Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Fünftes Kapitel.

Das Stäudlinsche Haus hatte nur einen kleinen Vorgarten, da es im Winter leer stand und niemand dann sich seiner Pflege angenommen hätte. Durch die Tür unten trat man in einen Gang, zu dessen Seite das Eßzimmer und die Wohnstube lagen, dahinter die Küche, die Kammer der Cattina und einige Wirtschaftsräume, auch ein kleines Badezimmer. Im oberen Stock dieselbe Raumverteilung, nach Westen Crones Schlafzimmer, gegenüber ihre eigene Wohnstube, wo sie tagsüber sich aufhielt, für ihre Blumenstudien in Aquarellfarben ein Maltischchen hatte, ihren Bücherschrank und Nähtisch. Oben unterm Dach nach der Rückseite lag das Atelier mit dem großen Nordfenster und eine Kammer, in der der Hausherr schlief. Er nahm mit dem engsten Raum vorlieb, damit sein Kind es desto bequemer hätte.

Aber noch auf eine andere Weise, als durch die Haustür, gelangte man in den oberen Stock. Vor diesem auf der Vorderseite sprang ein geräumiger Balkon vor, zu dem eine hölzerne Treppe vom Garten aus hinaufführte. Über dieser viereckigen Altane war ein Gitterwerk errichtet, ganz mit Jelängerjelieberzweigen umrankt, als eine schattige Laube, in der man gegen die Sonnenstrahlen hinlänglich geschützt war. Hier stand ein kleiner runder Tisch mit Berner Holzmosaik und ein Schaukelstuhl, auf dem das junge Mädchen manche Stunde mit einem Buch oder nur mit ihren Gedanken verträumte. Sie erlaubte sich das nur, nachdem sie sich neben der Cattina ihres kleinen Haushalts angenommen hatte. Abends saßen sie hier selbdritt, denn die treue Magd wurde zur Familie gerechnet, der Vater rauchte, Crone las etwas vor oder war mit einer Handarbeit beschäftigt, dazwischen wurde geplaudert, in ihrem geliebten Toskanisch, und der große Hund, Fulvo genannt, lag zu Füßen seiner jungen Herrin, behaglich knurrend, oder zuweilen laut schnarchend, wenn die Nachtkühle die drei Menschen über die gewohnte Zeit hier draußen wach hielt.

Hans Helmbrecht kannte die Hausordnung, und da es so früh am Tage war, dachte er nicht, Crone draußen auf dem Balkon zu treffen. Er wollte sie nur im Vorbeigehn an der Küche begrüßen und dann zunächst zum Vater unter das Dach hinaufsteigen. Als er sich aber dem Freitreppchen näherte, vernahm er ein lautes, freudiges Geheul aus der Laube droben, und gleich darauf sprang in zwei großen Sätzen das mächtige Tier die Stufen herab ihm entgegen und hätte seinen alten Freund beinah über den Haufen gerannt, wenn Helmbrecht sich nicht der stürmischen Begrüßung fest entgegengestemmt hätte.

Er sah zum Balkon hinauf und grüßte, mit der Hand winkend, die schlanke Mädchengestalt, die droben in einem hellen Kleide unter dem Rankengewirr regungslos stand und nur mit einem leisen Neigen des feinen Kopfes den Gruß erwiderte. Hastig sprang er die Treppe hinauf und ergriff die beiden kleinen Hände, die sie ihm stumm entgegenstreckte. Crone! rief er, Crönchen! da bin ich wieder – wie froh bin ich, Sie endlich wiederzusehn und wahrhaftig – so hätte ich Sie mir nicht vorgestellt, nachdem ich Sie so blaß und schmalwangig – nach der furchtbaren Krankheit –

Er verstummte, ganz in ihren Anblick versunken, und suchte sich in dem holden Gesicht, das so verwandelt war, wieder zurechtzufinden. Es waren noch die wohlbekannten Züge, aber nicht mehr weich und kinderhaft, sondern gereift und gefestet, auch die Gestalt aus den mageren eckigen Konturen herausgewachsen. Das feine Verhältnis, wie der kleine Kopf auf den Schultern saß, hatte sie ihm, von unten gesehen, größer erscheinen lassen, als sie war. Jetzt, da er vor ihr stand, reichte sie ihm nur gerade bis ans Kinn.

