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Peter Hilles Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Literatur läßt sich nicht in wenige Worte fassen, da das Werk des Dichters kaum unmittelbar wirkte, mittelbar aber einen großen Einfluß auf die Herausbildung poetischer Positionen hatte. Das wurde bereits in der journalistischen Tätigkeit an der Seite der Harts dargestellt. Hille war weder, wie hin und wieder behauptet, ein utopischer Sozialist noch ein Idylliker, der eine vitalistische Naturschwärmerei gegen bürgerliche Konventionen setzte. Er war auch nicht der Dichter einer »katholischen Geistesgemeinschaft« (Hans Roselieb). Hilles Dichtung war der Versuch, humanistisches Denken überall dort zu realisieren, wo die deformierte Wirklichkeit ihren Einfluß noch nicht unbeschränkt geltend gemacht hatte: bei den Kindern, bei den Außenseitern der Gesellschaft, an der Peripherie des gesellschaftlichen Geschehens, nicht zuletzt aber auch bei den sozial Benachteiligten, bei der Arbeiterklasse. Dort knüpften die Nachfolger an. – Bei den »Kommenden«, einer um die Jahrhundertwende von Rudolf Steiner geleiteten losen Vereinigung junger Dichter und Künstler, bestimmte Hille die poetische Grundrichtung in diesem Sinne; seine Lyrik wurde als Offenbarung verstanden, als Kunde von einer zwar weit entfernten, aber noch existenten Welt der Natürlichkeit. – Wilhelm Arent widmete Hille zahlreiche Gedichte und prägte für ihn den Titel »König der Aphorisme«; Karl Henckell sandte dem Toten Verse der Trauer nach:

»Ja, wir sahen dich manchesmal
Waldesdämmer im Abendstrahl
Mit lärmscheuem Schritt durchschweifen
Und nach tanzenden Sonnen greifen,
Die du mit rascher Zauberhand
In dein witterndes Wort gebannt.«

Else Lasker-Schüler sah in Hille ihren Heiligen und nannte ihn in ihrem »Peter-Hille-Buch« St. Peter. Dieses Buch gibt Aufschluß über einige Züge Hilles, die sonst kaum gewürdigt wurden, z. B. sieht die treue Begleiterin Hilles ihn in den letzten Lebensjahren u. a. als »Petrus unter den Arbeitern«, und »seine Worte wirbelten über das freiheitshungrige Volk, wie Frühlingslaub vor dem Gewitter«. Durch Else Lasker-Schüler war Hille auch mit Herwarth Walden, dem späteren Herausgeber der avantgardistischen Zeitschrift »Der Sturm« (1910–1932), und dem empfindsamen Dichter Peter Baum, bei dem Hille zeitweise wohnte, bekannt geworden. Beide Gestalten finden sich in Else Lasker-Schülers »Peter-Hille-Buch« als Goldwarth und Antinous wieder. Die Lasker-Schüler verhalf mit ihrem Buch Hille zu legendenhaftem Weiterleben, machte jedoch aus ihm, was Hille nie sein wollte, den Propheten des Vagantenlebens. Aber auch von hier aus finden sich lockere Beziehungen zum Expressionismus, wie sie sich schön von der »Neuen Gemeinschaft« aus herstellen ließen. Überhaupt scheint Hilles Einfluß auf verschiedene literarische Strömungen – die Neuromantik und den Expressionismus – bedeutsamer zu sein, als bisher angenommen wurde. Mindestens sprechen Aussagen Stefan Zweigs dafür, der in seinen Erinnerungen Hille als einen »wirklichen Dichter« bezeichnete. Auch Wilhelm Herzog schätzte Hille als Dichter sehr. Beide, Stefan Zweig und Wilhelm Herzog, bewahrten Gedichte und Briefe Hilles, die als verloren gelten, seit der deutsche Faschismus diese Dichter ins Exil trieb.

In mehreren literarischen Werken stand Peter Hille Modell für Gestalten: Ernst von Wolzogen porträtierte ihn als Dippel in der Tragikomödie »Das Lumpengesindel«, Lulu von Strauß und Torney nahm ihn als Maler Peter Holle in ihren Roman »Aus Bauernstamm« auf. Gestalten bei O. J. Bierbaum (»Stilpe«), Franz Servaes (»Gärungen«), Paul Ernst (»Der schmale Weg zum Glück«) und Wilhelm Schäfer (»Die Mißgeschickten«) zeichnen Hille nach. Bei Gerhart Hauptmann ist es der »fast immer subsistenz- und obdachlose Dichter« Peter Hullenkamp, »hinter dessen steiler gewaltiger Stirn sich eine ferne Zukunft und eine ferne Vergangenheit in ein ewig gärendes Märchen zusammenbildeten« (»Der Narr in Christo Emanüel Quint«). Mit dieser Schilderung übereinstimmend, wenn auch mit einer bösartig verzerrenden Optik gesehen, tritt Peter Hille in Karl Bleibtreus Roman »Größenwahn« als »gewisser Victor Hugo, oder Carlyle redivinus, Sagus des Nordens mit völlig verwildertem Urwaldbart und titanischem Haarwuchs« auf.

