung an Hille von Julius Hart, einem seiner besten Freunde, an dessen 70. Geburtstag wir in Heft 28 erinnerten.

Um die Mitte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wars. Seit einigen Wochen lebte Peter Hille bei mir, der liebe Dichter und Träumer, der herrliche, gute Mensch, der während seines Lebens viel gesät und niemals geerntet hat. Heute stehen die nach seinem Tode gesammelten Werke nur – einiges von dem, was von den Schöpfungen des unablässig Dichtenden und Schreibenden nicht verlorenging – in den Bücherschränken von Kennern und Feinschmeckern.

Ein paar Jahre lang hatte ich ihn nicht gesehen. Plötzlich und völlig unerwartet war er dann eines Tages gekommen. Draußen klingelte es an der Flurtür, und meine Wirtin, die Zimmervermieterin, bei der ich wohnte, kam bald darauf mit einem etwas erschreckten Gesicht zu mir herein. »Draußen steht ein fremder Mensch«, sagte sie. »Er sieht ganz verwahrlost aus. Ein Bettler.« Ein strenger Blick glitt an mir hinunter. »Er fragte, ob Julius zu Hause wäre. Er sagte weiter nichts als Julius.« – »Peter!« schrie ich. »Das kann nur Peter sein«, und stürzte zur Tür. Ja, da stand er wirklich, still und freundlich lächelnd. In der einen Hand hielt er eine Flasche spanischen Weins, in der andern ein Zigarrenkistchen, in dem er, wie sich später herausstellte, einen alten Hemdkragen aufbewahrte, und unter dem Arm ein unendlich großes, dickes, schweres Hauptkassenbuch, wie es, glaub ich, nur allergrößte Weltfirmen nötig und im Besitz haben. Es war alles, was er besaß. Das köstlichste Gut war das Kassenbuch. Es kam nicht von seiner Seite. Es begleitete ihn auf Schritt und Tritt bei seinen Spaziergängen auf der Straße. Öfters blieb er dann stehen, klappte es auf und schrieb mit tiefversonnenem Ausdruck einen jener Aphorismen nieder, um derentwillen ihn die Literaturgeschichte besonders schätzt und die ihm »in ambulando«, wie er sagte, besonders reich einfielen und zuwuchsen. Die Leute auf der Straße blieben dann freilich meist auch stehen, guckten ihn verwundert und kopfschüttelnd an und tippten mit, dem Finger auf die Stirn.

Peter blieb bei mir wohnen und teilte redlich mit mir das wenige, was ich besaß. Er bekam sogar ein eigenes Stübchen nach dem Hof hinaus, wo er völlig ungestört mit den Musen Zwiesprache halten und buhlen konnte. Und so vergingen einige Wochen – da geschah das Wunder – das unerhörte Wunder, von dem ich erzählen will und das darum auch gleich schon die Überschrift angekündigt hat.

Wieder klingelte es, und wieder stürzte die Wirtin ins Zimmer, aufgeregt, zitternd, und sank luftschnappend auf den eigens dazu hergestellten Stuhl.

»Paeschke!« sagte sie.

Etwas erbleichte ich doch und wehrte mit beiden Händen ein Gespenst von mir fort.

»Nee«, winkte sie ab. »Diesmal brauchen Sie ooch mal keene Angst zu haben. Haben will er diesmal nix... ne Nachnahme is es nicht. Er bringt was – ville, ville ...«

»Geld? Ich?« schrie ich, juble ich, im Augenblick völlig umgewandelt. »Unmöglich ..., Woher? Aber ... aber ... warum nicht? Herein, o du Guter, o du Alter, herein ...« »Nee, Sie nicht ... Drinnen bei Peter Hillen is er ... Na, der wird Oogen machen ...«

Es verhielt sich in der Tat so. Paeschke, der Geldbriefträger, war bei Peter zu Besuch gekommen. Unglaublich. Paeschke kam sehr gern zu uns und war dem Hause durchaus freundlich gesinnt. Zumeist erschien er allerdings mit Zahlungsbefehlen, Wechseln, die eingelöst werden wollten, und ähnlichen unangenehmen Dingen. Doch wußte er die Verhandlungen darüber zu erleichtern und rasch zu erledigen. »Na«, sagte er, »ich komme erst gar nicht aus. Bezahlen tun Sie ja doch nicht. Es interessiert Sie doch nie, woher sie kommen. Es ist nur der Ordnung wegen.« Er hatte recht. Es interessierte durchaus nicht. Aber dann und wann geschah es doch, daß er auch ein Honorar brachte. Sein Gesicht strahlte ordentlich vor Freude darüber. Es gab ein sehr reichliches, sehr gutes Trinkgeld. Darum die Freundschaft.

Diesmal aber, als er aus Peters Stube wieder herauskam, klang sein »Juten Mor'n« noch besonders froh und kräftig. Ordentlich verwegen schief hatte er die Dienstmütze aufgesetzt und ein Zwanzigmarkstück in sein Auge wie ein Monokel geklemmt.

Peter stand in seinem Zimmer, als wir eindrangen, mit gesenktem Kopf, fast sorgenvoll-grüblerisch dreinschauend, als wolle er zum Hauptkassenbuch greifen und ein Aphorisma dort eintragen. Aber diesmal zählte er Geldscheine.

»Wieviel, Peter?« fragte ich in atemloser Spannung.

