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Nachwort

1

Kaum ein Dichter der neueren deutschen Literaturgeschichte ist schon zu Lebzeiten von Gerüchten und Legenden derart umwoben gewesen wie Peter Hille. Beinamen wie »der Magus«, in Anlehnung an den von Hille verehrten J. G. Hamann, wie »Höhenstrolch«, eine von Hille geprägte Bezeichnung für literarische Außenseiter, wie »der Heilige« – so nannte ihn besonders Else Lasker-Schüler –, sprechen eine eigene Sprache.

Gefördert wurden die Legenden durch Peter Hilles unkonventionellen, auffallend antibürgerlichen Lebensstil, der sowohl auf biographische Einzelheiten als auch auf die Pflege seines künstlerischen Werkes keinen Wert legte. Die Inspiration, der Einfall waren für ihn bedeutsam, die Ausführung galt ihm wenig. So schlichen sich in die verschiedenen Lebensbeschreibungen über den Dichter Fehler ein; Außergewöhnliches, aber auch Zufälliges wurden betont und verhalfen Peter Hille zu einem Ruf, der zwischen den Polen »Vagabund« und »Genie« sich bewegte oder auch hin und wieder beides vereinte.

Die Legenden erhielten durch Hilles Tod am 7. Mai 1904 neue Nahrung. Von Mord wurde gesprochen, von Selbstmord; und bis in die Gegenwart hinein hält sich in literaturwissenschaftlichen Darstellungen das Gerücht, man habe Hille blutüberströmt tot auf dem Berliner Bahnhof Zehlendorf aufgefunden. Zu gut fügen derartige Details sich in das Leben des ewig Wandernden, des vom Geheimnis künstlerischer und sozialer Abenteuer Umwitterten ein. In Wahrheit war Peter Hilles Tod die nüchterne Folge eines Lebens in Armut und Not, eines Lebens fern der Gründerzeitfassaden und des Prunkes Wilhelminischer Militärparaden. Peter Hilles Tod war die Folge einer Krankheit, die in Kunstwerken jener Zeit – bei Zille und bei der Kollwitz – ergreifende Gestaltung erfahren hat: Man nannte sie die Auszehrung; medizinisch exakt wird sie als Tuberkulose bezeichnet. Am 27. April wurde Hille von einem Blutsturz auf dem Bahnhof Zehlendorf niedergeworfen, nachdem sich bereits Anfang April die Anzeichen für das Endstadium – Ohnmächten, Übelkeit u. a. – verstärkt hatten. Wenige Tage nach dem Blutsturz brachten die Brüder Hart den Todkranken in die Klinik von Berlin-Lichterfelde, wo Peter Hille, ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen, am 7. Mai 1904 starb.

In Mariendorf bei Berlin wurde er beerdigt; sehr viel später wurden die sterblichen Überreste von Freunden in die westfälische Heimat überführt.

Der Tod Hilles ist weniger geeignet, Legenden darum zu spinnen, als vielmehr, ihn als Symptom für die soziale Gefährdung eines Künstlers zu begreifen, der sich nicht in den kapitalistischen Literaturbetrieb integrieren ließ. Hilles Leben ist voller Proteste gegen die Degradierung der Kunst zu einer Ware. Bereits in den achtziger Jahren scheiterten seine Bemühungen, sich als Publizist den Lebensunterhalt zu verdienen; Liliencron, einer der treuen Freunde, schrieb über Hilles Versuche, in der Journalistik heimisch zu werden, 1888 an Hermann Friedrichs, einen der berühmten Verleger der naturalistischen Bewegung: »... er (Hille; R. B.) kommt immer so schlecht auf; sie hassen ihn, weil er so viel Geist hat. Ja, ja, ja, wenn einer Geist hat, der Unglückselige.« Hille ist in der Literaturgeschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts keine Ausnahmeerscheinung, kein »verirrter Deutscher«, wie ihn aus präfaschistischer Überzeugung heraus Arthur Moeller van den Brück bezeichnete, er ist vielmehr ein besonders einprägsames Beispiel in der Literaturgeschichte des entstehenden deutschen Imperialismus, wie alle Versuche scheiterten, ideologisch-ästhetische Widersprüche mit ökonomischen bzw. verlagspolitischen Manipulationen zu klären. Hille wurde zu einem Außenseiter der deutschen Literaturentwicklung, indem sich kindliche Naivität und sozialer Protest vereinigten. Beides war nur vereinbar an der Peripherie der Gesellschaft.

