Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Zwanzigstes Kapitel.

Es konnte nicht fehlen, daß das nächtliche Ereignis die Gemüter der Seehofgäste in den nächsten Tagen ausschließlich beschäftigte.

Diejenigen, die es nur von ferne miterlebt hatten, beeilten sich am nächsten Morgen, die Brandstätte in Augenschein zu nehmen und sich von den Nachbarn alle Einzelheiten des Unglücksfalls, alle Vermutungen, wie er entstanden sein mochte, ausführlich berichten zu lassen. Der besonnenen Hilfe und todverachtenden Tat Helmbrechts wurde mit großer Verehrung gedacht, während er selbst, wenn er sich unten bei den Verletzten zeigte, mit schroffer Manier sich allen Ergüssen des Dankes und der Bewunderung entzog.

Zur Ehre der Kurgesellschaft aber muß gesagt werden, daß sie es nicht bei müßiger Neugier bewenden ließ.

Gleich am nächsten Abend, nachdem die Tafel aufgehoben war, machte Yvonne den Vorschlag, ein Konzert aus ihren eigenen Mitteln zu veranstalten und den Ertrag dem Gärtner und Schulmeister zugute kommen zu lassen. Dem letzteren zumal war fast seine ganze fahrende Habe vom Feuer vernichtet worden, und die Frau kam aus dem Weinen und Jammern nicht heraus.

Der Vorschlag fand eine allgemeine begeisterte Aufnahme. Allen war es erwünscht, ihre Talente einmal glänzen zu lassen, und so war's eine geringere Verlegenheit, ein stattliches Programm zusammenzubringen, als allen Ansprüchen der Mitwirkenden, die sich hinzudrängten, zu genügen.

Daß Sascha Bergs Ouvertüre zu seiner verflossenen Oper das Konzert eröffnen sollte, verstand sich von selbst. Das Anerbieten Amandas aber, ein Kapitel ihres Mammonromans vorzulesen, in welchem das fluchwürdige Geld ausnahmsweise auch einmal Segen spendete, wurde abgelehnt, die Dichterin dagegen aufgefordert, einen Prolog für den Abend zu verfassen, was sie nach einigem Sträuben versprach. Fräulein Lilli Flügel wollte die Pagenarie ans Figaros Hochzeit singen, wozu ihr Freund sie begleiten würde, dann, falls es verlangt werden sollte, einige heitere französische Liedchen als Angabe vortragen. Der junge Baron wurde schriftlich eingeladen, mitzutun, und erklärte sich bereit, Schuberts Müllerlieder zu singen, was dankbarst aufgenommen wurde. Yvonne dachte zuerst daran, den Monolog der Jungfrau von Orleans zu rezitieren, fand es dann aber wirksamer, mit einer längeren Soloszene in Reimen den Schluß zu machen, die ein junger Theaterdichter eigens für sie verfaßt hatte, und in der sie alle Register ihrer schalkhaften Anmut ziehen und auch einige rührende Töne anschlagen konnte.

Der Komponist brachte noch zur Debatte, ob man nicht Fräulein Stäudlin einladen sollte, etwas auf ihrer Geige zum besten zu geben. Er hatte nach gelegentlich erlauschten Duetten mit ihrem Vater eine hohe Meinung von ihrem Talent. Yvonne zweifelte, ob man die »etwas hochmütige junge Dame« dazu werde bewegen können, sich hören zu lassen. Es wurde aber doch beschlossen, eine Deputation an sie zu senden – Sascha und die Dichterin –, die denn auch berichteten, das Fräulein habe bereitwillig zugesagt, um des wohltätigen Zweckes willen einige alte italienische Kanzonen und eine Tarantella zu spielen, was von dem kleinen Komitee mit Freuden begrüßt wurde.

Weniger erwünscht war das Anerbieten Doktor Kowrats, eine Dichtung über das Elend der Welt vorzutragen, die er in seiner Jugend, eh' er noch die Poesie mit der Journalistik vertauscht, auf Grund seiner buddhistischen Studien verfaßt hatte. Man scheute sich aber, ihn zu kränken, auch machte er geltend, daß schon das Thema für ein Wohltätigkeitsfest besonders passend erscheine, und da die Rezitation nicht über eine Viertelstunde dauern würde, ergab man sich resigniert auch in diese Nummer des Programms.

