Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Dreißigstes Kapitel.

Jahr und Tag waren seit diesen Ereignissen vergangen.

Sie hatten weder im äußeren noch im inneren Leben Johannes Helmbrechts eine Änderung gebracht. Er fühlte mit einer herben Gewißheit, daß er hinfort nur noch Pflichten zu erfüllen habe, keine Rechte mehr an irgend etwas, das einer Freude ähnlich sah, in Anspruch nehmen könne. Selbst was ihn früher glücklich gemacht hatte, unter seinen kleinen Kranken sich zu bewegen, zu sehen, wie sie an ihm hingen, und sie ins Leben wieder zurückzuführen, war jetzt mit einer bitteren Empfindung gemischt, da er beständig an ein junges Leben denken mußte, das nie wieder ans Licht gerettet werden konnte. Seine Freunde und Kollegen wunderten sich im stillen, daß er das Lachen verlernt zu haben schien und höchstens ein zerstreutes, schwermütiges Lächeln seinen strenggeschlossenen Mund umflog. Was ihn so verändert hatte, darüber gingen nur unsichere Gerüchte unter seinen früheren Vertrauten um, denn er hatte eine Miene, die alle neugierigen Fragen abwehrte. Auch war kaum eine Gelegenheit dazu. Gesellschaften besuchte er nicht mehr, unter dem Vorgeben, seine Tageslast habe sich dermaßen gesteigert, daß er abends der Ruhe bedürfe. Von der allwöchentlichen Zusammenkunft der Professoren im Gasthof blieb er fern. Doch sah man oft bis Mitternacht den Schein seiner Lampe aus dem Fenster seines Arbeitszimmers in der Klinik auf die Straße hinausleuchten, da er schlaflos sich in seine Studien vertiefte, zumal seit er zum Professor ernannt worden war und seine Vorlesungen vorzubereiten hatte.

Da erhielt er eines Tages einen schwarzumränderten Brief. Auf dem Stempel stand Santa Margherita, die Handschrift war Crones.

Sie schrieb:

»Lieber Freund!

»Ich muß Ihnen mitteilen, daß vor drei Tagen mein geliebter Ätti sanft entschlafen ist. Vor einer Stunde haben wir ihn zur letzten Ruhe gebettet, er liegt unter den Lorbeern und Zypressen, an denen er im Leben seine Freude hatte, und an dem Ort, den er selbst dazu bestimmt, falls der Tod ihn hier überraschen würde. Vor zwei Wochen traf ihn ein leichter Schlag, der ihm die Sprache, aber nicht das Bewußtsein raubte. Er hatte, seit wir das Haus droben in Deutschland verlassen, eine tiefe Traurigkeit in sich getragen, ohne zu klagen. und seinen Kummer durch Arbeit zu betäuben gesucht. Das hat seine Kraft so lange vor der Zeit aufgezehrt. Ihrer hat er noch in den letzten Tagen, bis der Schlag sich stärker wiederholte und ihn hinwegnahm, beständig gedacht; ich sende Ihnen inliegend ein Blatt, auf dem er mit der nicht gelähmten linken Hand einen Gruß an Sie hingekritzelt hat. Schon früher hat er mir mitgeteilt, die Summe, die er aus dem Verkauf des Hauses am Seehof gelöst, habe er Ihnen für Ihre Klinik bestimmt. Ich werde seinen Bankier anweisen, Ihnen das Geld zu schicken. Für mich hat er überreich gesorgt.

»In wenigen Tagen, wenn all die traurigen Geschäfte abgetan sind, reise ich zu meiner Tante Corona, wo ich zunächst zu bleiben gedenke, bis sich ein Wirkungskreis für mich findet. Cattina geht mit mir. Wie viel ich ihrer Treue verdanke, kann ich nicht aussprechen.

»Ich erwarte keine Antwort auf diesen Brief. Wie teuer Ihnen der Entschlafene war, weiß ich. Er hat Ihre Liebe und Verehrung Ihnen reichlich vergolten. Jedes Wort über diese schwersten Schicksale, die arme Menschen treffen können, zeigt einem nur, daß selbst die Nächsten keine Ahnung von der ganzen Tiefe unseres Kummers haben.

»Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Daß mich diese Hoffnung nicht täusche, ist der innige Wunsch Ihrer

Crone.«

Wohl eine Stunde lang, nachdem er diesen Brief gelesen, saß Helmbrecht regungslos an seinem Schreibtisch und suchte sich in dem Gewühl seiner dunklen, schmerzlichen Gefühle zurechtzufinden. Der ruhige, fast geschäftsmäßige Ton dieser Trauerbotschaft und daß sie ihn nicht mehr mit Du angeredet, verletzte ihn tief. Er fühlte, daß sie ihn hinfort als einen Fremden betrachtete, wenigstens betrachten wollte, dem sie nur ein loses Anrecht einräumte, an ihren Schicksalen teilzunehmen. Dann regte sich wieder in ihm die Bewunderung für die Seelenstärke und schlichte Tapferkeit dieses geliebten Wesens, das selbst in einer Zeit schwerster Erschütterung keiner Schwäche, die ihr Gewissen verurteilt hätte, nachgab, sondern ihren vereinsamten Weg mit offenen Augen weiterging, so sehr ihr das Herz dabei blutete. Er sah sie wieder vor sich wie in der Stunde des Abschieds, jetzt nur noch rührender in ihrer Trauerkleidung, die sanften Augen wie von überirdischem Glanze leuchtend, noch halb ein Kind und doch schon eine Heldin, die den Kampf des Lebens und alles Grauen einer freudlosen Zukunft willig auf sich nahm, nur um sich nicht mit ihrem Herzen zu entzweien.

Er drückte die Hände vors Gesicht und schluchzte bitterlich in sich hinein. Dann, nachdem der Krampf des Schmerzes sich gelöst hatte, nahm er ein Blatt und schrieb hastig einen langen Brief, in dem er sein ganzes Herz ausschüttete, alles, was er in diesem langen Jahr gelitten hatte, und sich leidenschaftlich bemühte, was zwischen ihnen stand, ihr als ein Wahngebilde darzustellen, als den unseligen Selbstbetrug eines überspannten Gefühls, woran nun das Lebensglück zweier Menschen zugrunde gehen solle. Er beschwor sie, jetzt, da sie ihre teuerste Stütze verloren, sich zu erinnern, daß noch ein Mensch lebe, der ein Recht darauf habe, mit treuem Herzen und starkem Arm sie durchs Leben zu führen und ihr den weiblichsten Wirkungskreis zu bieten, den sie nirgend sonst werde finden können.

Als er den Brief überlesen hatte, zerriß er ihn. Er sah ein, daß es viel zu früh wäre, jetzt schon auf ihren Verstand wirken zu wollen, da sie noch ganz in ihrem übermächtigen Gefühl befangen war. So schrieb er einen zweiten, viel kürzeren, wenn auch von wärmster Mittrauer erfüllten Brief und bat sie am Schlusse nur, ihm, wenn sie sich ein wenig beruhigt, ihre neue Wohnung anzugeben und dann und wann eine kurze Nachricht, wie sie ihr Leben eingerichtet habe.

Hierauf kam, wiederum durch Jahr und Tag, keine Erwiderung. So stand es denn unwiderruflich fest, das letzte Wort zwischen ihnen sollte gesprochen sein.

Es war eine glückliche Fügung, die ihm von außen zu Hilfe kam, ihm keine Zeit lassend, sich in seine dumpfe Entsagung immer tiefer hineinzuwühlen. Eine Erbschaft von jener Gönnerin, die schon früher sein Kinderhospital reich bedacht hatte, machte es ihm möglich, für seine Klinik ein völlig neues Gebäude aufzuführen, mit allen zweckmäßigen neuen Einrichtungen, wie er sie in dem alten nicht mehr hatte durchführen können. Das nahm ihn ein volles halbes Jahr so streng in Anspruch, daß er daneben nicht an das denken konnte, was ihm fehlte und in alle Zukunft fehlen würde.

Als das ansehnliche Haus, vor der Stadt in einem großen Garten gelegen, fertig stand und von seinen kleinen zeitweiligen Bewohnern bezogen worden war, stellte sich heraus, daß die bisherigen Pflegerinnen den neuen Anforderungen und der erweiterten Zahl der Betten nicht mehr genügten. Der Direktor mußte seinen weiblichen Stab ergänzen und schritt unverweilt dazu, indem er sich zunächst an einen Kollegen in der nächsten großen Stadt wandte, mit dem er schon längere Zeit in wissenschaftlichem Verkehr gestanden hatte.

