Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Siebenundzwanzigstes Kapitel.

Der Morgen dämmerte herauf, als der Unglückliche mit wankenden Knien sein Zimmer erreichte, wo er in den Kleidern aufs Bett sank und nach den ungeheuren Erschütterungen dieser Nacht ein bleierner Schlaf sich endlich seines zerrütteten Gemüts erbarmte.

Auf den ersten Blick hatte er erkannt, daß hier jeder Versuch der Wiederbelebung hoffnungslos sei. Als er sich dann wieder aufgerafft hatte und wie gelähmt dem Knecht nachtaumelte, der auch dies Opfer des Sees in seinen Armen dem Hause zutrug, sah er des Knaben Mutter ihm entgegenkommen, von den Töchtern gestützt. Mit einem einzigen Schrei stürzte sie ihm in die Arme. So standen sie eine Weile, Brust an Brust gedrückt, nach der herben freiwilligen Trennung durch das gemeinsame Gramgeschick vereinigt. Doch nur auf kurze Minuten. Dann riß Helmbrecht sich los, um dennoch hoffnungslose Versuche zur Rettung zu machen.

Nach einer langen Stunde hatte er sie aufgeben müssen.

Er lag dann den Rest der Nacht und bis hoch an den Mittag. Auch als er aufgewacht war, fühlte er sich unfähig, sich zu erheben. Die Lähmung seiner Glieder hielt noch an, auch die seiner Gedanken. Auf einmal aber stand, was er zu Nacht erlitten hatte, mit furchtbarer Klarheit vor ihm, doch noch ohne Schmerzgefühl, wie ein grausamer, schreckenvoller Traum. Nicht einmal die Sorge, ob das geliebte Mädchen die Todesgefahr ohne schwere Nachwehen überstanden hätte, kam ihm zum Bewußtsein. Erst als er sich des bleichen, mit blauen Schatten überlaufenen Knabenantlitzes erinnerte, fühlte er einen schneidenden Schmerz am Herzen und brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Dann hörte er Schritte auf dem Korridor herankommen und nahm sich gewaltsam zusammen. Es war sein Kollege, der Kurarzt, der schon am Morgen gekommen war, ihn schlafend gefunden hatte und sich nun abermals nach ihm umsah.

Er litt es nicht, daß Helmbrecht, der hinausstrebte, aufstand, ehe er von dem starken Wein getrunken, den jener schon in der Frühe für ihn gebracht und beiseite gestellt hatte, als er ihn nicht wecken wollte. Heimlich hatte er einen Schlaftrunk hineingeträufelt und saß nun und wartete die Wirkung ab. Beruhigender als das Mittel war, was er von Crone berichten konnte. Sie sei vor mehreren Stunden in das Haus des Vaters hinübergebracht worden, da sie nach einem ruhigen Schlaf sich völlig erholt gefühlt habe. Das Wunderbarste sei, daß ihr Blut durch den gewaltsamen kalten Eingriff plötzlich die frühere schleichende Fiebertemperatur verloren, die ihn, den jungen Arzt, dahin gebracht habe, ein Nervenfieber im Anzug zu glauben. Sie sei völlig klaren Geistes, auch nachdem sie den Tod des Knaben erfahren, den man ihr nicht zu verheimlichen vermocht, habe sie kein Zeichen heftigen Schmerzes gegeben und nur mit unsäglich trauervollen Mienen den Vater begrüßt, der in tiefster Ergriffenheit bei ihr eingetreten sei.

Ein wundersames Wesen! schloß der Arzt. In leiblicher wie in seelischer Beziehung anders als alle andern. Nach ihrem Retter hat sie noch nicht gefragt, auch nicht nach dem Freunde, der sie ins Leben zurückgerufen. Sie ruht nun drüben in ihrem Zimmer, die alte Dienerin und der Vater sind um sie, gegen Abend will ich noch einmal sehen, ob ich etwas für ihre Nachtruhe tun kann.

Helmbrecht hatte das mitangehört, ohne ein Wort zu erwidern. Als der Arzt merkte, daß sein Mittel gewirkt und ein erquickender Schlaf sich eingestellt hatte, verließ er leise das Zimmer.

Bis in den Nachmittag hinein dauerte diese Ruhe. Dann erwachte Helmbrecht und erhob sich, noch immer matt an Seele und Leib, aber wieder im Besitz seiner Willenskraft. Langsam kleidete er sich um und ging dann aus der Tür, den Korridor entlang in das alte Haus hinüber.