»Nichts, nichts ...«, antwortete er – gelassen, ruhig, selbstverständlich, als wäre es das Gewöhnlichste, Alltäglichste, daß Paeschke ihm einen Besuch abstattete und seinen Tisch mit Tausendmarkscheinen pflasterte. »Nichts – fünfhundert Chimären nur ...«

»Fünfhundert Mark willst du sagen ... Fünfhundert Mark!!! Donnerwetter!!!« rief ich.

Er nickte still mit dem Kopfe. Dann aber kam auf einmal eine große stürmische Bewegung über ihn. Hastig griff er nach seinem Hut, rief: »Einen Augenblick, einen Augenblick nur. Gleich bin ich wieder da«, stürzte husch! aus der Tür heraus und sauste die Treppe hinunter. Erstaunt, verwundert starrte ich dem Entfliehenden nach. Was war so plötzlich über ihn gekommen? Die Geldscheine hatte er auf den Tisch geworfen, ein paar davon zerknüllt und in die Tasche gesteckt.

Zehn Minuten später erschien er wieder. Diesmal mit einem sonnig verklärten Gesicht: Zwei Flaschen Wein hob er triumphierend in die Höhe. »Solche Ereignisse wollen gefeiert werden«, meinte er. »Da, Tokaier, Ruster Ausbruch! Fünfzehn Mark die Flasche. Ich glaube, er wird dir munden. Lang genug ist's her, daß wir einen guten Tropfen kosteten.«

Vollkommen war der Genuß freilich doch nicht. Wir mußten die braungoldene Labe mit dem zarten, zarten Schwarzbrotduft aus Kaffeetassen trinken. Wein aus Kaffeetassen! Es geht wirklich nicht. Es ist wider alle Poesie. Ohne Leuchten und Glanz. »So werden auch wir zu ästhetischen Barbaren. Heinrich« – er meinte meinen Bruder - »wird um keinen Preis da mittrinken«, stöhnte Peter und griff sich verzweiflungsvoll in sein lang wallendes Haar. »Wie ich nur daran nicht denken konnte. Du hättest es mir doch gleich sagen sollen, daß ich auch ein Dutzend Weingläser mitbringe! Wir werden uns das doch jetzt wohl öfter erlauben können. Und wenn wir unsere Freunde einladen, dürfen wir ihnen doch keine Kaffeetassen vorsetzen.«

Peter sprang auf, griff wieder nach seinem Hut, um das Versäumte nachzuholen. Mit einiger Mühe nur konnte ich ihn zurückhalten und vor neuen Geldausgaben bewahren. Schließlich aber kamen wir trotz Kaffeetassen in eine recht behagliche, wohlige Stimmung, wenn auch Peter kopfschüttelnd immer wieder daran erinnerte, daß selbst der köstlichste Inhalt in philisterlich-nüchterner, trocken-irdener Form ein Verbrechen an der Weltordnung sei, die allein in der Schönheit wurzle. »Du bist. Wir sind. Also ist Schönheit«, sagte ich mahnend und Petersche Worte variierend, »auch in unseren Kaffeetassen.«

Je mehr sich die Flaschen leerten, um so mehr entwickelten sich unsere prometheischen Fähigkeiten, diese Kaffeetassen in Weingläser umzuwandeln. Peter legte sein Kapitalvermögen an, hundertfältige Zinsen sollte es bringen, fruchtbar werden. Er versank in Phantasien und schwelgte in großen Plänen.

»Fünfhundert Mark«, sagte er. »Das will doch etwas bedeuten. Damit läßt sich viel anfangen ... Fünfhundert –«

»Vierhundertfünfzig«, wagte ich einzuwenden. »Vor einer Stunde fünfhundert, jetzt zehn Prozent weniger ...«

»Zehn Prozent«, sagte Peter milde. »Wie kommst du darauf? Du sprichst ja geradeso, als wenn du an der Börse handeltest ... Das macht doch keinen Unterschied ... Die lumpigen fünfzig Mark bringen wir doch rasch mit der Zeitschrift wieder ein ...«

Ja, eine Zeitung. Selbstverständlich war das das erste, was er gründen wollte. Natürlich eine Literaturzeitung. Poesien, große Essays, Kritiken! Jeder, der es zu etwas bringen will, muß die zuerst herausgeben. Damit wird man zu einer Macht. Den Gewalthabern von den anderen Blättern, die einem doch immer wieder alle Manuskripte zurückschicken, muß man es unter die Nase reiben, was für Idioten sie sind.

Eine strahlende Maiensonne leuchtete durch die Fenster und goß über Peters Angesicht und Gestalt all ihren Glanz und Jubel. Natürlich war auch ich begeistert von dem herrlichen Gedanken. Unsere Gläser klangen immer wieder zusammen: »Hoch die neue Zeitschrift!« Große Programme wurden geschmiedet. Es war ein festlicher Morgen.

Leider goß unsere Wirtin Wasser in das Feuer unserer Begeisterung. Sie war gar zu sehr ins Alltägliche versunken und dachte immer zuerst ans Praktische. Peter sollte sich vor allem zuerst einmal einen neuen Anzug kaufen. Das wäre das Notwendigste. Er müsse sich doch schämen, wenn er so über die Straße ginge. Ganz vergebens suchte ich den kostbaren schwarzen Anzug, den ich Peter ausgeliefert hatte, als er vor ein paar Wochen gekommen war, vor so hämischen Angriffen zu schützen.

