Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunundzwanzigstes Kapitel.

Am frühen Nachmittag fuhr ein kleiner Wagenzug vom Seehof weg im Schritt die breite Straße hinab, die in heller Sonne lag.

Voran der Leichenwagen mit dem kleinen Sarg. Er war so dicht mit Kränzen bedeckt, daß man von dem dunklen Gehäuse nichts sah. Ein einziger Kranz lag im Innern des Wagens, der ihm folgte, auf dem Schoß Helmbrechts, der Kranz, den Crone gewunden hatte. Neben ihm saß Frau Maria, ihnen gegenüber die Töchter, auf dem Bock aber der lange Lutz. In seinem wunderlichen Anzug, einem schwarzen, viel zu engen Havelock, den ihm ein Kurgast geliehen, um seine nicht sehr trauermäßige Kleidung zu bedecken, einen alten Zylinder auf dem struppigen Kopf, um den Christel einen dicken Flor gebunden hatte mit herabhängenden Bändern, hätte er eine überaus komische Figur gemacht. Doch jedem, der ihn ansah, verging das Lachen. Denn eine so tiefe Traurigkeit lag auf seinem sonst so zufrieden grinsenden Gesicht, zugleich ein Ausdruck von Ingrimm wie über eine schwere Tücke, die ihm angetan, daß niemand sich des Mitgefühls erwehren konnte. Er schneuzte sich beständig in ein blaugewürfeltes Schnupftuch hinein und hielt die rotgeschwollenen Augen unverwandt auf den Leichenwagen geheftet, in dem sein guter kleiner Kamerad, sein Zögling in allen freien Künsten, zu seiner letzten Ruhestätte gefahren wurde.

Im dritten Wagen saß Frau Agnes mit dem Professor, der zum erstenmal, seit er droben sich niedergelassen hatte, sich nach dem Städtchen hinunterbegab, da seine gichtischen Füße ihn sonst an das Haus zu fesseln pflegten.

Während der ganzen traurigen Fahrt läuteten die Glocken von unten herauf, die noch fortklangen, als sie den Friedhof erreicht hatten. Der lag neben der Kirche und war längst gefüllt. Nur in den Familiengräbern, zu denen das Harlandersche gehörte, wurden noch Angehörige desselben Namens bestattet.

Auf dem kleinen Totenacker stand Kopf an Kopf eine lautlose Menge, außer den Gästen des Seehofs die sämtliche Bevölkerung des Städtchens. Das erschütternde Ereignis war von groß und klein wie ein Unglück, das sie selbst betraf, empfunden worden, da allen der Knabe lieb gewesen war. Als die Seinen die Friedhofspforte betraten hinter dem Särglein, das vorangetragen wurde, traten die Umstehenden ehrfürchtig zurück und öffneten eine schmale Gasse bis zu dem offenen Grabe, dessen alter mit einem Kreuz gekrönter Denkstein mit vielen vergoldeten Harlanderschen Namen von dem Stadtgärtner mit Laubgewinden geziert worden war. Alle blickten in ehrlichem Mitgefühl auf das Elternpaar, das von so schwerem Leid gebeugt daherkam, die Mutter in ihr Tuch weinend, Helmbrecht die Zähne zusammenbeißend, um seine Bewegung zu bezwingen.

Als der Sarg dann in die schwarze Tiefe hinabgelassen war, hörte das Geläut auf. Die Kirchenpforte öffnete sich, und der Pfarrer schritt heraus, im Ornat, das Buch in den gefalteten Händen, hinter ihm der Kooperator und ein kleiner Ministrant mit dem Weihrauchbecken. Eine so atemlose Stille entstand, daß man die Kohlen darin knistern hörte. Dann begann der Geistliche die lateinischen Gebete herzusagen, die den Abgeschiedenen in die Gruft nachgerufen werden. Die Leute aus der Stadt murmelten die Responsorien, der Knabe schwang das Weihrauchbecken, während der Sarg eingesegnet wurde. Dann wurde alles still, und der Pfarrer begann die deutsche Leichenrede.