Der Literaturwissenschaft fiel es bis zum heutigen Tage schwer, Peter Hille einen Platz zuzuweisen: Die einen sehen ihn als späten Romantiker, die anderen als den »zigeunerhaftesten der Dichter aus naturalistischer Zeit« (Oskar Walzel). In einem war man sich einig: Er war ein bedeutender Dichter. Dieses Urteil konnte sich auf berufene Zeitgenossen Hilles stützen; Mühsam bezeichnete ihn als »Genie«, und Karl Henckell, Freund und Mitstreiter Hilles, schrieb nach dem Tode des »unstäten Genius«:

»Feinere Schwingung des Weltalls zu fühlen
Bist du begnadet, wirkender spülen
Wellen des Ozeans um deine Stirn,
Wahrer prägt sich die Welt in dein Hirn.«

Die bürgerlichen Literaturwissenschaftler der Gegenwart propagieren, daß Hille »den heraufkommenden Ideen in seiner Zeit doch sehr fremd gegenüberstand« (Alois Vogedes), und kommen damit in die Nähe Moeller van den Brucks; sie nahmen nicht wahr, daß Erich Mühsam bereits Hilles »Verbundenheit mit allen Leidenden im Wissen um Freiheit und Glück« gewürdigt hatte. Anarchist für die einen, Kirchenfeind für die anderen, katholischer Menschheitsreformator und Erziehungsfanatiker; so moralisch er, jenen erschien, so unmoralisch war anderen Hilles Leben und Dichtung. Vertreter des Fin de siécle und vorkämpferischer Gottsucher; immer wieder wurden Extreme mit Gestalt und Werk Peter Hilles in Verbindung gebracht. Dabei wurden vorhandene Gegensätze geflissentlich übersehen, so die Sehnsucht nach Frieden und die private Friedlosigkeit, das Wollen einer menschlichen Ordnung und das im eigenen Leben vorgeführte Chaos, die poetische Naivität und der Fragmentcharakter des Werkes, die sozialreformatorischen Pläne und der die Gesellschaft nur tangierende Wanderer durch Europa. Hilles oft zitierte Weltflucht war eine Ausnahme, aber nur in der Form, nicht im Inhalt. Arno Holz flüchtete nach der weithin erfolglosen Sozialkritik seiner naturalistischen Werke in die formalistischen Experimente des »Phantasus«, Johannes Schlaf in sein geozentrisches Weltbild, Gerhart Hauptmann in die verklärte Märchenwelt seiner »Versunkenen Glocke«; Karl Henckell emigrierte nach Zürich, Otto Erich Hartleben in seine Halkyonische Akademie, Richard Voß – zu dieser Zeit mit den Naturalisten verbunden und als sozialkritischer Dichter bekannt – in das Albanergebirge; schließlich war auch die »Neue Gemeinschaft« der Harts, in der Peter Hille in der letzten Zeit seines Lebens eine Ruhestätte fand, ein Zeichen dafür, wie die bürgerlichen Dichter der naturalistischen Bewegung ihre sozialreformatorischen Programme aufgaben und ihre Lebensentwürfe individualisierten. Sie alle waren ebensowenig wie Hille »unzeitgemäße Sonderlinge« {Ernst Timmermann); sondern schufen mit ihrem antiautoritären Lebensstil für ihre Kunst eine Überlebensmöglichkeit. Deshalb fügt sich diese Kunst, insbesondere die Kunst Hilles, so schwer in ein vorgeordnetes Register ein, zumal die vielfältigen Erscheinungen dieser Kunst, vereinzelt betrachtet, gegensätzliche Deutungen zulassen.