Lange wog mein Herzbruder den Kopf sorgenvoll hin und her. Er trat sogar vor den Spiegel und musterte sich. Nach einer Weile nickte er leise. »Ja«, sagte er. »Sie haben vielleicht doch recht. Ich sehe aus wie François Villon. Ich liebe, ich bewundere ihn ... Auch er trug Lumpen ... Er war doch ein König ... Aber ... aber ... Wenn ich jetzt Herausgeber einer Zeitung werde ...« Sein Auge fing an zu leuchten: »Ja, zuallererst ein neues Gewand für den alten Adam. Auch der Leib sei uns heilig...«

Ich wußte, was für Visionen vor ihm aufstiegen. Schon einige Male hatte er früher davon gesprochen, wie von einem großen beseligenden Zukunftstraum. Wenn einmal das viele, viele Geld für seine Romane, seine Dramen, seine Gedichte einkäme, dann wollte er sich das zuerst anschaffen. Im Sommer hälts wunderbar kühl, im Winter köstlich warm, so daß es gar keines Mantels mehr dazu bedarf. Sah man jemals einen Menschen, der sich dieses köstlichsten Kleidungsstückes als seines Besitzes erfreute, auch bei schärfstem Frost in Überzieher oder Pelz gehen?

Wollregime! Jägers Normalanzüge. Reine Wolle! Das war ein großes Schlagwort jener Tage, und alle hörten auf die Verkündigung Dr. Jägers, des Gesundheits- und Duftapostels ... Vegetarianer, Gesundheitsprediger, die aus dieser schlechten Zivilisation wieder heim zu den Paradiesen wollten ...

Bekümmert sah ich Peter an, mit schlechten, schnöden Zweifeln in seine Träume einbrechend.

»Hundert Mark ...«, wagte ich zu mahnen. »Ein Jägerscher, Normalanzug kostet hundert Mark«, wiederholte ich behutsam. »Unmöglich! Denk an deine Zeitung ...«

»Und spare ich nicht damit einen Wintermantel?« wandte er ein.

»Wir leben jetzt im Mai! Bis dahin ists lange. Haben wir schon jemals an den andern Tag gedacht?«

Doch Peter gab sich nicht gefangen. Zuzutrauen war es ihm ja nicht. Dennoch war er in der Jägerfrage gut bewandert.

»Freilich«, meinte er, »hundert Mark bezahle ich nicht für meine Kleider. Ein Dandy zu sein, dafür danke ich ... Aber du weißt doch, ich habs dir ja bereits mal gezeigt« – er lächelte wieder still verklärt –, »wie billig man schon die Jägerschen Kleider bekommen kann ...«

Ja, das war richtig! Auf der Leipziger Straße, dort, wo jetzt der Wertheimsche Warenpalast sich erhebt, lag damals unter vielen anderen Häusern noch »Die goldene 110«, ein Kleiderparadies, das sich eines gewaltigen Zuspruchs erfreute. Nirgendwo sonst kaufte man so billig. Trotzdem konnte diese »110« alltäglich in den Zeitungen eine große Anzeige erscheinen lassen, die von der poesiebegabten Gattin des Geschäftsinhabers stets mit immer neugefaßten Dutzendversen sinnig eingeleitet war, die auf die reichen Schätze hinwiesen. Da gab es auch schon Wollanzüge á la Jäger, prima Qualität, Stück für Stück zehn Mark. Die Masse mußte es bringen.

Am Nachmittag war Peter plötzlich verschwunden. Erst gegen Abend kehrte er wieder heim, glücklich, strahlend. »Na«, sagte er und drehte sich einige Male wie ein Kreisel herum, »wie seh ich nun aus?« Staunend, bewundernd nur konnte ich ihn ansehen. »Ausgezeichnet, herrlich!« stammelte ich. »Damit wirst du Eroberungen machen. Du bist schon ein verteufelt hübscher Kerl, und in so einem funkelnagelneuen Anzug á la mode kommt das erst recht zur Geltung.« Wie angegossen saß ihm der blaugrünflimmernde Wollanzug, das kecke Normalgewand Jägerschen Regimes. »Natürlich á la Jäger aus der Goldenen 110«, erklärte Peter. »Aber ich sehe wirklich keinen Unterschied.« Ich war genauso klug wie er und sah auch keinen. Nur unsere Wirtin, die hereingerufen wurde, um zu bewundern und das Kleinod auf seinen Wert hin zu schätzen, warf einen Gifttropfen in unseren Festwein. Sie nahm eine Falte des Stoffes zwischen Daumen und Zeigefinger, zwirbelte sie etwas hin und her und sagte ziemlich kühl und ablehnend: »Goldene 110!«

»So? Ja! Allerdings!« fuhr Peter sie etwas unwirsch an, um dann in milderem Tone triumphierend fortzufahren: »Und wie hoch schätzen Madame?«

»Na«, meinte diese, »von den ganz teuren zu zehn Mark wirds ja wohl nicht sein ... Sechs, sieben Mark.« Sie sprach ganz hochdeutsch, sachlich.