Er machte sich endlich auf, um die Sache in Person zu betreiben, und überließ für einige Tage seinem Assistenten die Aufsicht über die Klinik. In der größeren Stadt fand er ein Krankenhaus in größerem Stil, in dem die Abteilung für die Kinder nur eine Enklave bildete. Schwestern vom roten Kreuz war hier die Pflege anvertraut, während Helmbrecht es vorgezogen hatte, seine Wärterinnen aus jungen und älteren Mädchen zu wählen, die sich ihm selbst dazu anboten, und ihre Ausbildung zu dem verantwortungsvollen Dienst selbst zu übernehmen. Schon das nonnenhaft feierliche schwarze Habit anderer Pflegeschwestern schien ihm nicht geeignet, auf eine fiebernde Kinderphantasie wohltätig zu wirken. In seiner Klinik hatte er einen hellen Anzug mit weißen Häubchen und Schürzen eingeführt und hoffte, wenn er hier seinen Zweck erreichte, die Mädchen, die er anwerben würde, bewegen zu können, daß sie sich auch in die Uniform seines barmherzigen Trüppleins stecken ließen.

Daß wenig Aussicht dazu war, bei ihm zu finden, was er suchte, verhehlte ihm sein Kollege nicht, während er ihn durch die Säle führte, an den kleinen Betten vorbei, deren halbwüchsige Insassen meist schon in der Genesung begriffen waren. Als sie sich dem Saal der schwerer Erkrankten näherten, wurde der Direktor abgerufen. Treten Sie nur einstweilen ein, sagte der alte Arzt. Ich werde gleich wieder bei Ihnen sein. Die Schwester, die drinnen die Aufsicht hat, ist eine meiner intelligentesten Gehilfinnen und wird Ihnen jede gewünschte Auskunft geben.

Es war ein heller, luftiger Raum, in dem nur sechs Betten standen, drei von ihnen leer. Aus zweien klangen unruhige Schlaftöne und blickten kleine vom Fieber gerötete Gesichter unter den reinlichen Decken hervor. In dem dritten Bettchen saß ein etwa sechsjähriger Knabe halb aufgerichtet, den blassen Kopf gegen zwei weiche Kissen zurückgelehnt, die kleinen mageren Hände ruhig auf der Decke liegend. Er hatte, als Helmbrecht eintrat, die großen dunklen Augen weit geöffnet vor sich hin gerichtet und horchte gespannt auf das, was die neben ihm sitzende Wärterin aus einem Märchenbuch ihm vorlas.

Als der Schritt des Besuchers sich näherte, wandte die Leserin sich um und fuhr mit einem unterdrückten Ausruf des Erschreckens in die Höhe. Auch Helmbrecht war wie gebannt stehen geblieben. Crone! rief er. Ist es möglich? Du – Sie hier?

Sie blieb stumm, die Bewegung war zu mächtig, um sie sogleich zu beherrschen. Er hatte Zeit, sie zu betrachten, wie sie, so ganz eine andere, als die er verlassen hatte, und doch dieselbe vor ihm stand. Auch sie trug eine Art Diakonissenhabit, doch nicht nach der strengen Fasson, einen blauen Rock, von dem der schneeweiße Überwurf fast nichts sehen ließ, und einen breiten gestärkten Leinwandstreifen über dem braunen Scheitel. Unter dieser gegen ihre frühere lose Haartracht sehr veränderten Frisur fand er das geliebte junge Gesicht wieder, den mädchenhaft zarten Umriß jetzt etwas voller und reifer geworden, den Ausdruck des charaktervollen Mündchens etwas ernster und leidvoller, die Augen aber noch mit dem ganzen dunklen Jugendfeuer und die samtbräunlichen Wangen durch die Erschütterung über das plötzliche Begegnen gerötet.

Crone, sagte er endlich, wie kommen Sie hierher? Seit wann sind Sie hier? Wie geht es Ihnen? Warum haben Sie mir nicht –

Er stockte. Die letzte Frage konnte er sich ja selbst beantworten.

Sie hatte sich endlich gefaßt.

Wie es mir geht? sagte sie mit der weich verschleierten Stimme, die ihm beständig nachgeklungen hatte. Wie es einer Einsamen gehen kann, die sich doch nicht vor den Menschen verschließen will, solang' sie noch zu etwas nutz ist. Das konnte ich bei der Tante mir nicht einbilden. Die lag mir immer an, mein bißchen Musik und Blumenmalerei weiter zu üben, ich sollte es zu einer Konzertgeigerin bringen. Daß ich dazu nicht Talent genug hatte, wollte sie nicht einsehen. Sie wissen ja, was ich an Musik habe, steckt in meiner Seele und wird nur lebendig, wenn niemand zuhört oder ein paar sehr vertraute Menschen. Wie ich damals in dem Konzert für die Abgebrannten spielen konnte, ist mir heute noch ein Rätsel. Aber freilich, damals – Sie verstummte. Sie brachte es nicht über die Lippen, zu sagen, daß sie ja nur für ihn gespielt und aller anderen Zuhörer vergessen hatte.