Das braune Haar, das man ihr in der Krankheit abgeschnitten hatte, war wieder gewachsen und hing in schlichter Fülle bis auf die Achseln herab, so daß es, wenn sie den Kopf vorneigte, ihr über die Stirn hereinfiel. In jedem Auge glich sie der Mutter, dasselbe gerade Näschen, das unten abgestumpft war, der schwellende blasse Mund, die kleinen Ohren. Dazu die Hautfarbe wie altes Elfenbein, nur bei der leisesten Erregung von einer rötlichen Blutwelle durchschimmert, um die Augen ein bräunlicher Ton. Diese Augen aber, die merkwürdig hell waren und in bläulichem Weiß schwammen, hatte sie vom Vater, auch den eigentümlich durchdringenden Malerblick, der Formen und Farben gleichsam einzusaugen schien, während die Wimpern nicht allzu häufig auf und nieder gingen.

Er hatte ihre Hände wieder freigegeben und wartete darauf, daß sie ihm irgend etwas sagen würde. Als sie aber fortfuhr, ihn schüchtern anzublicken, wobei die junge Brust beklommen atmete, sagte er endlich: Sie haben mir eine so schöne Serenade gebracht, liebe Crone. Warum aber sind Sie an meinem Fenster vorbeigegangen, ohne mir zur Gutennacht eine Hand zu geben?

Es hätte sich nicht geschickt, sagte sie leise, indem sie errötete. Warum aber sagen Sie nicht mehr du zu mir, wie früher und auch wieder gestern abend?

Weil ich am hellen Tage sehe, daß Sie kein Kind mehr sind, sondern ein erwachsenes Fräulein. Ich will aber gern wieder du sagen, wenn auch Sie mich so anreden – einen so alten Onkel – den Sie so lange kennen – jetzt schon ganze sechs Jahre –

Sie schüttelte langsam den Kopf. Es geht nicht, flüsterte sie. Sie stehn so hoch über mir.

O Crönchen, sagte er lachend, was das betrifft – reden Sie nicht auch den lieben Gott mit Du an, der doch noch ziemlich viel höher steht als Ihr alter Freund? Aber ich will nicht in Sie dringen, so was muß von selbst kommen, wenn beiden Teilen zumut ist, als wäre es sündhaft, mit dem dummen Sie fortzufahren. Nun sagen Sie vor allem: sind Sie wirklich von jedem Nachweh des schrecklichen Typhus verschont geblieben? Sie haben mir nur einmal geschrieben, und auch da nichts Genaueres über Ihr Befinden.

Sie nickte, mit einem kleinen schmollenden Zug am Munde. Von mir braucht nicht weiter die Rede zu sein, aber daß wir von Ihnen nichts mehr erfuhren, nicht einmal eine Zeile zur Antwort erhielten – es hat mich geschmerzt. Als Sie damals von uns Abschied nahmen, sagten Sie: Werde jetzt nur ganz gesund, Kindchen, du kannst mir keinen größeren Gefallen tun, und denk manchmal an mich! – Ich hab' jedes Wort von Ihnen behalten, aber Sie schienen mich ganz vergessen zu haben.

Nein, liebstes Crönchen, rief er, wie können Sie denken! Ich war nur so furchtbar mit Arbeit überhäuft, jedes nicht durchaus notwendige Wort, das ich sprechen oder schreiben sollte, war mir eine empörende Zumutung. Mein Kinderspital hat sich vergrößert, eine menschenfreundliche Gönnerin hat zehn neue Betten gestiftet, die Zahl ist nun auf vierzig gestiegen, und dabei habe ich nicht mehr Hilfe als früher. Und die Not mit den Müttern, die mich überlaufen, und daneben das Wöchnerinnenheim – wenn Sie da einmal einen Blick hineintäten –

Ich beneide Sie, sagte sie mit einem Seufzer. Sie tun so viel Gutes – ich dagegen, ein so müßiges Ding, das nur zu seinem eigenen Vergnügen lebt –

Wie können Sie das sagen! unterbrach er sie. Was würde aus Ihrem Vater ohne Sie! Und wie können Sie andere erfreuen mit Ihren Talenten, Ihrem bloßen Dasein!

Meine Talente? Sie zuckte die Achseln. Das bißchen Geigenspiel und Blumenmalen? Das treib' ich doch nur als Dilettantin, per mio diletto. Sobald ich weiß, daß fremde Ohren zuhören, wenn ich geige, bin ich so ungeschickt wie eine blutige Anfängerin. Sie freilich – Sie sind mir kein Fremder. Aber im Konzertsaal blamierte ich mich entsetzlich. Und mein Malen vollends –

Sie müssen mir zeigen, was Sie hier wieder gemalt haben. Erinnern Sie sich noch, daß Sie mir ein Blatt mit Waldblumen versprochen haben? Zeigen Sie mir Ihre Studienmappe.