Mit fast feindseligem Auge blitzte Peter sie an, zuckte dann mit den Achseln, lächelte hoheitsvoll geringschätzig und sagte langsam, gedehnt: »Nein, Allergnädigste, Sie irren mal wieder ... Fünf-und-sech-zig-Mark! So stimmt's . . .«

Eine gelle Hohnlache war die Antwort: »Die Judenbande! Natürlich; Ihnen sieht ja jeder gleich an, was Sie davon verstehen. So ein Kindskopf wie Sie ... Beschwindelt haben sie Sie – gründlich! Hereingefallen sind Sie – selbstverständlich ...«

Am dritten Tage nach diesem Ereignis schlenderten Peter und ich an einem heißen Frühlingsnachmittag gemächlich durch den Tiergarten. Ein Gewitter zog jäh herauf, ein Regenschauer prasselte hernieder und durchweichte uns gründlich. Doch bald darauf war alles wieder vorüber, und die Sonne strahlte mit alter Glut. Plötzlich blieb ich stehen und blickte mit starren Augen an Peter hinauf und herunter und stammelte entsetzt: »Um Gottes willen, die Hose, die Hose! Was ist mit deiner Hose los? Sie läuft zusammen. Wird immer kleiner ...«

Es war kein Zweifel. Zusehends kroch sie mehr und mehr in sich hinein, wurde immer enger und schloß sich stets fester und praller um die Beine. Schon reichte sie nicht mehr bis an die Knöchel und ließ die Schuhe völlig frei. Auch die Rockärmel waren auf der Wanderschaft begriffen und zogen sich still und sacht nach den Achseln hinauf. Eng wie ein Trikot schnürte sich das Gewand fest und prall um den Leib zusammen.

Ein frecher Bengel pflanzte sich mit ausgegrätschten Beinen vor Peter auf und lachte ihn aus: »Herrje, der dumme Aujust aus 'm Zirkus! Se wolln wol ne Vorstellung jratis jeben, Männeken?«

Auch Peter sah und tastete mißtrauisch an seinem Jägergewande herunter und schüttelte mit dem Kopf: »Merkwürdig. Wie das nur kommen mag?« Auch ich stand vor einem Rätsel und konnte ihm weiter keine Auskunft geben. Der Schrumpfprozeß aber machte in den nächsten Tagen geradezu reißende Fortschritte. Immer mehr nahmen Rock und Hose durchaus alle Formen eines den Gliedern eng sich anschmiegenden Badeanzuges an, und kleiner, kleiner wurden Ärmel und Beinkleider und reichten bald nur noch eben über die Ellbogen und Knie hinweg. Auch lösten sich plötzlich und völlig unerwartet ohne weiteres größere und kleinere Stoffteile aus der Umgebung los und ließen nur noch Löcher sehen.

Ich muß bekennen, daß ich in diesen Tagen, wenn Peter zum Spazierengehen aufforderte oder wichtige Gänge für seine Zeitschrift zu tun hatte, stets neue Gründe besaß, notwendig zu Hause bleiben zu müssen. Es regneten nach meinen Behauptungen die Aufträge, Feuilletons zu schreiben, geradezu auf mich herab. Besorgt aber blickte ich auch stets meinen lieben Gefährten an, wenn er glücklich wieder heimkam. Er war dann merkwürdig hochrot im Gesicht, blickte arg verdrießlich und beschämt drein und sah mit geradezu feindseligen Augen, soweit Peter feindselig blicken konnte, an seinem Normalgewand à la Jäger herunter. Eine Woche war seit jenem denkwürdigen Tage verflossen, da Paeschke mit fünfhundert Mark zu ihm gekommen war und er in der »Goldenen 110« sich das köstliche Wollregime-Juwel erstanden hatte, da kam er besonders erregt von einem seiner Geschäftsgänge zurück. Er sprach von einem Zusammenstoß mit einem Polizeimenschen. Es wäre verboten, sich im Badekostüm öffentlich auf der Straße zu zeigen. Das verstoße wider den Anstand und die Sittlichkeit. »Wollregime! Normalkleidung! Nie wieder!« lachte Peter bitter auf, riß sich im Handumdrehen Rock, Weste, Hose vom Leibe und warf sie zusammengeknüllt in die Ecke. Von neuem schlüpfte er wieder in meinen alten, alten schwarzen Gehrockanzug, dehnte sich zwei Minuten lang besonders wohl und behaglich darin und lächelte dann in höchsten Maße glücklich und verklärt: »Ich habe aber etwas mitgebracht ...«

Ja, er hatte etwas mitgebracht. Trotz aller goldenen Hundertzehner und ihrer 65-Mark-Schleuderpreise gab er einen herrlichen, von wunderbaren Begeisterungen durchloderten, feierlichen und weihevollen Abend. Auf seinem Höhepunkte öffnete Peter langsam ein großes, schweres Paket und reichte mir ein Päckchen Zeitungsblätter herüber, im Großformat politischer Tageszeitungen. Sie rochen noch ganz frisch nach Druckerschwärze.