Die beiden Mädchen, schon in Trauerkleidern, begegneten ihm und fielen ihm laut weinend in die Arme. Er küßte sie und fragte nach ihrer Mutter. Sie habe erst vor einer Stunde sich bewegen lassen, zu Bett zu gehen, und sei bald eingeschlafen. Vorher habe sie noch alles wegen des kleinen Toten selbst angeordnet.

Als Helmbrecht in das Zimmer trat, wo er so oft mit seinem Kinde traulich gesessen und sein Mahl geteilt hatte, fand er die kleine Leiche aufgebahrt, zu Häupten sechs Kerzen in silbernen Leuchtern, die weiße Decke, die ihn bis an die Brust einhüllte, mit vielen Blumen und Kränzen bedeckt. Die Gäste des Hauses, die meist schon in der Nacht das Unglück erfahren hatten, waren um die Wette bemüht gewesen, der armen Mutter ihre Teilnahme zu bezeigen. Einen großen Kranz der schönsten Rosen hatte Frau Agnes selbst gebracht und dem Kinde, das ihr Liebling gewesen war, Augen und Hände mit ihren Tränen besetzt. Nun lag der Knabe wie in friedlichem Schlaf dem Fenster zugekehrt, durch das man auf die kleine Hütte sah, in der er gestern nacht geruht hatte, bis sein frühes Todesgeschick ihn weckte. In den wachsbleichen kleinen Händen hielt er ein silbernes Kreuzchen, das Gundel ihm hineingesteckt hatte. Die andere Schwester hatte eine weiße Rose hinzugefügt. Das liebe runde Gesicht zeigte keine Spur des Leidens, nur die Augen waren eingesunken.

Als Helmbrecht eintrat, erhob sich der alte Maler von dem Stuhl, auf dem er seit einer Stunde gesessen, bemüht, ein Bild des toten Kindes zu zeichnen. Er sah tiefvergrämt aus den sonst so hellen Augen, Haar und Bart umgaben verwildert das edle dunkelfarbige Gesicht, die Hand zitterte, als er sie dem Freunde entgegenstreckte, der düster, mit trocknen Augen an die kleine Bahre trat. Erst nach einer Weile sagte der Alte: Ich war drüben bei Euch, nach Euch zu sehen. Ihr schliefet aber. Ich segnete diesen Schlaf. Denn wachend dies zu bedenken, braucht's eine übermenschliche Kraft, und Eure war erschöpft. Ich wollte Euch einen Gruß meines Kindes bringen und bestellen, wenn es Euch nicht zu schwer würde, möchtet Ihr zu ihr hinüberkommen, heute wohl noch nicht, doch vielleicht morgen. Sie hätt' Euch manches zu sagen.

Helmbrecht antwortete nicht. Eine Stunde lang stand er unbeweglich neben seinem toten Liebling, dann bückte er sich zu ihm hinab, küßte ihm Stirn und Augen und den blassen kleinen Mund und ging langsam hinaus und hinüber zum Stäudlin-Hause.

Die ihn kommen sahen, hielten sich still zurück, so geisterhaft erschien ihnen der Ausdruck seines erdfahlen Gesichts und so nachtwandlerisch seine Bewegungen. Die Cattina kam ihm drüben im Hausflur entgegen und fiel laut schluchzend vor ihm nieder. Er hob sie auf und drückte sie an sich. Dann ließ er sie los und stieg mühsam die Treppe hinan.

Als er über die Schwelle von Crones Zimmer trat, fand er sie völlig angekleidet auf ihrem Ruhebett liegend. Sie versuchte aufzustehen, die Kraft versagte ihr aber, und er stürzte auch sofort zu ihr hin, sie davon abzuhalten. Er war neben ihr auf den Teppich hingesunken und hatte die Hand, die sie ihm entgegenstreckte, ergriffen und seine Stirn darauf gedrückt, wie damals, da er nach dem Konzert sie im Pavillon getroffen hatte. Und wieder wie damals hatte sie die andere Hand auf sein Haar gelegt und ließ sie dort ruhen, während sie nach einer Pause die Lippen öffnete und sagte: Ich habe dir danken wollen – ich bring' es kaum übers Herz. Hättest du mich doch schlafen lassen, statt mich zum Leben wieder aufzuwecken, in das ich nicht mehr hineingehöre!

