Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel.

Mittagsglut lag schwer über der weiten Wiesenfläche. Die Kühe, die wiederkäuend im Grase ruhten, schienen so in Traum versunken, daß sie kaum die Schwänze bewegten, die lästigen Insekten zu verscheuchen. Der Hüterjunge hatte sich neben die große Braune gestreckt und war, den Kopf gegen ihren Bauch gedrückt, das Hütchen tief über das Gesicht gerutscht, in festen Schlaf gefallen. Nur die Pferde waren auf den Beinen geblieben und stapften langsam durch die hohen Unkräuter, doch auch schon satt, so daß sie nur hie und da wählerisch mit den langen Zähnen ein Blatt oder einen Stengel abrupften, die ihr Gelüst noch besonders reizten.

Ein Fahrweg führte in gerader Richtung vom Hause der Frau Agnes nach dem Seehof zurück. Helmbrecht aber schlenderte dem Walde zu auf einem kleinen Fußweg, der dann nach rechts einlenkte und im Schatten der schwarzen Fichten am Saum des Berges bis zur äußersten Spitze des Sees hinlief. Dies war der beliebteste Spaziergang der Kurgäste. Heut aber begegnete er niemand, da selbst unter den dichten Ästen, die das Licht ausschlossen, eine dumpfe Schwüle lagerte, von keinem Lufthauch bewegt. Mückenschwärme spielten über der Hecke, die einen Teil des Bergwaldes abgrenzte, und Hummeln und große blaue Fliegen schossen hin und her, die Vögel aber waren verstummt.

Es stand da etwa auf der Mitte des Wegs, ein wenig zurückgerückt in das Waldesdickicht, eine Art Pavillon, nach drei Seiten offen, aus dem man über die Wiesenfläche und durch die Buchenwipfel drüben weit in die Ebene hinaussah. Drinnen stand ein Tisch mit etlichen Stühlen und Bänken, und hier hatte sich das Schwesternpaar Amanda und Walli etabliert, ein für allemal, wie Helmbrecht später erfuhr. Die Schriftstellerin hatte das kühle Hüttchen eigenmächtig für sich allein in Beschlag genommen, als ihren Musensitz, wo der große Roman zustande kommen sollte, während ihre kleine Leibsklavin, die treue Schwester, die großen unleserlich geschriebenen Bogen in einer Mappe auf ihren Knien ins reine bringen mußte.

Auch heute am Sonntag ruhte das Geschäft nicht. Fräulein Walli aber ließ ihre Blicke zuweilen hinausschweifen, da sie sehr ermüdet war, und gewahrte den Doktor, der langsam auf dem Wege herankam und verwundert und belustigt diesen weiblichen Dichterwinkel betrachtete. Sie sagte der großen Schwester ein leises Wort, die aber die Störung ihrer Inspiration unwillig empfand und kaum sichtbar den Kopf neigte, als Helmbrecht den Hut lüftete, während die Jüngere mit einer höflichen Verbeugung dankte.

Als er dann das Haus erreichte, sah er, daß viele fremde Gäste vom Städtchen her auf den Bänken des Wirtsgartens sich niedergelassen hatten und alles, von der dicken Köchin bis zur jüngsten Küchenmagd, in großer Aufregung durcheinander rannte, diese unerwartet zahlreiche Tischgesellschaft zu bedienen. Es war ein beliebtes Sonntagsvergnügen, mit Kind und Kegel an Sonn- und Feiertagen im Seehof zu speisen, so daß Frau Maria Harlander regelmäßig ein paar dienstbare Geister von unten heraufzitieren mußte, da ihre ständigen nicht genügten. Auch der ungeschlachte Hausknecht, der lange Lutz, der sonst mit der Bedienung nichts zu tun hatte, da er nach Stall und Düngerhaufen duftete, mußte dann in ein sauberes Gewand fahren und als eine Art Oberkellner sich nützlich machen.