Der Knabe zupfte sie leise am Ärmel. Lies weiter! flüsterte er mit einem heiseren Stimmchen.

Wart nur ein wenig, Fritzchen! wandte sie sich zu ihm und streichelte seinen Kopf mit den dünnen braunen Haaren. Du sollst gleich weiterhören.

Sie warf Helmbrecht einen schmerzlichen Blick zu, der ein inniges Mitleid mit dem armen Rettungslosen aussprach. Er ist so lieb und brav, der Fritz, sagte sie dann, und mein Herzblatt. Nur daß Tante Crone auch noch an andere denken muß, will ihm nicht ein. – Sie nannte dann den bösen lateinischen Namen der Krankheit, die ihn auszehrte. Einen Augenblick schien es, als ob sie Helmbrechts Anwesenheit ganz vergessen hätte.

Und Sie haben sich ganz diesem Beruf gewidmet? auf jedes eigene Glück für immer verzichtet? wagte er leise zu fragen.

Ich kann mir kein eigneres denken, erwiderte sie, jetzt ruhig vor sich hinblickend. All diese jungen Herzen eigne ich mir ja an, wenn ich ihnen helfen und wohltun darf. Und so bin ich nie einsam, denn an Hilfsbedürftigen fehlt es ja nie. Die Tante verstand mich nicht. Sie sprach immer davon, daß ich mich verheiraten müsse, der Ätti hatte begriffen, daß davon nicht die Rede sein könne. Auch der junge Baron – Sie entsinnen sich – der tauchte in Zürich wieder auf, auch er wollte nicht einsehen, daß ich ihm keine Hoffnung machen konnte. So lebte ich müßig hin, wollte und wünschte nichts, als in der Stille an das zu denken, was ich verloren hatte, und mit der Cattina davon zu sprechen. Da starb auch die, nun erst kam ich mir ganz verwaist vor, da litt es mich nicht mehr ohne eine rechtschaffene Arbeit, ich sagt's der Tante und ging von ihr, trotz ihres eifrigen Widerspruchs, und hab' es keinen Augenblick bereut.

Ich habe meine Lehrzeit im Mutterhaus zu Neu-Dettelsdorf durchgemacht, bin aber nicht bei den Diakonissen eingetreten. sondern habe mich als Pflegerin unabhängig erhalten. Ich wohne auch nicht im Krankenhause, sondern bei guten Leuten nahebei.

Sie schwieg, und auch er fand nicht gleich das rechte Wort, ihr zu sagen, was er auf der Seele hatte. Erst als ihm schien, als wünsche sie das Gespräch zu enden, um sich mit dem Knaben wieder zu beschäftigen, fing er mit etwas unsicherer Stimme wieder an: Ich sollte Ihnen böse sein, liebe Crone, daß Sie sich nicht an mich gewendet haben, da Sie doch einmal den gleichen schweren Beruf erwählt haben. Bin ich Ihnen wirklich so verhaßt, daß Sie selbst zu einem guten Zweck meine Nähe meiden müssen?

Sie wurde dunkelrot.

Das kann Ihr Ernst nicht sein. Aber daß es Ihnen unerträglich sein muß, mich in Ihrer Nähe zu sehen, die schuld an Ihrem schwersten Lebensschicksal war, das ist meine feste Überzeugung. Und darum konnte ich nur wünschen, tot für Sie zu sein und Sie nie mehr an mich zu erinnern.

Nein, Crone! rief er lebhaft und faßte ihre Hand, die sie ihm noch nicht gegeben hatte und auch gleich wieder entzog, Sie sind im Irrtum. Ich habe Ihnen nie die Schuld gegeben an dem Unglück, das mich betroffen. Wenn hier von Schuld gesprochen werden kann, wo ein hartes Schicksal über uns kam, so trifft sie mich, und ich bin es, der zu büßen hat. Ich habe die Buße nach Ihrem Willen, den ich ehren mußte, auf mich genommen und darauf verzichtet, Sie anderen Sinnes zu machen. Aber Sie sollten billig sein, liebe Crone, und was ich gefehlt, mich nicht härter entgelten lassen, als für Ihre eigene Ruhe nötig ist. Warum müssen Sie mir für immer fern bleiben, auch wenn Sie darauf bestehen, daß ein innigeres Band, als ein geschwisterliches, uns nicht verbinden dürfe? Ich sehe Ihr teures Bild ja doch immer vor mir, auch wenn wir getrennt sind, und jetzt, da Sie in der Welt allein stehen, warum sollten Sie mir nicht leibhaftig nahe bleiben, es müßte denn sein, daß mein Anblick Ihnen beständig schmerzliche Gefühle erweckte, da Sie, so sehr Sie sich bemühten, mir doch nie wahrhaft vergeben könnten, was ich auch an Ihnen verschuldet habe?