Einen Blick auf das Papier, und mit einem hellen Freudenschrei hopste ich vom Stuhl in die Höhe. In einem fort schüttelte und drückte ich Peter die Hand, beide Hände und stammelte, jauchzte ihm Glückwünsche zu. »Herrlich, herrlich«, sagte ich. »Und wie rasch das gegangen ist. So schnell hätte ich doch nicht gedacht.« – »Ja«, meinte er mit der Miene eines vornehmen, durch und durch soliden Kaufmanns, »wenn man alles gleich bar bezahlt auf Heller und Pfennig, die Hälfte im voraus, dann machen die Leute schon Beine. Das tun natürlich die andren Verleger nicht, auch nicht die reichsten.« Das Wort »die andern Verleger« schmeckte und kostete er langsam mit der Zunge aus und sonnte sich in seinen Farben und seinem Leuchten. Ja, da hielt ich sie nun wirklich in meinen Händen, die neue Zeitschrift, erster Jahrgang, Nummer I:

Kritisches Schneidemühl
Wochenschrift für Dichtung, Kunst und Kritik
Herausgeber: Peter Hille

Aber dann gab es mir plötzlich einen tiefen Stich ins Herz, ich fühlte, wie ich ordentlich bleich wurde, und sah erschrocken den Freund an. Zuerst wagte ich gar nicht zu sprechen. Aber wissen mußte er es doch. Und weit ausholend fing ich behutsam ganz allgemein zu schimpfen an, über den ewigen, ewigen Plageteufeln aller Buch- und Zeitungsschreiber, über blödsinnige Setzer und hinterlistige Korrektoren. »Hast du es denn selber gar nicht bemerkt, unglückliches Menschenkind. Hast du denn selber nicht die Korrektur gelesen?« schrie ich zuletzt Peter an. »Das ist ja ein haarsträubender Druckfehler, der in die Literaturgeschichte noch übergehen wird, wie der in Uhlands erster Gedichtsammlung ›Leder seid ihr meine Lieder‹, während doch der Dichter seine Lieder als Lieder bezeichnen wollte.«

»Ein Druckfehler?« fragte Peter aufhorchend. »Wie? Wo denn?«

»Ja, bist du denn blind? Gleich die beiden ersten Worte, denke doch nur, die ganze, dicke, fette Überschrift in den Riesenlettern. Da steht ja wirklich und wahrhaftig: ›Kritisches Schneidemühl‹...«

»Allerdings! Hast du vielleicht etwas dagegen einzuwenden?«

»Aber das ist doch Unsinn. Das muß, das soll, das kann doch nur ›Kritische Schneidemühle‹ heißen. An eine Schneide-, eine Sägemühle hast du doch gedacht, die alles kurz und klein macht. Schneidemühle der Kritik. Ein durchaus guter, vortrefflicher Vergleich...«

»Ja«, antwortete Peter und sah mich etwas mitleidig an. »Genau dasselbe haben mir die Setzer auch gesagt. Allerdings, auch an eine Schneidemühle habe ich wohl gedacht. Aber sehr neu und originell«, triumphierte er, »wäre das nun gerade nicht gewesen.«

»Schneidemühl! Schneidemühl! Aber das ist doch eine Stadt in Posen, Regierungsbezirk Bromberg, hat ein Oberlandesgericht. Man müßte ja beinahe glauben, du meintest...«

»Natürlich meine ich Schneidemühl, die Stadt Schneidemühl. Sächlichen Geschlechts! Darum ›Kritisches Schneidemühl‹ ...«

Fassungslos und starr sah ich ihn an. An langen Stielen krochen meine Augen aus ihren Höhlen hervor. Umsonst suchte ich nach den Zusammenhängen zwischen der Stadt Schneidemühl und Peter Hilleschen Literaturzeitungen und Kritiken.

Aber Peter hielt mir einen halbstündigen Vortrag darüber, wie sich auf vielen Umwegen und Stationen alle Literatur in Kritik, alle Kritik in eine Schneidemühle und diese in die Stadt in Posen leicht und notwendig, umwandeln konnte. Das Oberlandesgericht war der letzteren höchste Auszeichnung. Solch ein Oberlandesgericht wollte auch die neue Zeitschrift sein. Und nur 14 000 Einwohner besaß die Stadt. Da verstehen sich die Leute besonders darauf, die lieben Nächsten durchzuhecheln und ihnen gründlich den Kopf zu waschen und so weiter. Peter entwaffnete mich, und als ein völlig Bekehrter konnte ich ihm nur zustimmen. Es war kein Druckfehler. Einzig und allein »Kritisches Schneidemühl« mußte und durfte die Zeitschrift heißen.

Am nächsten Morgen gings eifrig an die Arbeit. Ich hatte die Ehre, mitzuhelfen. Die ersten Exemplare wurden für die Post zubereitet und mit Adressen versehen, um den Weg zum Herzen des deutschen Volkes zu finden. Selbstverständlich war Peter das alles in einem: Herausgeber und, wie man damals noch allein sagte, Redakteur, sein einziger Mitarbeiter, Verleger, Packer, Kommissionär und Sortimenter. Es galt, Rezensionsexemplare an die Zeitungen zu senden und Probenummern an alle Freunde und Bekannte sowie an die hervorragenden Größen der Literatur, um sie zum schleunigsten Abonnement zu verlocken. Hundertundfünfzig Postsendungen, jede ganz richtig mit einer Dreipfennigmarke beklebt, lagen zuletzt sauber aufgestapelt vor uns. Hurtig wurden sie zur kaiserlichen Behörde geschafft, und auf dem Heimweg verschwanden wir zuerst noch in einer Weinkneipe, um bei einer Flasche Rotspon den festlichen Tag würdig zu begehen. Der Himmel hing voller Geigen, Trompeten, Flöten und Klarinetten, voller Trommeln und Pauken.