Helmbrecht graute es bei dem Gedanken, in diesem Getümmel sitzen zu müssen. Er fragte, wo Hänsel sich aufhalte, und da er von Gundel hörte, der Knabe sei droben im Zimmer der Schwestern, stieg er eilig hinauf und betrat in etwas beklommener Stimmung das Gemach, das er selbst früher bewohnt hatte, nur durch den Korridor vom Zimmer der Frau Maria getrennt.

Er erkannte es kaum wieder, da es jetzt für die Mädchen eingerichtet war, deren Betten darin standen, über jedem ein Heiligenbild in Goldrahmen, in der Ecke ein Kruzifix über einem Weihbrunnkesselchen. In der Mitte aber stand ein Tisch, auf dem Stuhl davor kniete der Knabe, mit seinen Käfern und Schmetterlingen beschäftigt, deren Namen er in den illustrierten Büchern suchte.

Er sprang sofort herunter und lief auf den Paten zu, ihm klagend, daß er viele Namen nicht finden könne. Helmbrecht hob ihn in seinen Armen auf, sah ihm eine Weile in das frische, zutrauliche Gesicht und küßte ihn auf die Stirne, eh' er ihn frei gab. Er zeigte ihm dann, wie er seine kleine Sammlung ordnen müsse, auf Zuwachs Raum lassend bei den einzelnen Arten und Unterarten, und suchte mit ihm gemeinschaftlich die lateinischen Namen. Dabei genoß er heimlich das Glück, den warmen Kindskopf neben seiner Wange zu fühlen und die helle Stimme dicht an seinem Ohr zu hören.

Draußen erklang endlich die Glocke, die nun auch die Kurgäste zu Tische rief. Der Vater aber war zu sehr darein vertieft, sein Knäbchen auszufragen über dies und das, was ihm wichtig war, sich seine Schreibhefte zeigen und allerlei Schulgeschichten erzählen zu lassen, als daß er auf den Ruf gehört hätte. Als dann eine der Mägde den Kopf in die Tür steckte, dem Herrn Doktor zu melden, daß zu Tisch gegangen werde, sagte Helmbrecht, er werde nicht in der Halle speisen, man solle ihm unten decken an dem Tisch, wo Hänsel zu essen pflege, und nichts anderes, als was diesem aufgetischt werde.

Sie gingen dann zusammen hinunter in das Zimmer neben der Küche, das in den ersten Zeiten der Gasthalterei als Herrenstübel gedient und abends die Gäste aufgenommen hatte, die noch bei Bier und Zigarren aufbleiben wollten. Jetzt hatte Frau Maria ihren Schreibtisch hier aufschlagen, gab von hier aus wie aus dem Feldherrnzelt ihre Befehle an die Untergebenen und aß im Winter hier in dem gut zu heizenden Raum mit ihren Kindern.

Bald darauf trug die dicke Köchin Fanni, deren besonderer Günstling der Doktor war, diesem und dem Knaben in eigner Person die Speisen auf, setzte sich sogar auf ein paar Minuten zu ihnen und ließ deutlich erkennen, welche Freude sie daran hatte, Vater und Sohn so traulich beieinander zu sehen. Auch lobte sie das Bübchen und strich ihm über das dicke Haar, das ganz wie beim Vater an den Schläfen in die Höhe stand, zuletzt aber brachte sie einen Teller mit Kirschen, den ersten des Jahrs, die sie den Kurgästen nicht gönnte und nur für ihren Liebling aufgehoben hatte.