Da nun aber die Vorbereitungen zu dem Konzert immerhin eine Woche in Anspruch nahmen, Hilfe aber sofort nottat, regte Yvonne noch eine andere Maßregel an, die von dem nämlichen Komitee durchgeführt wurde, eine Sammlung für die Abgebrannten. Sie selbst stellte sich mit fünfzig Mark an die Spitze der Liste, die herumgehen sollte. Ich zeichnete gern mehr, bemerkte sie, wenn es nicht prahlerisch aussähe und Minderbemittelte verstimmen könnte. So folgten ihr die andern mit dem gleichen Satz, zunächst die Kommerzienrätin, dann der junge Baron und so weiter, desgleichen der Professor und Frau Agnes, Veit Stäudlin und Helmbrecht, dem sich natürlich die Wirtin vom Seehof anschloß. Als das Blatt an das Schwesternpaar kam, erklärte die Mammondichterin mit edlem Freimut, sie sei nicht reich genug, um mehr als zehn Mark zu zeichnen, was der Leutnant Kurt von Kastrow begierig ergriff, um mit zwanzig Mark wieder eine Stufe hinaufzurücken. Da nun unter den Kurgästen sich mehrere sehr wohlhabende und gutherzige Menschen befanden, brachte schon die Sammlung in ihrem Kreise eine ansehnliche Summe zustande, und die begüterten Honoratioren im Städtchen, denen die Liste zugesandt wurde, konnten nicht wohl dahinter zurückbleiben, so daß der Ertrag alle Erwartungen übertraf.

Dazu sollte nun noch die Einnahme aus dem Konzert hinzukommen.

Es war bestimmt worden, daß das Billett für die Halle drei Mark kosten solle, »ohne der Wohltätigkeit Schranken zu setzen«. Da das Wetter so günstig war, hatte man draußen vor der Fensterwand noch zwei Reihen Stühle aufgestellt, auf denen, da die Fenster weit offen blieben, die Vorträge so gut wie im Innern genossen werden konnten. Die Plätze im Wirtsgarten wurden dem geringeren Publikum gegen ein bescheidenes Eintrittsgeld zugänglich gemacht und zu diesem Zweck der Eingang dazu durch eine Schnur abgegrenzt, während zu erwarten war, daß der Zaun, der den Seehofbezirk nach dem Walde zu abschloß, durch die Armen des Städtchens, die gratis zuhören möchten, besetzt werden würde.

Nun vergingen die Tage unter eifrigen Übungen zu den verheißenen Produktionen. Die Programme wurden im Städtchen gedruckt, das Pianino vom Lehrer gestimmt, Lilli repetierte ihre Arie, Amanda sah man vor dem Pavillon am Walde eifrig dichtend und ihrer Schwester diktierend auf und ab schreiten, und der lange Lutz mußte am Ende der Halle ein kleines Podium zusammenzimmern, auf dem das Instrument stehen und die Singenden und Deklamierenden sich vor den Zuhörern zeigen sollten. Einen Teppich ließ Frau Maria darüberbreiten, und die improvisierte kleine Bühne nahm sich ganz stattlich aus, zumal als zwei Oleanderbäumchen zu beiden Seiten des Pianinos aufgestellt worden waren.

Darüber kam der Tag des Konzerts, ein Sonnabend, heran, zu der gewöhnlichen Stunde, sechs Uhr abends, wo die Geschäfte und Werkstätten unten geschlossen wurden und Abendgäste hinaufkamen. Diesmal sah man schon viel früher eine bunte Menschenmenge sich einfinden. Denn so oft auch oben auf dem Seehof Musik gemacht wurde, eine so vornehme Veranstaltung durch die Kurgäste selbst war ein Ereignis, dessen man sich überhaupt nicht entsann. Der Konzertsaal nebst den Sitzen im Freien, dazu die Bänke im Wirtsgarten waren schon eine halbe Stunde vor dem Anfang dicht besetzt, alle in einer lautlos feierlichen Stimmung. Hoch über den Wipfeln des Bergwaldes stand der Mond, der schon sein zweites Viertel erreicht hatte, und eine liebliche windstille Luft spielte um die Gesichter der Menschen, die hier seltene Genüsse erwarteten.

Die große offene Halle hatte zwei Zugänge, einen vom Hause her, durch den die mit Billetten Versehenen eintraten, den anderen am unteren Ende, der für die Mitwirkenden freigehalten war. Das Innere war mit dichtgestellten Stuhlreihen ausgefüllt, auf deren vorderster neben dem Bürgermeister und den Herren vom Magistrat man Frau Agnes und den Professor bemerkte, sehr ungewohnte Erscheinungen in diesem Raum. Sie saßen dicht vor der schmalen Estrade, die der Gärtner aus Dankbarkeit mit Gewinden aus seinem Garten verziert hatte, wie er auch für die singenden und deklamierenden Damen Blumensträuße bereit hielt.