Manchen klopfte das Herz, als er zu reden anfing. Sie kannten den strengen Sinn des geistlichen Herrn und machten sich auf einen herben Sermon gefaßt, ein Totengericht an den Überlebenden, die mit gesenkten Häuptern an der Ruhestätte ihres Kindes standen. Aber in den Worten, die aus dem geistlichen Munde kamen, klang kein Ton richterlicher Unerbittlichkeit. Er sprach von dem lieblichen Charakter, den reichen Gaben an Geist und Gemüt, die den Knaben allen, die ihn kannten, teuer gemacht, von den Hoffnungen, die durch den frühen Tod vernichtet worden waren, und nur daß er die Mahnung, sich in den Willen des Herrn zu ergeben, statt an die Mutter allein, an »die Eltern« richtete – auch dies ohne Stirnrunzeln und einen Ton der Härte – rührte an das offene Geheimnis.

Als er dann mit einem letzten deutschen Vaterunser geschlossen und drei Schaufeln Erde auf den Sarg geschüttet hatte, warf Helmbrecht den Kranz hinab und reichte der Mutter den kleinen Spaten. Die Frau wankte und wäre vor dem Grabe zusammengesunken, wenn die weinenden Töchter sie nicht aufrecht gehalten hätten. In diesem Augenblick stimmten die Schulkinder, die dicht hinter dem Grabe standen, einen Trauergesang an, den der Lehrer eigens für diese Gelegenheit gedichtet und komponiert hatte. Als die hellen, scharfen Knabenstimmen ertönten, die ihn an eine nun für immer verstummte junge Stimme erinnerten, brach die mühsam behauptete Fassung des verwaisten Vaters zusammen, er drückte sein Tuch vors Gesicht und suchte umsonst das Schluchzen zu ersticken, das seine Gestalt bis zu den Füßen erschütterte.

Der Pfarrer, der die Mutter noch mit ein paar leisen Trostesworten zu beruhigen gesucht hatte, trat dann auch zu ihm heran und bot ihm die Hand; da gelang es ihm, sich zu fassen. Er stammelte ein Wort des Dankes und wandte sich dann zu Frau Maria, sie zu dem Wagen zurückzuführen, da die ganze Trauergemeinde sich herandrängte, ihre Blumen auf den Sarg hinabzuwerfen. Darauf, als der Pfarrer an Frau Agnes vorbeikam, verbeugte sie sich tief und machte eine Bewegung, als wollte sie seine Hand küssen, was er mit einer würdevollen Gebärde abwehrte. Der Professor hatte ehrerbietig seinen Hut gezogen und ihn mit einem lebhaften Blick seiner Hochachtung versichert.

Die letzten, die den Friedhof verließen, sahen eine schwarzgekleidete schlanke Dame, so dicht verschleiert, daß nicht einmal die Farbe ihres Haars zu erkennen war, hinter einem breiten Grabstein vortreten, sich dem Grabe nähern und einen Kranz der schönsten weißen Rosen auf den hochangewachsenen Blumenhügel legen. Dann schritt sie langsam der Pforte zu und bestieg einen Wagen, der draußen ihrer gewartet hatte.

Christel, die unter den letzten zurückgeblieben war, erzählte abends ihrem Freunde Lutz, es könne nur die Gräfin gewesen sein. Am Gang habe sie sie erkannt. Am zweiten Tage nach ihrem letzten Gespräch mit dem Doktor hatte sie den Seehof verlassen. Das Gerücht ging aber, sie sei nicht weit gereist, sondern habe sich in der nächsten Stadt aufgehalten, bis wohin die Nachricht von den Ereignissen jener Schreckensnacht jedenfalls gedrungen war. Da sie Hänsel sehr zugetan gewesen, habe sie nun ohne Zweifel seiner Beerdigung beiwohnen wollen.

Wie sich's damit verhielt, ist nie aufgeklärt worden.

Helmbrecht aber stieg nicht wieder in den Wagen, der Frau Maria und die Tochter nach dem Seehof zurückbrachte.

Er half ihnen hinein, nachdem er alle drei mit nassen Augen umarmt hatte, und schritt dann dem Fußweg zu, der durch den Buchenwald hinaufführte. Es war ihm unmöglich, noch ein anderes Gesicht zu sehen und mit anderen zu sprechen, da ihm das Schwerste noch bevorstand.

Als er zum Stäudlin-Hause kam, hatte ihn Cattina schon erwartet. Die piccina sei zwar auf, lasse ihn aber bitten, erst morgen zu kommen, sie fühle sich heut zu schwach. Er schüttelte schweigend den Kopf und ging langsam die Treppe hinauf.