Die Mutter kam dazu. Man hatte ihr, da sie Helmbrecht vermißte, berichtet, daß er mit dem Hänsel zu essen gewünscht habe. Es drängte sie nun doch, ihn einmal wieder zu begrüßen, zu sehen, wie er gegen sie gesinnt sei nach dem Unabänderlichen, was sie ihm angetan. Sie gab ihm sogar, da die Köchin noch zugegen war, die Hand und fragte, wie er geschlafen, schalt ihn auch freundschaftlich, daß er mit seinen Geschenken die Kinder verwöhne. Er hatte so viel Gewalt über sich, daß er sich unbefangen stellen und wie der erste beste gute Freund sich äußern konnte. Auch schlug ihm das Herz nicht mehr so stark bei ihrem Anblick wie gestern abend. Sie schien ihm heute älter und verblühter als beim ersten Wiedersehn. Sie müsse sich schonen, sagte er, sie gehe sonst frühzeitig zugrunde. Nun höre er gar, daß sie ihre Last noch vermehren, noch ein Stockwerk auf den Anbau aufsetzen wolle. Wenn sein Rat noch etwas gelte, dürfe das nimmermehr geschehn.

Sie leugnete, daß sie das im Ernst vorgehabt habe. Sie habe nur gesagt, wenn noch einmal soviel Zimmer im Seehof wären, würde keins leer stehen. Übrigens sei es ihr gleich, ob sie sich früh zuschanden arbeite. Sie habe keine Freude mehr am Leben. Wenn die Töchter verheiratet seien, wär's das gescheiteste, sie ginge in ein Kloster. Der Hänsel werde ja auch ohne sie nicht schutz- und hilflos im Leben stehen.

Er suchte diese resignierte Stimmung zu bekämpfen, doch ohne sonderliche Wärme. Sie fühlten beide, daß es ihnen mit dem, was sie sagten, nicht ganz Ernst war, daß sie ganz andere Dinge auf dem Herzen und fast auf der Zunge hatten.

Dann ging die Frau wieder, Helmbrecht aber nahm den Knaben zu einem weiten Spaziergang mit in den Wald. Zuerst ruhten sie ein halb Stündchen an einer kühlen Stelle, Helmbrecht zündete sich eine Zigarre an, Hänsel studierte einen Ameisenhaufen und tat hundert Fragen an seinen Paten. Dann raffte der sich auf, und sie begannen den Hochwald hinanzusteigen.

Während all der Zeit hielt er die Hand des Knaben in der seinen, und auch der, wenn er die Hand des Vaters einmal losgelassen hatte, um irgend etwas vom Boden aufzuheben, das ihm wichtig war, schmiegte sich gleich wieder dicht an ihn und hielt seine Finger fest. In den langen Monaten, wo Helmbrecht sich nach dem Kinde sehnte, war es hauptsächlich dies Handinhandwandern, was er schwer entbehrte und fast körperlich in seine Erinnerung zurückrufen konnte.

Die Wege wurden immer steiler, immer weniger waren sie gut unterhalten, denn die verweichlichten Kurgäste aus den Städten zogen die bequemeren Pfade bis zur halben Höhe vor, obwohl sie nach dem Seehof gekommen waren, sich abzuhärten. Schon aber sah man den lichten Himmel durch die Stämme auf der Höhe schimmern, die Bäume traten weiter auseinander. Da ist schon der Hexenbühel, Onkel Hans! rief der Knabe; da droben bin ich dies Jahr noch nicht wieder gewesen.

Er ließ die Hand des Vaters los und sprang hastig die letzte Strecke vor ihm hinauf. Indem erscholl von droben ein lautes Hundegebell, und gleich darauf sah man Fulvo in großen Sätzen den Waldweg herabrasen, auf den Knaben zu, der geschickt zur Seite trat, um nicht umgerannt zu werden. Auf der Höhe aber, zwischen den letzten Stämmen, die schlanke Figur in reizendem Umriß gegen den blauen Himmel sich abhebend, stand Crone und bewegte grüßend die feinen Hände den Heraufkommenden entgegen.

Crönchen. rief Helmbrecht, Sie hier? das ist ja wundervoll, Aber wagen Sie sich so allein in die wilden Wälder, wo doch auch allerlei Gesindel herumstreunt?

Was soll mir Arges geschehen? versetzte sie ruhig. Nur ein Wink an Fulvo, und den schlimmsten Räuber oder betrunkensten Holzknecht streckt er mir vor die Füße nieder, so daß der Missetäter froh sein kann, wenn ich ihn begnadige. Heut aber habe ich auch noch eine andere Gesellschaft.

