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Kinderliebe

(Novelle)

So ein Kirchhof mit seinen Anpflanzungen und spielartig aus der Fläche herausgeschaufelten Gräbern hat für die Kinder etwas Anheimelndes.

Nun ist gar noch ein Brunnen da, aus dem der Gärtner des Todes an einer Welle das Wasser aufwindet, mit dem er Blumen und Sträucher erfrischt.

Da sitzen die Kinder gern und schneiden mit großem Ernst sich im Wasser längsame Fratzen.

Paul und Mariechen!

Oft hocken sie hier schon bei blassem, eben vom Schüttelfrost des Winters genesenem Sonnenschein.

Klein Mariechens Vater ist Arzt und hält den Drang des Kindes ins Freie für ein Naturgesetz, das ihm nicht verkümmert werden darf, für einen Instinktschrei, der gehört werden muß von einsichtiger Aufsicht.

Und so wuchsen sie nebeneinander auf, von Tag zu Tag, bei ungebärdiger Witterung im lau wie ein Bad geheizten Kinderzimmer, sonst hier draußen, immer aber unter den hütenden, Maschen und Schützlinge unter einen Blick nehmenden Augen einer stillstrickenden, gütesinnenden Tante.

Regte sich auch bisweilen leise Ungeduld bei ihnen, oder gelüstete es ihre kleine schelmische Schlauheit nach einem leider alsbald ertappten Triumphe: im Grunde fühlten sich beide unter dieser Obhut recht sicher und angenehm: es war das so eine Art göttlicher Vorsehung ins Irdische übersetzt, eine Schutzengelschaft mit einer Haube auf.

Und bisweilen nahm dieser Schutzengel so ein rosiges, frischgetüpfeltes, weißkerniges Wädlein und zog einen warmen, strähnig gefurchten Beinling darüber mit kühlem klapperndem Stricknadelgerüst.

Das machte dem kleinen Fuß Vergnügen, die große Zehe krümmte sich nach oben und unten vor Behagen.

Dieser muntere Fuß und dieses frische Bein gehörte vorzugsweise Mariechen. Jedoch auch Paulchen bekam seine Strümpfe; Tantchen war ja so gut und Pauls Mama tot, und die gekauften hielten so schlecht und waren auch gar nicht so warm.

Mariechen aber, als Kind des Hauses, hatte begreiflicherweise den Vorzug. Pauls Beinchen waren aber mehr gelblich bleich und seine Zehen so ernst, so ruhig und gelassen wie der Kleine selbst mit seinem kurz geschorenen großen, priesterlich ernsten Kopfe und den großen, schweren, fast schwarzen, braunen Augen.

Sie sprachen wenig, wenn sie zusammen waren.

Nur der Kleinen, die oft aufsprang und emsig hin und her eilte, während er bedacht handelte und wandelte und seinen Sand ausgoß, langsam und planhaft, als sei es ein kostbarer Samen – nur ihr ging das Mündchen.

Aber sie sprach gewöhnlich halblaut, mehr zu sich selbst.

Und doch genossen sie alles, genossen ihren wachsenden und abnehmenden Schatten, dem sie den Kopf zu zertreten sich bestrebten, als handle es sich um jene alte Schlange; genossen den großen, braunen Hund, der wohl bei ihnen vorsprach, sich zausen, streicheln, schmeicheln, ja sogar reiten ließ.

Das heißt: er duldete die Versuche; hinauf auf ihn kam keines.

Und wer hinaufkam, konnte sich nicht behaupten. Und dabei stand das gutmütige Tier ganz ruhig und lüftete seine rote Zunge.

Beide waren fünf Jahre.

Das ist das schöne Alter: die Sinne haben bereits ihre volle, eifrige Regsamkeit, aber noch immer behauptet die Kindheit ihr eigenes Reich, worin der Himmel noch so ganz voller Onkel hängt; jenes Reich, das gewöhnlich mit dem Beginn der Schule, der langsam wachsenden Pflicht und Arbeit abbricht. Aber auch ohne Schule würde diese erste Kindheit gegen das sechste Jahr aufhören, denn immer lebhafter öffnen sich die Sinne, immer mehr Welt braust hinein, und das kleine Wesen, das so gern »groß« sein möchte, drängt es selbst, diesem einzigen Zauber, diesem Dornröschentum des Lebens ein unersetzliches Ende zu bereiten.

Wie die Blume das Lächeln der Pflanze, so ist die Kindheit das Lächeln des Menschenlebens.

Aber schon die Blüte streckt und dehnt sich nach allen Richtungen und möchte lieber ganz dem Kelch entfliehen. Nur die Knospe wohnt noch traut beisammen.

Die Lebenszeit des Paradieses auf Erden ist kurz, jene glücklichen Zeiten, da alles Geschöpf: Sonne und Wauwau, Mond und Bonbon noch so köstlich eins ist und zusammen hockt in der Geschwisterschaft des All, voll drolliger Anmut, träumerisch traut.