Und wahrlich, die heißen Segenswünsche, die wir »Schneidemühl« auf seinen ersten Weg mitgegeben hatten, schienen erhört zu werden. Ganz unerwartet rasch kam die erste Antwort, ein jubelndes Echo. Schon am zweiten Tage später stürzte Peter aufgeregt, mit selig leuchtenden Augen in mein Zimmer, machte ein paar Luftsprünge und warf mir einen Brief auf den Tisch: »Da lies! Der erste Abonnent! Und was für einer!«

Schon war ich in die Lektüre versunken. Ein Schreiben, acht Seiten lang. Wirklich, Peters Aufregung, Jubel und Freude, darüber war das Selbstverständlichste von der Welt. Über und über strömte der Brief von lodernden Begeisterungen und heißen Bewunderungen. Ein Kenner sprach. Er nannte Peter einen Hamann Magus redivivus. Er feierte ihn als den originellsten Kopf der Gegenwart, der wie kein anderer in die tiefsten Geheimnisse des dichterischen Schaffens hineingespürt habe. »Wir müssen uns näher kennenlernen, wir müssen Freunde werden, wir gehören zusammen«, hieß es in dem Brief. Ein Ereignis wäre das Erscheinen des »Kritischen Schneidemühls«. Alle Zukunft würde davon sprechen. Wie eine Fanfare tönte das Wort hinein in die Sticklüfte der Literatur von heute. Eine Zeitschrift wie diesem wäre schon immer die tiefste Sehnsucht und das lebendigste Bedürfnis der jungen Dichter gewesen. Um sie werde sich die ganze neue Generation scharen: »Ich wäre glücklich, wenn ich Ihr erster Abonnent wäre. Aber senden Sie mir umgehend noch vorläufig weitere fünfundzwanzig Exemplare, um damit in meinen Kreisen für das herrliche Blatt weiter zu werben«, sagte der Briefschreiber.

Mit pochendem Herzen hatte ich gelesen. »Wunderbar, wunderbar«, konnte ich nur stammeln, und drückte Peter fest und innig die Hand. »Gratuliere, gratuliere. Vivat sequens!«

»Ja, wohl tut es schon«, antwortete er leise und ergriffen. »Besser als in meiner Zeitschrift konnte ich das Geld wohl nicht anlegen. Dessen bin ich jetzt vollkommen gewiß. Wenn ein solcher Mann mir solch ein Zeugnis ausstellt...«

»Detlev von Liliencron!« nickte ich. »Wahrhaftig, darauf kannst du stolz sein. Voilà un homme!«

»Detlev Freiherr von Liliencron«, wiederholte Peter. »Ich möchte mich am liebsten gleich hinsetzen und ihm rasch wenigstens eine Karte schreiben, ein ganz knappes Aphorisma nur. Ach was ... Ich werde ihm einfach schreiben, was – du weißt ja – Victor Hugo mir damals auf einen bewundernden Brief antwortete: ›Vous êtes un homme.‹ Auch Liliencron ist einer! Kurz, knapp und schlagend möchte ich ihm auf einer Postkarte nur diese vier Worte schreiben, natürlich auf deutsch: ›Sie sind ein Mensch.‹«

Selbstverständlich, an diesem Tage arbeiteten wir nicht weiter. Peter war zu selig, zu aufgeregt. Die Abonnentengelder strömten in völlig erdrückender Fülle über ihn herein. Da konnte man es sich schon leisten. Bald saßen wir bei einer Flasche perlenden Sektes, und diesmal hatte der reiche Verleger und Zeitungsherausgeber sogar auch gleich zwei richtige Champagnerkelche mitgebracht. Immer wieder leerten wir das Glas auf das Wohl Liliencrons und tranken ihm im Geiste zu. Wir schwärmten von seinen Gedichten. »Ecce poeta!« sagte Peter.

Liliencrons Dichtergestirn war damals gerade am Himmel aufgestiegen. Seine erste Gedichtsammlung hatte vor kurzem das Licht der Welt erblickt. Alle Jungen horchten auf. Ein ganz Echter, ein vor allen Geweihter war unter ihnen erschienen. Auch wir verehrten und bewunderten ihn, und er hatte sich uns tief in die Seele hineingesungen. Freilich, das war schon ein Glückspilz – dieser Liliencron! Mit vollen Händen hatte Fortuna alle ihre Gaben über ihn ausgeschüttet. Nicht nur die Musen bedeckten ihn mit ihren heißen Küssen. Gerade alles das auch, was wir am wenigsten besaßen, war ihm in verschwenderischer Fülle zuteil geworden. Himmel, Himmel, war der reich! Eine Welt der Verschwendung leuchtete in seinen Gedichten lockend und berauschend auf. Eine Verschwendernatur durch und durch. Auch darin ein echter Poet. Mit vollen Händen streute er das Geld nur so über die Straßen. Natürlich auch ein Don Juan! Wer konnte einem solchen Glückskind widerstehen? Die Weiber liefen ihm nach. Trunken lagen Gräfinnen und Fürstinnen in seinen Armen, doch auch Mine und Stine teilten mit ihnen seine Gunst.