Sie trat, nachdem sie den Ankömmlingen die Hand gegeben, beiseit, ihnen den Weg frei zu lassen. Nun sah Helmbrecht, wer noch bei ihr war: Theodor, der unglückliche Sohn der Frau Agnes.

Der blickte sie aber mit einem rührenden Lächeln an, das eine sehr glückliche Stimmung verriet. Die Höhe, die den Namen des Hexenbühels führte, war von Bäumen frei, aber mit einer Menge großer abgerundeter Felsblöcke bedeckt, auf denen dichtes Moos wucherte, dazwischen hohes Gras und Farnkräuter. Hier lag der Knabe lang hingestreckt, den Rücken gegen ein solches Mooskissen gelehnt, seine Mütze neben sich, die Augen in höchstem Wohlbehagen gegen das Firmament gerichtet. Doch schien es in ihm aufzudämmern, daß es wohl schicklich wäre, sich aufzurichten und den Doktor stehend zu begrüßen. Das tat er denn auch mit einiger Mühe und stellte sich darauf neben das Mädchen, das von allen Menschen nächst seiner Mutter aufs leidenschaftlichste von ihm geliebt und verehrt wurde, soweit man dies von den dumpfen Instinkten seiner Kinderseele sagen konnte.

Er dauert mich so, sagte Crone mit etwas gedämpfter Stimme, obwohl der Knabe nicht verstanden hätte, daß von ihm die Rede war. Er kommt so selten in den Wald, seine Mutter kann nicht steigen, der Professor weiß nicht recht mit ihm umzugehn, so gern er gütig zu ihm wäre, und der Gärtner geht Sonntags in die Stadt hinunter. Die Mutter sollt' ihm ein Hündchen schenken, mit dem er spielen könnte, sagen Sie's ihr doch. Was ich tun kann, daß er ein bißchen Freude hat, tu' ich gern, auch hat er mich sehr lieb, und ich lenk' ihn mit dem kleinen Finger. Sein Liebstes ist, hier oben zu sein, da könnt' er halbe Tage damit zubringen, in die Welt hinauszublicken, als ob seine arme Seele dann wie eine Gefangene aus dem Kerkerfenster ins Freie schaute und eine Ahnung bekäme, wie schön es draußen ist, wo er nie hinkommt. Übrigens ist's ja auch herrlich hier oben, finden Sie nicht auch? Ich hört' einmal ein Liedchen singen, ich glaub' von Schumann, das endigte so:

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog über die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Sie hatte, während sie die Verse sprach, den Blick nach Westen gerichtet, wo zwischen dichten Laubwäldern sich ein lachendes grünes Tal hinuntersenkte. Kleine Gehöfte lagen darin zerstreut, am Waldrand dampfte ein Meiler, hoch in den Lüften schweiften zwei Vögel, die sich mit hellem Schreien zu verfolgen schienen.

Helmbrecht sagte: Ja, es ist schön! Er sah aber nicht sowohl in die lachende Sommerlandschaft hinab, sondern auf das junge Gesicht, das ihm sein reines Profil zugekehrt hatte und so lieblich von innerem Feuer glühte.

Sie empfand seinen Blick und errötete ein wenig.

Wenn Sie gehen wollen, sagte sie, ohne sich nach ihm umzuwenden, lassen Sie sich nicht von uns aufhalten. Ich bin ein bißchen erschöpft durch den raschen Aufstieg, und auch Theodor ist das Klettern nicht recht gewohnt.

Er habe keine Eile, erwiderte er und ließ sich im Grase nieder zwischen zwei großen Steinen. Alsbald setzte sich auch das Mädchen und rief den Hund neben sich, der behaglich die langen Pranken ins Moos streckte, worauf Theodor seinem Beispiele folgte. Nur Hänsel blieb stehn und sah Crone unverwandt an.