Bei aller Belesenheit, bei einer beeindruckenden literarischen Bildung verfiel Hille nirgends einer Modeströmung, sondern ging konsequent den Weg einer eigenen Welteroberung zu Ende. Sein Grundsatz war, in mehreren Varianten an verschiedenen Stellen vorgetragen: »Ich bin mir selber Gesetz: Raum aber hat es nicht nur für die Welt, so weit sie ist« (Die Hassenburg). Hier ist Hille mit Morgenstern verwandt; beide führte dieses Prinzip nicht nur zu einer fast mythischen Naturbetrachtung, sondern vor allen Dingen zu grotesk anmutenden Abbildern der Gegenwart. Hervorgehoben werden muß auch die Poesie der Kindlichkeit, die längst nicht mehr im klassischen Sinne »naiv«, sondern vielmehr in einem hohen Maße reflektierend abstrahiert ist: Die bewahrte Kindlichkeit, erhalten durch den Verzicht auf bürgerliche Sicherheit, bedeutete Sonderstellung und sicherte den Platz an der Peripherie des literarischen Marktes. Hilles scheinbare Kindlichkeit entsprach, berücksichtigt man die Mentalität des Dichters, den zur Degeneration strebenden Gestalten der Schauspiele Hermann Bahrs, den phantastischen Träumereien in Gerhart Hauptmanns »Hanneles Himmelfahrt«, den Gesetzesbrechern in den Dramen von Henrik Ibsen bis zu den Figuren der Romane von Max Kretzer. Abseitigkeit bedeutete Ausbruch aus der Uniformität der wilhelminischen Kunst; sie bedeutete auch eine überblickbare Wirklichkeit. – Mit kindlich wachen Augen und einer bewußt ungebrochenen Freude am Menschen und der Natur ging der Dichter zwischen den Dingen seiner Zeit und ihren Erscheinungen umher. Über politische Ereignisse wurde selten reflektiert – Namen wie der Bismarcks oder der des damaligen Präsidenten des Reichstages Graf Ballestrem fallen selten und dann meist in außergewöhnlichen Zusammenhängen. Aber auch die technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts, die in der naturalistischen Dichtung Bedeutung erlangten, bedeuteten für Hille wenig. Technik ist ihm ebenso perfektioniert wie die Politik, beides ist für den empfindsamen Menschen undurchsichtig, beides birgt Brutalität in sich. Dagegen setzt Hille ein natürliches Leben, das er sich jedoch nur als Traum errichten kann. Deshalb wird in seinen Gedichten kaum etwas erklärt, sie werden kaum organisiert. Die Metaphern verselbständigen sich, erhalten Eigenwert:

Knabe

Hält die Augen in die Welt
Wie zwei schwarze Renner.
Zügelt sie kaum,
Aller Helden Held:
Weit dein Traum,
Reich ohne Raum.

Auch die Landschaften in Hilles Gedichten sind, bei aller Bewegung, ja Beunruhigung in sieh ruhend und führen immer zu statischen Ausgangspunkten zurück, von denen aus; sie beschreibbar werden (»Seegesicht«). Die Bewegung vollzieht sich in Hilles Dichtung als Bestätigung einer natürlichen Welt. Alles Bewegende setzt bei Hille expressiv ein, ohne daß jedoch das Gleichgewicht der beschriebenen Landschaften gestört würde. Das Gedicht »Seegesicht« beginnt und endet mit »Die Küste ruht«. In diesen harmonisch abgeschlossenen Landschaftsausschnitten vollzieht sich das Leben der lyrischen Subjekte Hilles: Sie sind der den Menschen bedrohenden Großstadt entflohen und verschließen sich vor den industriellen Bereichen. Störungen und Gefährdungen dieser rettenden Naturinseln lassen Hilles lyrische Subjekte nicht zu; lieber verzichten sie auf Verständigungsmöglichkeiten und beschränken sich auf Gespräche mit Kindern und Vaganten. Diese Gespräche können verkürzt, aphoristisch geführt werden, so daß oftmals die Metaphern der Hilleschen Dichtung kaum noch dechiffriert werden können. Trotzdem will Hille Kunst und Literatur als »gesellschaftliche Therapeutik« verstanden wissen, wie es auf dem Titelblatt des Romans »Die Sozialisten« zu lesen ist. Aber die Verständigungsebene zwischen dem Außenseiter und der Gesellschaft ist die Ironie, die von vornherein erneut gegenseitige Mißverständnisse in sich birgt. Beispiele dafür finden sich bei Zeitgenossen und Interpreten in großer Zahl. Eines sei stellvertretend für sie genannt: Hilles »Vorgeschmack« ist eine glänzende Satire auf die Borniertheit des deutschen Militarismus; wo dieser herrscht, »wird nie die Pest der modernen Frauenbewegung Eingang finden, wird nie der Nietzsche, der Ibsen, der Jacobsen die Eschstruth verdrängen«. Diese Satire wurde von dem bekannten Hille-Forscher Walther Pfannmüller dahingehend interpretiert, daß nach »Hilles Meinung ... dieses Städtchen von den sittlichen Umwälzungen der modernen Zeit unberührt bleiben wird«!


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