Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Theodors Hilfegeschrei war aber noch zu anderen Ohren gedrungen.

Der lange Lutz hatte schon seit einiger Zeit sein Auge auf die Christel geworfen, deren Eroberung ihm nicht so mühelos gelingen wollte, wie die früheren. Das schlaue Mädchen gedachte ihn für immer einzufangen und köderte ihn mit wechselndem Gewähren und Versagen, um ihn endlich zu einem Eheversprechen zu bringen. Am heutigen Abend hatte sie ihm eine Plauderstunde bewilligt, die aber in großer Verborgenheit gehalten werden sollte, da es ihr gegen die Ehre ging, mit dem Liebhaber auf nächtlichem Herumstreifen betroffen zu werden. Sie hatte sich deshalb, als im Seehof alles zur Ruhe gegangen war, zu einer der Badehütten geschlichen und dort ihren großen Galan erwartet, der auch bald nach ihr erschien und neben ihr auf dem Bänkchen Platz nehmen wollte, was das kokette Ding aber nicht gestattete. Er mußte sich vor ihr auf den Boden niederkauern und durfte nur die Arme auf ihre Knie legen.

In dieser unbequemen Lage hatte der verliebte Geselle schon eine Weile verharrt, als Crone mit den beiden Knaben ans Ufer kam und den Kahn bestieg. Das leise Geräusch war ihm so wenig ans Ohr gedrungen, wie ein Rascheln des Laubes von einem balzenden Spielhahn vernommen wird. Erst als Theodor sein Schreckensgeheul ausstieß, sprang er auf seine Füße und zu der nur angelehnten Tür der Badehütte hinaus.

Er kam eben noch recht, um zu sehen, wie Hänsel ins Wasser sprang. Was ihn trieb, zu dieser nächtlichen Zeit halb angekleidet zu baden, war ihm rätselhaft. Ein Blick jedoch über den See, wo der Kahn mit dem heulenden Knaben von einem leichten Lüftchen sacht fortbewegt wurde, ließ ihn ein Unglück vermuten, das auch Hänsel bewogen habe, Rettung zu versuchen. Gleich darauf sah er den Kopf des Hundes auftauchen, der den Zipfel eines weißen Gewandes zwischen den Zähnen hielt und prustend und sich schüttelnd mit der Last, die er heraufgeholt, dem Ufer zustrebte. Da dämmerte ihm mit Schrecken der wahre Zusammenhang der Dinge auf.

Im Augenblick hatte er die Jacke abgeworfen und die Stiefel abgestreift. Dann sprang er in den See.

Es währte nicht lange, so hatte er den Hund erreicht. Doch war es keine leichte Sache, ihm den Leib seiner Herrin, den er aus der Tiefe herausgeholt, zu entringen. Es entspann sich ein heftiger Kampf zwischen Tier und Mensch um die Ehre der Rettung, der damit endigte, daß das Kleid, das Fulvo mit dem Maule gepackt hatte, zerriß und der Körper des Mädchens wieder hinunterglitt. Sofort aber war Lutz ihr nachgetaucht und hatte sie, sich unter ihren Rücken schmiegend, heraufgebracht, so daß ihr Kopf nach oben gerichtet auf seinem breiten Nacken ruhte. Die Regungslose in den Kahn hinaufzuheben, hatte er aufgeben müssen. So schwamm er vollends mit seiner Last ans Ufer zurück, während Theodor neben ihm herfuhr, und stieg wenige Minuten später mit der Geretteten ans Land, wohin der Hund mit dumpfem Geheul sich schüttelnd ihm nachfolgte.

Halbtot vor Schreck rannte die Christel zu ihm hin. Er hielt sich nicht bei ihr auf, sondern herrschte ihr zu, so geschwind sie laufen könne, den Doktor zu benachrichtigen. Er selbst nahm die Leblose wie ein schlafendes Kind in die Arme und trug sie eilig nach dem Hause, wo schon alle Lichter erloschen waren.