Wenn Sie durchaus wollen – sagte sie und öffnete die Glastür, die vom Balkon in den Gang führte. Er folgte ihr, den Kopf des Hundes streichelnd, der sich zutraulich an seinen Schenkel gedrängt hatte. Es war ihm seltsam zumut, da er sich vergebens bemühte, den alten unbefangenen Ton ihr gegenüber wiederzufinden.

Drinnen war noch alles, wie er es in der Erinnerung hatte, die einfachen, aber zierlichen Möbel, die weißen Tüllgardinen, der blanke Fußboden, den ein leichter Teppich bedeckte, und an der Wand über dem kleinen Diwan das Bild von Crones Mutter aus ihrer Brautzeit, vom Bräutigam gemalt. Jetzt fiel ihm erst vollends die Ähnlichkeit der Tochter mit ihr auf, nur daß die Augen Teresinas anders geschnitten waren und mit der Schwärze einer reifen Brombeere unter den breiten Lidern herausglänzten.

Auf dem Maltischchen am Fenster lag ein kleines Reißbrett, auf dem das Blatt befestigt war, das Crone gestern gemalt hatte, ein zarter Feldblumenstrauß, Federnelken und Glockenblümchen, sehr leicht und geistreich hingeworfen. Loben Sie's nur nicht, sagte sie, als er es wohlgefällig betrachtete, ich hatte gestern keine gute Stunde, auch ist mir für Sie nichts gut genug, soviel ich auch schon angefangen habe. Da, die ganze Mappe ist voll Studien.

Er zog ein Blatt nach dem andern hervor und freute sich an der Sicherheit der Technik und dem Farbensinn, die weit über ein dilettantisches Talent hinausgingen. Sie stand dabei hinter seinem Stuhl und gab von Blatt zu Blatt kurze Erläuterungen. Vieles stammte aus ihrer Winterzeit an der Riviera. Ihr Gesichtchen glühte bei den lobenden Worten, die er hin und wieder fallen ließ. Plötzlich aber griff sie mit der Hand ihm über die Schulter und wollte ihm ein Blatt entreißen, das er eben herausgenommen.

Es war eine Porträtskizze, mit der Feder hingestrichelt, oder eigentlich drei Versuche auf demselben Blatt, derselbe Kopf von drei verschiedenen Seiten.

Das soll ja wohl meine Wenigkeit sein? sagte er lachend. Also auch aufs Porträtieren verlegen Sie sich? Schau, es ist gar nicht einmal so unähnlich, besonders das eine Profil. In welchem unbewachten Augenblick haben Sie mich denn so bestohlen?

Als er sich nach ihr umwandte, sah er betroffen, daß sie ganz blaß geworden war. Gleich darauf schoß ihr das Blut wieder bis zur Stirn hinauf.

Geben Sie das Blatt wieder her, stammelte sie. Es ist eine greuliche Pfuscherei. Da Sie sich nie photographieren lassen, wollt' ich mal versuchen, Sie aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Ich schäme mich, wie kläglich es ausgefallen ist.

Nein, nein, sagte er, man sieht freilich, daß Sie keine Übung haben im Köpfezeichnen, was aber die Ähnlichkeit betrifft, soviel man selber darüber urteilen kann – allerdings ist's idealisiert, indessen –

Die Tür ging auf, und der Maler trat ein. Eilig bemächtigte sich das Mädchen des Blattes, schob es in die Mappe und knüpfte sie sorgfältig zu. Dann flog sie aus dem Zimmer.

Der Vater ging auf Helmbrecht zu, der vom Stuhl aufgestanden war.

Ich wollte eben zu Euch hinauf, werter Freund, sagte dieser, indem er den Händedruck Stäudlins herzlich erwiderte (sie ihrzten sich, da sie des Altersunterschieds wegen zum Du nicht hatten kommen können und das Sie ihnen zu unherzlich klang). Euer Fräulein aber hat mich hier noch festgehalten. Ich gratuliere Euch zu diesem Kinde. Wie in ihrem Äußern und ihrer Gesundheit hat sie sich auch in ihrer Kunst seit Jahr und Tag zum Erstaunen entwickelt. Alles ist auf einmal zum Blühen und Reifen gekommen.

Ja, sagte der Maler, sie ist ein erfreuliches Menschenkind.