In den »Steckbriefen«, die O. J. Bierbaum unter dem Pseudonym Möbius 1900 veröffentlichte, heißt es: »In der Tat: ein Kerl zum Schieflachen! Wirklich, meine Herrschaften, ein Heiliger lebt unter euch, ein Asket und Narr, ein Weiser und ein Vagabund, einer, der innerlich in allen Zungen redet, aber doch nur lallen kann.« – In den Künstlerkreisen um 1900 wurde Peter Hille oft genannt und zitiert, und trotzdem gehörte er schon zu Lebzeiten – äußerliches Zeichen für die Unentschlossenheit Hilles – zu den Vergessenen. Nur jene Dichter, die Dichtung als Ausbruch unverbildeter Natürlichkeit betrachteten, fühlten sich Hille verbunden. Allein die kabarettistischen Texte lebten weiter und wurden bis in die Gegenwart gedruckt, obwohl gerade diese Texte am wenigsten Peter Hille entsprechen. Lediglich die »Lieder des betrunkenen Schuhus«, verwandt mit Morgensterns »Galgenliedern«, bewahren die Hillesche Naivität auch in der kabarettistischen Brechung.

Und doch wirkten Hilles Gedichte, wenn auch nicht sehr auffällig, bis in die Gegenwart nach. Zahlreiche Versuche, Auswahlausgaben herauszugeben, scheinen das zu bestätigen. – Sichtbare Zeugnisse für Hilles Wirkung finden sich im Freundeskreis Johannes Bobrowskis. Günter Bruno Fuchs, selbst um die Erneuerung eines Vagantendaseins aus Opposition bemüht, schrieb ein Gedicht »Peter Hille in Friedrichshagen« und widmete es Bobrowski. In diesem Gedicht wird deutlich, wie sich Fuchs Hillescher Methoden bedient: Konkrete

Einzelheiten, Sachverhalte stehen übergangslos neben verkürzten Metaphern, die an Hilles verselbständigte Metaphernwelt erinnern:

»Der Tag
hat seine Hunde zurückgepfiffen. Bleib zu Haus,
wenn du weißt, wo dein Haus ist. Der grüne Bettelwind
streicht um die Müggelberge herum. Baumblätter
mit alten Gesichtern
reisen über den Abend hin.«

Der Freundeskreis sah in Hille ein Vorbild und vereidigte Johannes Bobrowski als »Präsidenten des Neuen Friedrichshagener Dichterkreises« auf Hilles Satz: »Nur innerhalb der Wahrheit kann ich vergnügt und ruhig sein.« (Günter Bruno Fuchs, »Widmung an Johannes Bobrowski – den letzten Präsidenten des Neuen Friedrichshagener Dichterkreises«). Bobrowski selbst nahm Hilles Gedicht »Maienfrühe (bei Goslar)« in seine handgeschriebene Privatanthologie auf. – Die Verbindung zwischen Bobrowski und Hille ist jedoch komplizierter. Es ist einmal die Äußerlichkeit einer pedantisch ordentlichen Dichtung – Julius Hart, bezeichnete Hilles Sucht, alles zu sammeln, als »peinlichen Ordnungssinn«; so wie Hille jede Bemerkung, jeden Hinweis als Dichtung aufhob, schuf Bobrowski mit ausgeprägter Akribie seine für den Hausgebrauch bestimmten Lyriksammlungen. Es ist zum anderen, und viel bedeutsamer, die beiden Dichtern gemeinsame Besinnung auf Johann Georg Hamann. Für Hille bestätigen die Harts und Wilhelm Arent diese Beziehung, ja, Arent vergleicht Hille unmittelbar mit Hamann, indem er wie dieser »Gott-Zelte« in unverbraucht-lebenskräftiger Natur errichtet habe. Das »Genialische« ist es, was beide zu Hamann führt, die Weltsicht aus mythischer, naturmythischer Perspektive. Und schließlich verbindet beide Dichter, Hille und Bobrowski, das Verhältnis zum Wort: Beide Dichter verhalfen zeit ihres Lebens dem poetischen Wort, dem einzelnen Wort zu neuem Leben. Natur und Mensch, Mensch und Geschichtlichkeit sollten im Wort wieder begreifbar werden.

Halle-Neustadt, Mai 1973

Rüdiger Bernhardt


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