Nur in Frau Marias Bureauzimmer neben der Küche brannte auf dem Schreibsekretär noch eine Lampe. Die Wirtin saß vor ihren Büchern und schrieb Rechnungen für ihre Gäste aus. Als Lutz die Tür aufstieß und seine Last hereintrug, fuhr sie erschrocken in die Höhe. Sie verlor aber nicht die Besonnenheit, hatte sie doch schon in früheren Fällen gelernt, was zur Rettung nottat. Sofort legte sie das regungslose Mädchen auf den großen Tisch in der Mitte, schickte den Knecht zu den Dachstuben hinauf, die Mägde zu rufen, und nachdem sie Crone ihrer nassen Gewänder entkleidet hatte, lief sie zu einem Schrank, wo sie allerlei wollene Decken für die Freiluftbetten aufbewahrte, und hüllte den kalten jungen Leib vom Hals bis unter die Füße hinein. Als dann die Dienerinnen hereingestürzt kamen, ordnete sie alles übrige an, heißes Wasser für die Wärmflaschen, die unter die Sohlen gelegt werden sollten, heiße Tücher, mit denen sie sofort die erstarrten Glieder zu frottieren begann.

So fand sie Helmbrecht, als er zehn Minuten später dazukam, in voller Arbeit. Er trat hastig mit völlig entgeistertem Gesicht herein, die Knie wollten ihm den Dienst versagen, so furchtbar hatte die Botschaft der Christel ihn aus dem tiefsten Schlaf aufgeschreckt. Denn er glaubte nicht anders, als daß seine arme Geliebte in den Tod gegangen, um ihm zu entrinnen, der ihr zum Abscheu geworden sei.

In tödlicher Angst begann er die Frau bei dem Versuch der Wiederbelebung zu unterstützen. Er rief alles zu Hilfe, was geeignet ist, das entflohene Leben zurückzurufen, die Atmung durch Ein und Aussaugen der Luft wieder zu wecken, durch die Bewegung der Arme die Arbeit der erstarrten Brust neu anzuregen. Crone lag, das weiße Gesicht gegen die Decke gekehrt, mit einem friedlichen Ausdruck, wie noch von dem Glück erglänzend, mit der Mutter wieder vereinigt zu werden. Die reichen Haare fielen straff und naß zu den Schläfen herab. Mitten in seinem Jammer sagte sich Helmbrecht, daß er sie nie so schön gesehen habe.

So mühten sich die beiden Menschen eine volle Stunde. Kein Wort wurde zwischen ihnen gesprochen. Die Töchter waren hereingeschlichen und hatten gefragt, ob sie nicht helfen konnten. Ein Kopfschütteln der Mutter war die Antwort gewesen. Nun drückten sie sich scheu in die dunkle Ecke. Auf einmal aber rief Gundel mit einem gedämpften Freudenschrei: Sie lebt! Sie hat das rechte Auge bewegt!

Helmbrecht, der sein Geschäft des Atemeinhauchens fortgesetzt hatte, hob den Kopf und spähte noch zweifelnd nach diesem ersten Lebenszeichen. Sie lebt! wiederholte er mit bebender Stimme. Allmächtiger Gott! Ja, sie wird leben!

Noch lange, bange Minuten unausgesetzter Bemühung vergingen, ehe die erstarrten Glieder sich zu erwärmen begannen und die Augen beide zu einem kurzen dämmernden Blick sich öffneten. Helmbrecht richtete sich auf und trocknete sein ganz von Schweiß überströmtes Gesicht. Wir wollen sie nun zu Bette bringen. Ihr könnt sie tragen helfen, Kinder.