An der obersten Stufe stand Crone und grüßte ihn mit einem stillen Neigen ihrer Augen. Du hast recht gehabt, mir nicht zu folgen, sagte sie leise. Ich habe meine Bitte auch schon bereut. Ich war feige und fürchtete, ich könne es heute noch nicht überstehen, das Herz würde mir zerspringen, wenn ich dich zum letztenmal sähe. Aber ich muß tapfer sein, der Ätti braucht mich ja noch, und morgen wär's nicht anders gewesen, nur eine bange Nacht hätt' ich noch gehabt. Komm!

Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinein. Drinnen setzte sie sich an ihr Maltischchen, auf dem die Mappe und das Farbenkästchen geschlossen lagen, und er nahm den Stuhl ihr gegenüber. Erzähl mir! sagte sie. Er tat es in abgerissenen Sätzen, sie hörte mit halbgeschlossenen Augen und sagte nur, da er schwieg: Er schläft und ihm ist wohl. Dann, nach einer Pause: Ich werde dich nun nie wiedersehen. Du versprichst mir, mich nicht wieder aufzusuchen, du würdest nur den Kummer von neuem aufregen, den ich bezwingen muß, wenn ich weiterleben soll, für andere, und ein Glück könntest du doch nie mehr bei mir finden. Aber daß ich dich einmal gefunden habe und du mich geliebt hast, das werd' ich dir bis an meinen letzten Atemzug danken, und du verzeih mir, was du durch mich gelitten hast. Was meine Schuld dabei war – ich hoffe, auch droben wird es mir verziehen werden, wenn ich's büße durch meinen lebenslangen Verzicht. Dir aber wünsche ich, Liebster, daß du noch einmal ein volles Glück finden möchtest. Glaub nur, der Wunsch wird mir nicht leicht, aber auch das gehört zu meiner Buße.

Die Tränen wollten sie übermannen, sie drängte sie standhaft zurück und erhob sich. Gehe jetzt, lieber Teuerster! Schone mich! Es ist so bitter, aber es muß sein. Und küsse mich noch einmal – recht herzlich, wenn dir nicht vor mir graut.

Er umfing sie und ließ seinen Tränen freien Lauf. Dann riß er sich los und schritt aus dem Zimmer, während sie auf den Stuhl zurücksank. Draußen stand der alte Maler, der nicht einzutreten gewagt hatte. Auch er umarmte den Scheidenden und sah ihm mit nassen Augen nach, als er die Stufen hinunterstieg. Dann schlich er zu seinem Kinde hinein und nahm sie in seine Arme, sie auf das Ruhebett zu tragen. Neben dem saß er noch lange, nur von Zeit zu Zeit ihre kalte Wange streichelnd, während sie so stille lag, daß er nicht wußte, ob sie schlafe oder wache.

Helmbrecht aber war den Waldweg wieder hinabgegangen, drunten in weitem Umkreis um die äußersten Häuser des Städtchens, und auf der Fahrstraße neben der Bahn hingewandert, besinnungslos, ohne anderen Zweck, als jetzt für immer dieser Unheilsstätte den Rücken zu kehren. Trotz der Mattigkeit seiner Glieder schritt er unaufhaltsam fort, bis nach zwei Stunden die Erschöpfung ihn überwältigte. Er war gerade bei der nächsten Station angelangt, einem ansehnlichen Dorf draußen im ebenen Lande. Da machte er halt, ließ sich im Wirtshaus ein Zimmer geben und sandte dann ein Telegramm an Frau Maria, um ihre Besorgnis zu zerstreuen, wenn es Nacht würde und er nicht zurückkehrte.

Am nächsten Morgen schrieb er ihr einen langen traurig-herzlichen Brief. Er sei entschlossen, sie nie wiederzusehen und den Seehof nie mehr zu betreten. Er dankte ihr für alle Liebe, die sie ihm gegeben, und vertraue zu ihrem Herzen und klaren Sinn, daß sie ihr künftiges Leben so führen werde, wie es zu ihrem und ihrer Kinder Wohl am zuträglichsten sei. Er nahm Abschied auch von den Mädchen, bat, eine ansehnliche Summe, die er beilegte, dem braven Lutz zu übergeben, im Haus der Frau Agnes sein Lebewohl zu bestellen, alles, was er zurückgelassen, ihm nachzuschicken, da er ohne Aufschub in die Stadt und zu seinem Beruf zurückkehre. Sie möge seiner gedenken, wie er selbst sie nie vergessen werde.

Dann fuhr er mit dem nächsten Zuge seinem einsamen Leben und seiner schweren Arbeit entgegen.


 << zurück weiter >>