Sein schweizerisches Idiom klang mit den harten Kehllauten noch vor, obwohl er ein reines Hochdeutsch sprach. Langsam kamen ihm die Worte vom Munde, unter dem dichten Bart hervor, der schon leicht angegraut ihm tief über den Hals herabhing. Das Gesicht mit der breiten Nase und den starken Kinnladen war nicht schön, aber durch den Ausdruck einer gesammelten Kraft imponierend, und unter den starken schwarzen Brauen blickten die schon erwähnten hellen Augen mit einer eigentümlichen Klarheit und Stille in die Welt. Die Stirn aber, in die das sehr dicke buschige Haar tief hineingewachsen war, erhielt durch ein paar Furchen zwischen den Brauen den Ausdruck eines naiven, furchtsamen Kindes, dem die festgeschlossenen Lippen seltsam widersprachen.

Die Männer hatten sich auf das kleine Sofa gesetzt und von diesem und jenem gesprochen, was sich inzwischen ereignet hatte. Dann sagte der Vater: Mit dem Cröneli ist's immer noch ein Kreuz. Sie ist fremden Menschen gegenüber nicht verlegen, aber ich kann sie nicht dazu bringen, an irgendeiner Geselligkeit Vergnügen zu finden. Sie hat nie eine Freundin gehabt, doch auch nie eine Aussprache mit einer gleichaltrigen Genossin entbehrt und nichts anderes verlangt, als daß ihre Nächsten sie lieb haben sollten. Es ist bis jetzt kein Nachteil draus erwachsen, außer daß sie mancherlei junge Freuden nicht kennen gelernt hat. Aber auf die Länge tut es nicht gut, wenn ein junges Menschenherz sich so ins Enge zusammenzieht, gar keine Bedürfnisse hat, keine Sehnsucht nach etwas Unbekanntem. Wenn eines Tages die Menschen vor ihr dahingehn, an denen sie ihr Genüge gefunden hat, sieht sie sich plötzlich völlig verarmt.

Helmbrecht erwiderte darauf, daß gerade ihr Mangel an allgemeiner Menschenliebe einen Reiz an ihr bilde, während andere mit einem weiten Herzen auch ganz wertlose Menschen in ihr Inneres aufnähmen. Dies seltene Kind dagegen beruhe auf sich selbst und könne bei so tiefer Empfindung auch durch einen Verlust an teuren Menschen nicht völlig beraubt werden, da alles in ihr fortlebe, was sie je besessen. So fühle man ihr an, daß auch ihre Mutter ihr nicht entschwunden sei, sondern in einer fast körperlichen Gegenwart neben ihr hingehe.

Nein, sagte der Vater, er mache sich's doch zum Vorwurf, das Kind von früh an isoliert zu haben, so daß sie nie eine Schule besucht und sich mit Kameradinnen vertragen gelernt habe. Auch die Liebe zu unsern Nebenmenschen wolle gelernt und geübt sein. Komme man nachher in die fremde Welt hinaus, so werde es einem schwer, zu manchem Spiel gute Miene zu machen. Man sei eben von den Nächsten allzu ängstlich behütet und geschont worden, so daß die feine Seelenhaut sich nie gegerbt und dazu abgehärtet hätte, einen Puff zu vertragen und einen Stich nicht gleich tödlich zu empfinden. Hier freilich, bei den Kurgästen im Seehof, finde sich selten ein Wesen, das seinem Töchterli Lust machen könnte, sich mit ihm einzulassen. Ein paar Versuche, die er ihr aufgedrungen, seien kläglich mißglückt, die jungen Damen hätten Crone nach den ersten konventionellen Höflichkeiten betrachtet wie ein wildes Tierchen und sie stehen lassen. Aber es sei eben ein Kummer für ihn, und er sehe sorgenvoll in die Zukunft.

Helmbrecht, um ihn auf heitere Gedanken zu bringen, erhob sich und bat, daß er ihn ins Atelier hinaufführen möchte. Davon wollte der Alte nichts wissen.