Er selbst belud sich mit der jetzt durch die Reglosigkeit schwerer gewordenen Last, indem er sie bei den Schultern umfaßte, während die Mädchen sie an den Füßen trugen. Frau Maria hatte angeordnet, daß sie in Gundels Bett gelegt werden sollte, das inzwischen gewärmt worden war. So trug man sie die Treppe hinauf, in ihre Decke eingewickelt, und bettete sie in dem weichen Lager. Während die Mutter dann in der Küche das heiße Getränk bereitete, das Helmbrecht verordnet hatte, saß dieser neben der Geretteten und sah mit leise überfließenden Augen in ihr stilles Gesicht. Die beiden Mädchen, die sie sehr liebten, flüsterten auf der Schwelle der Tür.

Auf einmal öffnete Crone mühsam die Augen, sah matt und doch zum erstenmal wieder mit aufglimmendem Bewußtsein im Zimmer umher und fragte dann mit kaum hörbarer Stimme: Wo ist – Hänsel?

Helmbrecht fuhr in die Höhe. Hänsel? wiederholte er. Wie kommst du auf den? Bleib ruhig, liebstes Kind. Hänsel schläft in seinem Bettchen draußen.

Sie sann ernst vor sich hin. Dann sagte sie mühsam: Nicht in seinem Bettchen – er war – mit mir – am See.

Die Anstrengung dieser wenigen Worte hatte sie erschöpft. Sie schloß die Augen wieder und schlief ein. Ein Erdstoß, der das Haus in seinen Grundfesten durchzuckte, hätte Helmbrecht nicht gewaltsamer erschüttern können.

Bleibt! rief er den Mädchen zu. Ich will selbst –

Damit stürzte er aus dem Zimmer.

Auf der Treppe rannte er an der Wirtin vorbei, die den heißen Tee herauftrug. Ohne ihr das Furchtbare zu sagen, eilte er hinunter. In der Küche fand er Lutz, der es nicht der Mühe wert gefunden, seine nassen Kleider zu wechseln, nur ein paar Gläser Grog zu seiner Stärkung verlangt hatte. Er raunte ihm zu, mitzukommen, auch die Mädchen sollten ihn begleiten, Windlichter mitnehmen. Wenn der Junge wirklich –

Er sprach es nicht aus, sondern rannte spornstreichs nach dem Hüttchen, das seinem Kinde zur Ruhestätte gedient hatte. Als er es leer fand, mußte er sich am Stamm einer Fichte halten, um nicht umzusinken. Er sah den langen Lutz herzueilen, mit einer Stange nach dem Ufer rennen und den Kahn, den die Wellen inzwischen am Ufer schaukelten, vollends ans Land ziehen. Dann sprang er hinein, winkte Helmbrecht, ihm nicht zu folgen, und trieb das leichte Fahrzeug in die Mitte des Sees, den Grund mit der Stange durchpflügend. Atemlos waren die Mägde ihm gefolgt, die Leuchter mit den Glasglocken tragend, die im Wirtsgarten den Gästen zu leuchten pflegten. Sie standen ratlos am Ufer, einige gingen längs den Badehütten bis an das Ende des Sees, unter ihnen Helmbrecht, der eine Leuchte ergriffen hatte und ihren Schein weit über die Wellen gleiten ließ. Seine Hand bebte so stark, daß die Kerze flackernd erlosch. Da sank er selbst am Ufer hin und starrte dem Kahn, der drüben das Schilf umfuhr, mit tränenlosen Augen nach.

Eine qualvolle halbe Stunde verging, dann sahen sie den Knecht sich im Kahn erheben und die Stange zurückziehen. Im nächsten Augenblick sprang er über Bord und tauchte in die Tiefe hinab. Als er wieder zum Vorschein kam, trug er eine dunkle Last auf der Schulter, die er in den Kahn hob, worauf er selbst wieder hineinstieg. Mit raschen Ruderschlägen fuhr er nach der Stelle am Ufer, wo er Helmbrecht stehen sah, zu dem sich die Mädchen in scheuer Angst gesellt hatten. Als der Kahn ans Land stieß und man die Gestalt des Knaben auf dem Bänkchen erkennen konnte, erhoben die Dienerinnen ein herzzerreißendes Jammergeschrei.

Helmbrecht brach lautlos zusammen.


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