Sie schüttelte langsam den kleinen Kopf. Nein, sagte sie ernst, das ist es nicht – das wahrlich nicht – und doch –

Nun denn, fiel er ihr ins Wort, könnten wir nicht versuchen, in gemeinsamer Arbeit unsern Weg nebeneinander fortzusetzen, wie zwei einsame Wanderer, die sich über eine Dornenhecke hinüber dann und wann zur Herzstärkung schweigend die Hand reichen und dann weiterwandern? Sehen Sie, liebe Crone, gerade jetzt wäre mir an einer Gehilfin, die mich versteht und mein Werk unterstützen will, so viel gelegen. Meine Oberschwester verläßt das Haus im nächsten Monat, um zu heiraten. Sie wissen, daß ich keine Pflegerinnen von Profession aufnehme, sondern die Mädchen, die sich mir dazu anbieten, selbst in ihren Pflichten unterweise. Darin stand mir die nun Ausscheidende trefflich bei. Seit ich das neue Haus gebaut habe, haben sich wieder Töchter aus ärmeren und reicheren Familien genug gemeldet, da vor kurzem ein Wanderprediger über die Frauenfrage einen Vortrag gehalten hat, in dem er es als eine Pflicht der jungen Mädchen betonte, gleich den jungen Männern, die ihr Freiwilligenjahr beim Militär abmachen, gleichfalls dem Staat ein Jahr ihres Lebens zu opfern, indem sie sich in die tapfere Garde einreihen, die den Kampf mit Not und Krankheit der armen Menschheit aufnehmen. Das hat rasch gezündet, ich habe die Wahl unter einem halben Dutzend Bewerberinnen. Aber meine beste Stütze wird mir dabei fehlen, und so erscheint es mir als die glücklichste Fügung, daß ich Sie hier getroffen habe.

Mich? Sie sah ihn groß an. So jung und unerfahren wie ich bin?

Mein Kollege hat Sie mir sehr gerühmt, Ihre Intelligenz, Ihre Umsicht, ohne Ihren Namen zu nennen, und wie ich Sie kenne, liebe Freundin, wenn Sie sich entschließen könnten –

In diesem Augenblick trat der Direktor wieder ein, sein langes Ausbleiben entschuldigend. Helmbrecht teilte ihm sofort mit, daß er hier eine alte Bekanntschaft erneuert habe, und bat ihn, sein Fürwort bei Crone einzulegen, um sie für seinen Wunsch zu gewinnen.

Sie haben die Zeit gut genutzt, scherzte der gutmütige alte Herr, um hinter meinem Rücken mir meine beste Kraft abtrünnig zu machen. Aber da ich Ihre Notlage kenne, will ich Ihnen nicht entgegen sein, zumal ich ja auch nicht die Macht dazu hatte. Denn Schwester Crone ist Herrin ihres Willens, nicht einmal eine Kündigung ist vonnöten, wenn sie wollte, könnte sie sofort ihr Bündel schnüren und sich von Ihnen entführen lassen.

Die beiden Männer ließen ihren Blick auf dem Gesicht des Mädchens ruhen, das nach kurzem Kampf zu einem klaren Entschluß zu kommen schien.

Wenn der Herr Direktor, der immer gütig zu mir war, mich ohne Groll entlassen will, sagte sie, so will ich mich nicht länger dagegen wehren, neue Pflichten zu übernehmen. Doch sogleich kann es nicht sein. Ich muß zur Bedingung machen, daß ich hier bleiben darf, solange Fritzchen mich braucht. Nicht wahr, Fritzchen, Tante Crone gibst du nicht her? Die hat dir noch so viel schöne Märchen zu erzählen.

Die Augen wurden ihr feucht. Sie beugte sich zu dem Knaben hinab, der mit einem rührenden Ausdruck hilfloser Zärtlichkeit die mageren Ärmchen zu ihr ausstreckte, und küßte ihn leicht auf die Stirn.

Dann, sich wieder zu den Männern wendend, flüsterte sie mit einem Seufzer: Er wird mich wohl nicht lange mehr nötig haben.


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