Nichts taten sie lieber, die beiden, als nach Beendigung ihres Tagewerks, ihrer erst so gelassen und eifrig geformten Staubbauten, die vollendet dem Verfall überlassen wurden, nichts taten sie lieber, als sich an den Brunnen zu setzen. Dann legten sie wie ein paar zufriedene Götzenbilder die molligen Hände auf die Knie und führten mit ihren schwimmenden Ebenbildern da in der Tiefe feierlich stumme Mienengespräche.

Ließ Paul mit seinem großen, ernst ausgewölbten Priesterkopf einmal auf sich warten, dann ward Mariechen unruhig und sogar eigensinnig und vergaß in der Ungebärdigkeit der ihr sonst eigenen Niedlichkeit.

Der Priesterkopf seinerseits aber blieb zuerst ganz ruhig bei einem Wegbleiben der Gespielin, nur seine Augen nahmen etwas Leeres und Fragendes an.

Nach und nach aber wurde sein Gesicht geradezu verzweifelt. Endlich fiel er auf die Erde und dick stürzten die Tränen.

Erst wußte man gar nicht, was ihm fehlte, bis er auszurufen begann: »Mariechen! Wo ist Mariechen? Ich will zu Mariechen!« Damit hörte er dann gar nicht mehr auf.

Jeden Abend aber betete er:

»Ich bin noch klein,
Mein Herz ist rein,
Soll niemand drin wohnen
Als Jesus allein –
Und Mariechen«

setzte er so recht innerlich seufzend hinzu.

Paul hatte Scharlach gehabt.

Seit einigen Tagen durfte er wieder aufsitzen, aber noch nicht heraus.

Nun wars schon so lange her, seit er Mariechen nicht mehr gesehen, und immer mehr wuchs diese Sehnsucht und jeden Tag diese stundenlange hingeworfene Trauer und jeden Tag trostloser, länger und verzweifelter.

Man hätte ja nun gern seine Leidenschaft erfüllt, nun, da die Gefahr der Ansteckung für die Kleine vorüber – wäre diese nur nicht schon fortgewesen!

»Aber Paul, Mariechen ist ja gar nicht da, sie ist ganz weit weg von hier, ihr Papa und ihre Mama sind gestern weggegangen.«

»Mariechen, ich will Mariechen!«

Ja, so war es: dem Arzt hatte sich plötzlich Gelegenheit geboten zum Erwerb einer Heilanstalt. Man packte schleunig ein, und Mariechen hatte mit ihrer kleinweiblichen Lebhaftigkeit vor dieser Veränderung ganz des Abschiedes vergessen und an den eben erst vom Scharlach genesenen Spielgenossen nicht mehr gedacht, da ihr ein paarmal gesagt war, sie dürfe jetzt nicht hin.

Allmählich ward Paul stiller, aber dafür auch hoch stummer und brütender als zuvor.

Er mußte ja mit seinem Schmerz allein fertig werden, dem unfaßbaren, für den keine Linderung wuchs.

Für solchen Schmerz hat der Erwachsene ja gar kein Verständnis. »Albernheit, Faxen!« Und dabei hat man gar keine Ahnung, wie tief, märchenhaft und alles ergreifend so ein Kindergefühl geht.

Rachel weint und will sich nicht trösten lassen, denn ihre Kinder sind nicht mehr.

So bohrt auch der Kinderschmerz weiter und weiter, wenn in so einem Herzchen schon die Leidenschaft zuckt, wenn so ein unselig-unverstandenes kleines Wesen in sich einen Roman lebt zu einer Zeit, wo noch niemand das vermutet. Und nun saß der Knabe allein am Brunnen.

Neue Gespielen wollte er nicht, er schüttelte mit dem Kopfe, und brachte man sie, verhielt er sich ablehnend, so daß die Verschmähten, Gelangweilten aus seiner Gesellschaft weinend fortbegehrten.

So einen stillen Verzicht, so einen selbstverständlichen Entsagungswillen äußerte Paul, daß man nichts mehr mit ihm anzufangen wußte und ihn gewähren lassen mußte. Man sprach ihm von der Schule und versprach sich davon Wandel. Sein Gleichmut blieb, der Verzweiflung brütender Gleichmut.

Da, wie er wieder einmal trauervoll Fratzen schnitt in dem nun vereinsamten Spiegel des Trauerteiches, kam seiner regellosen verschlossenen Sehnsucht ein Gedanke, den ihm der bereits aufblitzende Schulgeist eingab, der erwägsam prüfende. Nämlich: da war doch früher noch ein anderes Mariechen?!

Eins ist nur gegangen, das andere muß noch dasein. Und da will ich hin!

Seine Sehnsucht wallt auf, sein Herzchen pocht so freudig, so schnell wie ein Weihnachtsherzchen unter kinderduftigem Christbaum, sein Seelchen steigt und steigt – und er lehnt – die Tante Schutzengel war ja auch fort! – sich über den niederen Holzrand des Brunnens.

Erschrocken fuhr das Bild darin auseinander. Erst langsam beruhigten sich die Züge des Wassers.

Einige Berge weiter aber guckte gerade jetzt Mariechen in den Spiegel und lachte sich an: sie hat einen neuen Hut bekommen, und das Band darauf war so wunderschön blau ...

Im Dorfe aber hieß es: »Winkelhagen Paul ist ins Wasser gefallen.«


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