Am nächsten Morgen war Peter schon ganz früh bei mir. »Ja, was mir plötzlich gestern abend durch den Kopf ging«, begann er sofort. »Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht. Ich glaube, du wirst mir recht geben. Nummer 2 muß natürlich unbedingt in acht Tagen fertig vorliegen und gleich auch verschickt werden ...«

»Gewiß! Vollkommene Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit ist bei einer Zeitung die erste, notwendigste Bedingung.«

»Manuskripte habe ich selbstverständlich in Hülle und Fülle«, fuhr er fort. »Aber – aber«, er schüttelte mit dem Kopf und blickte etwas sorgenvoll-düster drein, »das Geld, das Geld, die verfluchte Schimäre! Ich weiß nicht, ob es für den Drucker noch reicht. Die Anzahlung kann ich ihm ja freilich noch geben ... Aber dann später ...«

Ich zuckte nur traurig mit den Achseln und wußte keinen Rat. »Ja, Peter ...«

Seine Augen aber strahlten um so heller und vergnügter: »Siehst du, das ist ja gerade der gute Gedanke, der mir noch gestern durch den Kopf ging. Wahrhaftig, ein Einfall, den mir ordentlich der Himmel gegeben.«

Gespannt, erwartungsvoll blickte ich ihn an.

»Und der Brief, den ich gestern bekommen habe?« triumphierte Peter. »Denkst du denn gar nicht an den? Liliencron! Wie du weißt, ist er doch einer der reichsten Großgrundbesitzer Deutschlands, ältester holsteinischer Uradel. Ein vielfacher Millionär. Und wahrhaftig kein Geizhals. Und wie sehr er für meine Zeitschrift begeistert ist, wie hoch er mich selber persönlich einschätzt, das hast du doch auch gelesen! Nun also! Daß ihm an der Erhaltung meiner Zeitung alles gelegen sein wird, davon bin ich fest überzeugt. Daß gerade er mein erster Abonnent ist, ich betrachte es als das günstigste Vorzeichen. Eine Stimme des Schicksals sehe ich darin...«

Schon begann ich zu ahnen und atmete auf. Durch ein inbrünstiges »Ja« ermutigte ich ihn, fortzufahren.

»Eine lächerliche Kleinigkeit ists doch für ihn. Lumpige hundert, hundertfünfzig Mark. Und ich pumpe ihn gewiß nicht an. Nein, nichts weniger als das. Kurz und gut, was meinst du? Ich schreibe ihm, daß wir beide gemeinsam die Zeitschrift herausgeben werden. ›Kritisches Schneidemühl, herausgegeben von Peter Hille und Detlev Freiherr von Liliencron.‹ Meinetwegen kann auch sein Name voranstehen. Es ist vielleicht sogar besser. Einen wertvolleren Mitarbeiter kann ich mir ja gar nicht wünschen. Natürlich darf ich ihm nicht zumuten, die gewöhnlichen Redaktionsarbeiten mit zu erledigen. Dafür würde sich natürlich der Herr Magnat schönstens bedanken. Das mach ich ganz allein. Das verstehe ich von Grund auf. Es genügt vollkommen, wenn er mir außer seinen Beiträgen nur noch einiges Geld telegraphisch zuschickt oder bei einer Bank anweisen läßt. Das wird zuletzt noch ein glänzendes Geschäft für ihn, wenn er es auch allerdings nicht nötig hat. Die Reingewinne könnten wir ja schließlich teilen...«

Bewundernd sah ich zu Peter auf: »Du bist doch ein großer Geschäftsmann. Da mögen die Leute sagen, was sie wollen. Ein ausgezeichneter Gedanke. Freilich, bei dem Briefe Liliencrons hing er geradezu in der Luft. Einen besseren Mäzenas als Liliencron kann man sich schon nicht ausdenken. Ich gratuliere, Peter, aus tiefstem Herzen.«

Lachend und sich selig die Hände reibend, lief er ein paarmal in der Stube auf und ab und stürzte sich dann auf Feder, Tinte und Papier, um sein Schreiben an Herrn Freiherrn Detlev von Liliencroh so rasch wie möglich ins reine zu bringen. Es wurde sogar eingeschrieben und als Eilbrief abgeschickt. Heimkehrend von der Post, leichtbeflügelten Schritts, brachte Peter auch gleich zwei Flaschen strohumflochtenen Chiantis mit, der aus Champagnerkelchen noch besser schmeckte. Wir waren selig und feierten Stunden reinen Entzückens in immer höher gesteigerten Erwartungen des Geldes, das sich bald, bald über Peters Tisch ausgießen würde. Aus hundert, hundertfünfzig Mark wurden rasch tausend, zweitausend, fünf-, zehntausend Mark. Auch von einer baldigen Fahrt auf eines der Rittergüter Liliencrons träumte Peter.

Viel rascher noch als das vorige Mal kam diesmal der heißersehnte Brief. Fast mit Telegrapheneile. Der Eifer Liliencrons in der Beantwortung war geradezu ungewöhnlich und wahrhaft rührend. Wie tief mußte ihn das Angebot Peters ergriffen haben. Umgehend schrieb er. Welch ein günstiges Vorzeichen. Am nächsten Tage schon schwang Peter einen Eilpostbrief, sogar einen eingeschriebenen Eilbrief jubelnd in den Händen: »Er ist da! Er ist da!« Drei Mark hatte er dafür aber auch gleich dem Briefträger in die Hand gedrückt. »So ist es also perfekt«, sagte er mit befreiter Seele und holte tief Atem.

»Lies du ihn zuerst!« rief er, auf einen Stuhl sinkend. »Ich kann nicht. Ich bin zu erregt, zu glücklich. Man muß sich erst daran gewöhnen, so viel Freude des Lebens zu ertragen.«

Ich öffnete mit zitternden Händen. Dann aber leuchtete beim Überfliegen der Überschrift mein Auge auf. »Lieber Herr Hille! Teurer Meister!« las ich.