Wenigsten heute nicht. Ihr seht da oben nichts Besonderes, nur ein angefangenes Bildchen nach einer Studie aus Santa Margherita, die ich mitgebracht. Hier oben – Ihr kennt mich ja – mit diesen schwarzen Kulissen aus Nadelholz ist mir nicht gedient. Ich muß weite Horizonte haben, architektonischen Aufbau und eine Natur, deren Maß noch immer die Menschengestalt ist. Wo die verschwindet gegen die kolossalen Massen, wo die Staffage in dem Verhältnis eines Käfers zu einem Elefanten steht, habe ich nichts damit zu schaffen. Seht, Freund, darum passe ich nicht mehr in diese Zeit, in der alles auf Stimmung aus ist, von Form und klarer Gliederung niemand was wissen will, je zerflossener und verduftender alle Umrisse, desto besser. Diese Tendenz der marklosen Auflösung geht eben durch die Welt, und ich lasse die Welt laufen, wie's Gott gefällt. Nur soll man mir das Recht nicht bestreiten, meine »Impressionen« vom Festen und Klaren und Organischen zu empfangen, wie ich's in meinem gelobten Lande erlebe. Und so fängt die Landschaft, die mich inspiriert, erst da an, wo die Zypresse und der Ölbaum gedeihen, die Häuser flache Dächer und die Menschen klare Gesichtszüge haben, nicht eine sogenannte figure chiffonnée für besonders reizend gilt. Wäre ich dreißig Jahr jünger, ließ' ich mich auch vielleicht von dem modernen Unwesen anstecken. So aber werde ich eben verbraucht werden müssen, wie ich nun einmal bin. – –

Veit Stäudlin war kein redseliger Mann. Schon in jungen Jahren, unter seinen Kameraden auf der Akademie hatte er bei fröhlichen Gelagen stundenlang dasitzen und mit seinen hellen Augen stumm, doch nicht schläfrig vor sich hin schauen können. Das hatte ihm unter der übermütigen Jugend, die ihn übrigens seines Talents wegen achtete und um seiner menschlichen Eigenschaften willen liebte, den Spitznamen »der Stumme von Zürich« eingetragen. Im späteren Leben, da er zumeist einsame Wege ging, hatte dieser Hang zu schweigendem Sinnen und Brüten nur noch überhand genommen, und vollends seit dem Tode seiner Frau hörten auch die Seinigen, selbst sein Cröneli auf langen Spaziergängen, nur wenig Worte aus seinem Munde, das Kind ohne sich darüber zu härmen, da es selbst nicht plauderhaft angelegt war. Nur Helmbrecht gegenüber fühlte der Insichgekehrte zuweilen das Bedürfnis sich auszusprechen, selbst über seine Kunst oder die Unkunst der andern, die jetzt durch die Welt ging und über die er sonst ein stolzes Schweigen beobachtete, weil er sie im Grunde nur seiner Verachtung würdigte.

Über die Tochter sprach er erst recht zu keinem Menschen, als über das Heiligste, was er besaß. Auch über sie aber vermochte der Freund, den er wie einen jüngeren Bruder liebte, sein Inneres aufzuschließen. Denn seit der Doktor sie aus jener Todeskrankheit herausgerissen und der Vater gesehen hatte, in wie heftigem Ringen er sie dem Todesengel abgewonnen, Tag und Nacht nicht von ihrem Bettchen weichend, glaubte er es ihm schuldig zu sein, auch alle anderen Sorgen des Kindes wegen mit ihm zu teilen.

Sie trennten sich im Flur mit einem warmen Händedruck, der Maler stieg zu seiner Leinwand hinauf, der Doktor die Treppe hinab, in der Hoffnung, Crone noch einmal zu begegnen. Sie blieb aber unsichtbar. Aus der Küche, wo sie sich versteckt haben mußte, da Fulvos Knurren vom Herde her klang, kam nur die Cattina gelaufen, wischte eifrig ihre Hände an der Schürze ab und ergriff dann Helmbrechts Hand, unter stürmischen Freudebezeigungen, in einem wunderlich mit italienischen Wendungen gemischten Deutsch. Das graue Haar flog ihr um die Stirn, der große Mund war weit geöffnet, so daß alle Zähne darin blitzten, die kleinen schwarzen Augen funkelten vor zärtlicher Freude, daß sie den Lebensretter der piccina (ihre junge Herrin hieß ihr immer nur die Kleine) endlich wiedersah. Sie hätten so oft im Winter von ihm gesprochen, warum er nie etwas von sich hätte hören lassen? Aber jetzt – nicht wahr? – werde er alle Tage kommen und heute gleich bei ihnen essen. Die piccina habe über den Winter kochen gelernt, sie mache schon jetzt einen Risotto, wie sie selbst, Cattina, ihn nicht besser zustande brächte.

Helmbrecht entschuldigte sich, für heute sei er versagt, aber morgen, wenn sie ihn haben wollten, komme er con sommo piacere. Sie möge die piccina grüßen, er freue sich auf ihren Risotto.

Er klopfte dem guten Geschöpf, das dabei über das ganze Gesicht glänzte, auf die Wange, gab ihr noch einmal die Hand und verließ durch die Hintertür das Haus.


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