Diese erschienen endlich, von den Herren geführt, durch die »Künstlertür« und nahmen auf den Stühlen an der Rückwand zu beiden Seiten des Pianinos Platz. Als der letzte trat Veit Stäudlin ein, mit seiner Tochter, die sogleich aller Blicke auf sich zog. Man hatte selten Gelegenheit, ihrer ansichtig zu werden, da sie nie in das Städtchen hinunterkam und auch oben einsame Wege liebte. Heute nun konnte man sie mit Muße betrachten. Sie erregte auch durch ihren Anzug die besondere Aufmerksamkeit, zumal des weiblichen Publikums. Denn sie trug ein schlichtes granatrotes Kleid, das sie nach eigenem Schnitt selbst verfertigt hatte, unabhängig von jeder Vorschrift der Mode, mit Ärmeln, die nach dem Handgelenk zu sich enger anschlossen, und einen Rock mit wenigen Falten, der kaum über die Knöchel reichte, oben aber bis an die Halsgrube. Sie hatte für dies ihr einziges Festkleid gerade einen Stoff von solcher Farbe gewählt, um darin ihrem Vater als Staffage für seine Landschaften zu dienen. Über die schlanken Schultern und die zarte Brust fiel ein breiter Spitzenkragen von kostbarer venezianischer Arbeit, das Brautgeschenk der Tante Corona an ihre junge Mutter, das sie nur bei feierlichen Gelegenheiten aus der Lade nahm. Über diesem hing an dem goldenen Kettchen das Medaillon mit dem mütterlichen Bildnis und auch die Mitte des Kleides war von einer goldenen Kette umfangen. Um den Kopf aber trug sie ein schmales Band von der Farbe des Kleides, das die reiche Fülle ihres Haars zu bändigen bestimmt war, aber nicht hindern konnte, daß die braunen Locken bei jeder Neigung auf ihre Geige nach vorn herabwallten.

Auch die Männer, so wenig künstlerische Augen unter ihnen waren, fühlten sich durch das fremdartig reizende Wesen, eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt, seltsam angezogen, und da sie den äußersten Platz auf der linken Seite einnahm, war sie am meisten allen Blicken ausgesetzt, ohne jedoch durch die neugierige Musterung irgend befangen zu werden. Ihr Gegenüber, die vorderste auf dem rechten Flügel, war Yvonne. Sie bildete in jedem Sinne, durch ihre völlig anders geartete Schönheit und die Kleidung vom ausgesuchtesten Modestil, den geraden Gegensatz zu dem Malerskinde. Yvonne war Kennerin genug, um dem feinen Geschmack ihres Kostüms Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Doch meinte sie, den Vergleich immerhin aushalten zu können, selbst in den Augen des einzigen Mannes, der unter der ganzen Gesellschaft für sie in Betracht kam.

Den hatte ihr erster Blick, als sie die Halle betrat, gesucht und oben am äußersten Ende auf der letzten Stuhlreihe gefunden, Hänsel und seine Schwestern neben sich. Frau Maria hatte sich bescheiden in den Hintergrund postiert. Helmbrecht aber verwandte keinen Blick von dem geliebten Mädchen.

Jetzt aber erschien die große Gestalt der Dichterin auf dem Podium, den Strauß in der linken Hand, mit der Rechten die Verse begleitend, die sie in etwas singendem Ton, doch für diese Zuhörer um so eindrucksvoller vortrug. Auch waren es warme und wohlklingende Worte, in denen die ziemlich landläufigen Gedanken zum Ausdruck kamen, und als sie sich zum Schluß hoheitsvoll verneigte, wurde sie mit lebhaftem Händeklatschen entlassen, an dem sich auch die Zuhörer draußen vor den Fenstern beteiligten.

Die Ferneren im Wirtsgarten und vollends das Zaunpublikum hatten nur ein sonores Summen vernommen. Auch sie aber kamen zu ihrem Schaden, als nun Saschas Ouvertüre über die Tasten brauste. Es kann unsere Aufgabe nicht sein, über den Erfolg einer jeden Nummer zu berichten. Auch versteht es sich von selbst, daß schon der wohltätige Zweck die Hörer dankbar gestimmt und jede Kritik entwaffnet hätte, selbst wenn die Bewohner des weltfremden Städtchens kritischer begabt gewesen wären. Sogar das pessimistische Poem des Journalisten, wenn es auch einige Langeweile erregte und den meisten unverständlich blieb, warum eine Welt durchaus schlecht sein sollte, in der es sich doch so behaglich leben ließ, wurde mit respektvoller Andacht angehört, da niemand eingestehen mochte, daß er zum Verständnis dieser radikalen Weltfluchtgedanken vielleicht zu ungebildet sei.