Ich wiederholte die Anrede laut und nickte Peter ermutigend zu: »Na, siehst du?«

Er lächelte geschmeichelt und sprang dann mit einem Juchzer vom Stuhl auf. »Freilich, das klingt schon anders als vor ein paar Tagen noch ... das kühle, nichtssagende ›Sehr geehrter Herr!‹ Ach, ich wußte ja, ein herrlicher Mensch ist er.« Mit großen Schritten maß er die Stube ab.

Rasch überflog ich den Brief und ließ ihn still in den Schoß sinken. Hätte ein Glas Wasser auf dem Tische gestanden, so würde ich es mit einem Sturz hinuntergeschluckt,haben. Mir wars, als wäre mir etwas in der Kehle steckengeblieben. »Nun?« fragte Peter munter.

»Er hat deinen Brief überhaupt noch nicht bekommen. Er spricht kein Wort davon. Die beiden Briefe haben sich gekreuzt«, begann ich schonend, mit leiser, tröstender Stimme. »Jetzt erst wird er auch deine Epistel bekommen haben und liest sie vielleicht in derselben Stunde wie wir die seine.«

Einen Augenblick hatte Peter etwas enttäuscht dareingesehen. Dann aber war er wieder obenauf. »Freilich, freilich! Es konnte ja unmöglich schon eine Antwort auf meinen Brief sein. Das haben wir übersehen. Warten wir also noch einen Tag ...« Er blickte eine längere Weile vor sich hin. Ich wagte nicht, die Stille zu unterbrechen. »War es aber nicht ein eingeschriebener und ein Eilbrief? ...« fragte er dann.

»Ja, genauso, wie du einen an ihn geschickt hast.«

»Dann ist es aber doch ein ganz wichtiger Brief ...«

»Gewiß! Er will dir in den nächsten Tagen Gedichte schicken. Soviel du haben willst. Auch Prosaskizzen, Novellen – was du eben magst. Du kannst auf seine eifrigste Mitarbeit zählen ...«

Peter taute wieder völlig auf und lachte fröhlich: »Herrlich! Herrlich! Natürlich, soviel er will! Gerade darum hatte ich ihn ja selber gebeten! Wie sich doch unsere Wünsche begegnen! Er soll doch gleich auch Mitherausgeber werden. Ha, das ist allerdings ein wichtiger Brief, der all unsere Unterhandlungen beschleunigt und fördert. Jetzt ist mir nicht einen Augenblick mehr bange. Wir gehen Hand in Hand. Wir haben ein gemeinsames Interesse. Die paar tausend Mark sind sicher ...«

Mit hilflosen jammernden Augen blickte ich ihn an und griff nach seiner Hand, sie leise streichelnd: »Lieber, lieber, guter Peter ... Immer nur Mut ... Kopf auf!! ... Uns kann nichts passieren ...«

»Da hast du recht«, lachte er fröhlich. Er hatte mich nicht völlig begriffen.

»Ja ... und ... und ... wie soll ichs dir nur sagen? Halte dich um Gottes willen fest, Peter ... Er ... er ... Liliencron pumpt dich an ... Vorschuß sollst du ihm schicken ... auf seine Gedichte ... Hundert Mark ... Telegraphisch, wenn eben möglich ...«

Da taumelte Peter zurück und starrte mich an mit weit aufgerissenen Mund und Augen. »Mach doch keine dummen Scherze«, wehrte er nach einer Weile ab.

»Keine Scherze – leider nicht! Hundert Mark – telegraphisch! Er hält dich für sehr ... sehr reich. Als Herausgeber einer eigenen Zeitschrift wäre es dir eine Kleinigkeit ...«

Peter faßte sich an die Stirn.

»Ich soll ... Liliencron ... Dem Millionär ... dem Großgrundbesitzer ... hundert Mark ... Unmöglich! ...«

Er riß mir den Brief aus der Hand und las ihn einmal, zweimal. Dann legte er ihn auf den Tisch zurück, wehmütig, in allen Hoffnungen geknickt und zusammengebrochen: »Es ist so ... Ich soll ihm ... hundert Mark ... telegraphisch ...«

Ein langes dumpfes Schweigen herrschte im Zimmer. Man hörte das Summen der Fliegen. »Es scheint ihm genauso zu ergehen wie uns, er hat selber nichts«, sagte Peter endlich, die Ergebnisse seines Nachdenkens in wenige Worte zusammendrängend.

»Das glaube ich auch.«

»Und fährt immer vier- und sechsspännig ...«

»Ecce poeta! Er lebt von der Phantasie, genau wie wir ...«

»Ich würde ihm ja gern helfen«, fuhr sich Peter verzweifelt in die Haare und sprang vom Stuhl auf, stieß ihn um ... »wenn er es mir vor acht Tagen geschrieben hätte, als ich die fünfhundert Mark bekam ... Aber jetzt. .. gerade jetzt...«

Ich richtete ihn auf und tröstete ihn: »Er wird sich schon durchbeißen, wie du und ich . ..«

»Kritisches Schneidemühl« aber mußte leider sein weiteres Erscheinen einstellen. Liliencron war sein erster und einziger Abonnent gewesen. Der »Vivat sequens« stellte sieh nicht ein. Und der Abonnent bezahlte nicht. Peter drang auch nicht darauf. Darin waren beide gleich großzügig ...


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