Dann, als er immer noch schwieg: Du wunderst dich wohl, daß ich keine Tränen habe. Ich habe sie alle geweint, als ich aufwachte und erfuhr, unser Kind werde seine hellen Augen nie mehr aufmachen. Seitdem habe ich keine Tränen mehr. Wenn ich an diese Nacht denke, überfällt mich ein so starres Grauen, daß sich der Schmerz und Jammer nicht hervorwagen kann. Das wird nicht anders werden, auch wenn ich hundert Jahre lebe. Aber wie ich nicht mehr weinen kann, so werde ich auch nie mehr lachen können. Sage mir nur eins: hat er wohl Qualen gelitten, bis das Bewußtsein erloschen ist? Ich, als ich untergesunken war, nur einen Augenblick hatt' ich ein Angstgefühl am Halse, dann – o warum hast du mich aufgeweckt!

Er stammelte ein paar beschwichtigende Worte, ihre Frage zu beantworten. Langsam erhob er sich und setzte sich auf einen Schemel neben ihrem Lager. In tiefer Bewegung starrte er auf ihr Gesicht, das wie aus Alabaster gemeißelt trotz ihrer ruhigen Worte dem Leben nicht mehr anzugehören schien. Auch suchte ihr Blick nicht den seinen und schien auf etwas weit Entferntes gerichtet.

Höre, mein Freund, fing sie wieder an, noch eins mußt du wissen. Du darfst nicht glauben, daß ich selbst den Tod gesucht hätte, um dir zu entfliehen, den ich nicht halten und nicht lassen konnte. Ich wurde wie von einem Dämon umgetrieben, ganz willenlos, auf den See hinaus, vor dem ich immer ein Grauen hatte, dann in die Tiefe, wo ich meine Mutter zu sehen glaubte. Wäre ich bei Sinnen gewesen, gewiß, ich hätte an den Ätti gedacht, dem das Herz in Stücke gegangen wär', und an dich – obwohl wir getrennt waren. Aber ich mußte hinunter, ich mußte! Und bin nun schuld an dem allergrößten Unglück, das ich lebenslang auf dem Gewissen haben werde.

Crone, sagte er, wie kannst du so sprechen? Du selbst weißt, daß du nicht mit Willen tatest, was so furchtbar ausgehen sollte, daß es ein Dämon war, der dich trieb. Aber so jammervoll es ist, wie sollte es dir auf dem Gewissen lasten? Und daß der Kleine dir nachsprang, um dich zu retten – ist das deine Schuld? Ist's nicht der einzige helle Gedanke in der grauenvollen Nacht dieses Schicksals, daß er so mutig und heldenhaft sein Leben zum Opfer brachte?

Sie schüttelte langsam das Haupt, und ein schwerer Seufzer drang aus ihrer Brust. Nein, nein, hauchte sie, so ist's nicht. Du mußt auch das erfahren. Als ich den Hänsel auf seinem Lager schlafend fand, fuhr mir der Gedanke durch den Sinn: wenn er nicht lebte, nie gelebt hätte, könnte ich vielleicht noch glücklich werden. Auch das gab der Dämon mir ein. Dann tauchte es wieder unter in mir, eh es noch ein Wunsch geworden war. Aber ich hatte es doch denken können, und das grausame Schicksal hat mich beim Wort genommen und den unausgesprochenen, nicht einmal zu Ende gedachten Wunsch eilig erfüllt. Es wußte wohl, daß es mich nicht härter strafen konnte. Denn mit der Erfüllung ist erst recht jede Hoffnung untergegangen, daß uns noch ein Glück beschieden sein könnte.

Der Eintritt Cattinas überhob ihn einer Erwiderung auf dies hoffnungslose Bekenntnis. Sie brachte einen Korb, in den sie die sämtlichen Blumen ihres Gärtchens gesammelt hatte.

Geh nun, mein Freund, bat das Mädchen. Ich kann noch nicht viel sprechen, obwohl ich ganz gesund bin. Ich will einen Kranz winden und ihn dir dann schicken, daß du ihn selbst in sein Grab legen sollst. Morgen soll er beerdigt werden. Wenn alles vorbei ist, möcht' ich dich noch einmal sehen, obwohl ich dir nichts mehr zu sagen habe. Grüß mir auch seine Mutter. Was muß sie gelitten haben, und wie kann sie je wieder froh werden!

Sie reichte ihm die Hand und versuchte, ihm durch ein Lächeln den Abschied zu versüßen. Ihr Mund blieb aber starr. Nur in ihren Augen leuchtete ein leiser Glanz der alten Zärtlichkeit auf.

So verließ er sie.


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