Als vorletzte Nummer, da Yvonnes dramatische Szene wie ein geistreiches Feuerwerk den Schluß machen sollte, stand Crones Geigenspiel auf dem Zettel. Sie erhob sich sofort, nachdem ihr Vorgänger, Doktor Kowrat, geendigt hatte, nahm ihr Instrument aus dem Kasten, der neben ihrem Stuhl gelegen, und betrat das Podium, während ihr Vater sich an das Pianino setzte. Mit einem kaum sichtbaren Neigen des Kopfes grüßte sie das Publikum und begann dann die Geige zu stimmen nach dem Ton, den der Vater ihr angab. Dann setzte sie sie gegen die Schulter und tat den ersten Strich des reizenden alten Ständchens von Pergolese:

Tre giorni son che Nina
Al letto se ne sta.

Während andere Sänger und Spieler das kleine Stück meist tragisch aufzufassen pflegen, als ob die Musik eine Tote aufwecken sollte, die schon drei Tage lang regungslos auf ihrem Lager ruht, hatte sie begriffen, daß sich's um eine schalkhafte Aufforderung des Liebenden handelt, der Gitarren, Zimbeln und Pauken auffordert, sich kräftig hören zu lassen, um das Mädchen endlich herauszulocken, das sich sonst zu Tode schlafen möchte. Die Munterkeit dieser Serenade kündigte sie schon durch das Tempo ihres Spieles an und durch einen süßen Übermut des Vortrags, der natürlich am Verständnis dieses Publikums verloren ging.

Größeren Erfolg hatte das zweite Stück, eine holdselige italienische Kanzone eines alten Meisters, die zwischen den lieblichen Fiorituren Töne innigen Gefühls durchklingen ließ. Hatte man aber dieses Stück schon redlich genossen und beklatscht, so entfesselte vollends die Tarantella, in der sie die ganze übermütige Kunst ihres Spiels glänzen ließ, einen Sturm von Beifall, der immer noch fortbrauste, nachdem die Spielerin, die sich freundlich dankend verneigt hatte, längst zu ihrem Sitz zurückgekehrt war.

Als sie gar nicht mit Klatschen aufhören wollten, flüsterte Sascha, der gleichfalls sehr begeistert war, ihr zu, es gehe nicht anders, sie dürfe den Wunsch des Publikums nach einer Zugabe nicht unerfüllt lassen.

Einen Augenblick sah sie ihren Vater an. Als sie aber an dessen Achselzucken erkannte, daß er für einen solchen Fall keine Noten mitgebracht hatte, stieg sie kurz entschlossen auf das Podium wieder hinauf und setzte, nachdem der dankende Applaus verhallt war, die Geige wieder an.

Sie hob aber noch nicht gleich den Bogen. Es schien, daß sie erst noch mit sich selbst zu Rate ging, was sie spielen sollte. So stand sie ein paar Sekunden und ließ ihren sinnenden Blick über die dichtgescharten Köpfe zu ihren Füßen bis an das Ende der Halle gehen. Da leuchtete es plötzlich in ihren Augen auf und sie begann zu spielen.

Es war das bekannte thüringische Volkslied »Ach, wie ist's möglich dann –«, das von ihren Saiten erklang. Sie hatte es manchmal von Mädchen singen hören, die Hand in Hand über die Wiese wandelnd allerlei schwermütige Weisen in den Abend hinausklingen ließen. So süß und weich und zugleich leidenschaftlich, wie sie es spielte, hatte von allen Zuhörern keiner je die zarte Melodie vernommen. Es blieb auch nicht bei den wohlbekannten Tönen. Denn nachdem sie ein paarmal erklungen waren, ging die Spielerin in eine freie Phantasie auf das Thema über, und eine Innigkeit, Stärke und leidenschaftliche Macht strömte aus dem kleinen Instrument, daß selbst die stumpfsten unter den Zuhörern sich in den Bann dieser jungen Seele hineingezogen fühlten und atemlos den Bekenntnissen geheimer Leiden und Wonnen lauschten, die wie Klänge aus einer anderen Welt durch den Saal schwebten.

Als die Geige endlich verstummte, schwieg auch noch im Saal jeder Widerhall der ergriffenen Menge; dann aber brach ein so lauter Sturm von Begeisterung los, daß man nicht mehr eine Gesellschaft beschränkter Spießbürger, sondern bacchantischer Musikenthusiasten zu hören geglaubt hätte.

Die diesen Sturm entfesselt hatte, war nur noch einmal, so unermüdlich er forttobte, auf die Estrade getreten, um sich zu bedanken, dann hatte sie ihr Instrument in den Kasten gelegt und sorglich verschlossen und war, dem Vater zunickend, aus der Künstlertür ins Freie gegangen und den nachfolgenden Blicken entschwunden.


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