Sie waren früher flinker zu Fuß, Crönchen, sagte Helmbrecht. Das sind immer noch Nachwehen Ihrer Krankheit. Sie müssen alles tun, sich zu kräftigen. Baden Sie fleißig?

Nie, erwiderte sie sehr ernsthaft. Sie wissen ja – die Mutter! Seitdem überläuft mich ein Schauder, wenn ich in einem See baden soll. Wir haben neben dem Holzstall eine Hütte gebaut, drin steht eine Badewanne, in die lass' ich die Brunnenröhre hineinlaufen.

Er bereute, die alte Wunde berührt zu haben. Dann schwiegen sie wieder eine Weile.

Endlich sagte Crone: Ich weiß mir nichts Lieberes, als so über weiten Wäldern auf einer Berghöhe zu ruhen und die Vögel unterm Himmel hin und her schweben zu sehen. Es wird mir dann selbst so weit in der Brust, mich sollt' nicht wundern, wenn auch mir Flügel wüchsen. Aber freilich, wohin sollt' ich fliegen? Ich flöge doch bald wieder zur Erde zurück, wo alles wohnt, was ich lieb habe. Auch könnte Fulvo mich nicht in den Himmel begleiten. Oder würden auch dir Federn wachsen aus deinem struppigen Fell, mein Alter?

Sie lachte ein wenig und kraute dem Hund die gelbe Mähne, daß er vor Behagen zu knurren anfing. Auch Hänsel lachte und setzte sich dem geduldigen Tier auf den Rücken. Gibt es wohl Vögel so groß wie Fulvo? fragte er. Adler sind kleiner, und der Vogel Strauß kann nicht fliegen. Was du für Einfälle hast, Crone!

Sie war wieder ernst geworden.

Eins fehlt hier doch, daß es ganz gemütlich würde: meine Geige. Das nächste Mal bring' ich sie mit herauf. Sie werden sich wundern, Herr Doktor, wie herrlich das hier oben klingt, weil die Luft ganz rein ist. Dann ist es, als ob der Berg selbst zu singen und zu klingen anfinge, und wenn ein bißchen Wind in die Wipfel greift, rauschen sie den Baß dazu. So ein Konzert bringen die Vögel doch nicht zustande. Ich hab' es einmal in Santa Margherita erlebt, als der Schirokko durch die Pinien wehte und das Meer unten brauste. Es war wundervoll.

Auf einmal fing sie an zu singen, jene kleinen toskanischen Liebesliedchen, die sie von ihrer Mutter und der Cattina gelernt hatte. Ihre Stimme klang ein wenig scharf, aber so hell, daß ein Wanderer weit unten im Tal sie hören und jedes Wort verstehen mußte. Sie sang's aber auf italienisch, was keiner von ihren Zuhörern verstand. Um so reizender, wie Töne aus einer fremden Welt, rührte es Helmbrecht an die Seele. Dabei sah sie ein wenig nach oben, ganz selbstvergessen, und fühlte jetzt nicht, wie ihr Freund sie unverwandt betrachtete. Ist es denn möglich? dachte er bei sich. Ist das dasselbe Kind, das ich vorm Jahr als ein hageres bleiches Geschöpfchen verlassen habe, und jetzt sitzt sie wie eine junge Königin neben mir und läßt mich ihre Macht und Herrlichkeit empfinden?

Noch einer empfand sie. Hänsel hatte sich dicht neben die Sängerin hingekauert und eine ihrer Hände ergriffen. Als sie jetzt schwieg und die langgezogene Melodie des Ritornells verschwebte, richtete er sich plötzlich auf, schlang seine kleinen Arme um sie und küßte sie auf die Wange. Sie aber wandte sich lächelnd zu ihm um, faßte ihn beim Kopf und drückte einen herzlichen Kuß auf seinen roten Mund. Dann stand sie rasch auf.

Bravo, Hänsel! rief der Vater, indem er sich gleichfalls erhob. Du hast auf die kürzeste und beste Manier für uns alle gedankt. O Crönchen, Sie sind ein begnadeter Mensch, daß Sie anderen Menschen solche Freuden bereiten können, die man nie wieder vergißt!

Er wollte sich ihr nähern, ihr die Hand zu drücken, aber sie hatte sich schon zu Theodor gewendet, ihm beim Aufstehn zu helfen, was etwas schwerfällig vonstatten ging. Dann zog sie seinen Arm unter den ihren und führte ihn nach dem Wege zurück, den sie heraufgekommen waren, blieb aber wieder stehn.

Nein, sagte sie, da hinunter geht's zu steil für ihn. Ich weiß einen bequemeren Abstieg. Komm, Theodor! Komm, Fulvo!

Sie wandte sich nach links, und bald befand sich das kleine Trüpplein auf einer Schneise, die breit durch den Forst gehauen war, um die gefällten Bäume hinunterzulassen. Es war kein ordentlicher Weg, aber er führte sanft in die Tiefe. Nur galt es, zwischen den stehengebliebenen Wurzelstöcken sich hindurchzuwinden.

Bald gelangten sie auch zu einem richtigen Pfade, und wiederum nach links schritten sie ein Viertelstündchen fort, ohne zu sprechen, da die Musik vom Hexenbühel droben noch in allen nachklang. So kamen sie endlich aus dem Walde heraus und blickten in das offene Tal hinab, in dessen Tiefe die Sägemühle lag. Von dem ansehnlichen Bach, der sie in Bewegung setzte, wehte eine feuchte Frische herauf, er hatte aber heut, da Sonntag war, kein Rad umzutreiben, sondern floß mit Rauschen oben über das Wehr und fing die letzten Sonnenstrahlen auf, die über den Waldrand hereinfielen.

Neben der Mühle und dem Hause, wo die Müllersleute wohnten, breitete der Talgrund sich ein wenig aus. Da hatte sich eine kleine Wirtschaft angesiedelt, die für die Kurgäste und die Bewohner des Städtchens ein beliebtes Ziel ihrer sonntäglichen Spaziergänge war. Es wurden aber nur Kaffee und Bier gereicht und allerlei unschuldiges mussierendes Getränk. Vor der Schenke waren Tische aufgeschlagen, an hohen Feiertagen kam wohl auch eine Musikbande hier heraus. und das junge Volk machte dann ein Tänzchen.

Auch heute waren sämtliche Stühle und Bänke besetzt, und der Wirt mit Frau und Tochter hatte alle Hände und Füße voll zu tun, die vielen Durstigen zu bedienen.

Wie wär's, Crönchen, sagte Helmbrecht, wenn wir hinuntergingen und eine Viertelstunde rasteten? Sie waren früher eine Freundin von Limonade gazeuse, die Knaben bekämen vielleicht ein Glas Milch, und ich rauchte zu dem dünnen Bier eine Zigarre?

Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. Es geht nicht, sagte sie, so gern ich's den Kindern gönnte, und auch ich bin durstig. Aber – sie machte eine Gebärde nach Theodor hin, der mit seinen weitgeöffneten Augen hinunterstarrte. Dann, seinen Arm freigebend und sich Helmbrecht nähernd: Es schneidet mir immer ins Herz, wenn die Leute den armen Jungen beschauen wie ein seltsames Tier und sich mit den Ellbogen anstoßen und in die Ohren wispern. Gehn Sie selbst mit Hänsel hinunter. Wir drei kehren zu seiner Mutter zurück, die schon ungeduldig auf seine Rückkehr warten wird.

Sie haben recht, erwiderte er. Sie sind feinfühliger als ich. Kommen Sie! Wir gehn mit Ihnen, wenigstens bis an den Seehof. Nun aber lassen Sie mich Theodor führen. Er hat sich so schwer an Sie eingehängt, daß Ihnen der Arm wehtun muß.


 << zurück weiter >>