Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

In diesem traurigen Zustande, dessen Ende nicht abzusehen schien, waren vier Tage vergangen.

In der Nacht des fünften, gegen die zehnte Stunde, erwachte die Schläferin plötzlich, da durch eine schlechtverwahrte Lücke des Vorhangs ein breiter Mondstrahl ihr Gesicht streifte. Einen Augenblick sah sie sich um und strich sich die Haare von der fieberglühenden Stirn. Es war eine dumpfe Luft im Zimmer, die ihre Brust beklemmte. Leise setzte sie sich im Bett auf und liebkoste mit den nackten Füßen Fulvos Rücken, der daneben lag. Dann stieg sie über ihn hinweg, legte ein Röckchen an und eine leichte Jacke, fuhr in die Pantoffeln und hing zuletzt ein schwarzes Seidenmäntelchen um, das ihre ganze Gestalt bis zu den Knöcheln bedeckte. So stand sie tief aufatmend ein paar Sekunden lang im Zimmer und schlich dann in den Korridor hinaus. Aus der halb offenen Türe drüben drangen die schweren Schlaftöne der Cattina, die endlich nach vier bang durchwachten Nächten der Erschöpfung erlegen war. Gleichwohl vernahm sie das leise Geräusch der sich nähernden kleinen Füße. Che c'è, piccina? lallte sie aus dem Traum. Als keine Antwort kam, fiel sie wieder in ihre Bewußtlosigkeit zurück.

Der Lauscherin draußen hatte das Herz gepocht. Nun schlich sie beruhigt nach der dunklen Treppe, glitt, von Fulvo gefolgt, hinunter und öffnete die nur leicht verriegelte Tür.

Der Glanz des Vollmonds schlug ihr blendend entgegen, als sie unter dem Balkon hervor ins Freie trat, dazu die erquickende Kühle der Nachtluft, nach der sie geschmachtet hatte. Zugleich aber erregte all der Zauber ihr Blut, sie fühlte sich wie in einem Rausch, wie von Flügeln gehoben, als sie den Weg zwischen den Wiesen betrat. Wohin sie wollte, was sie draußen suchte, wußte sie nicht, nur fort von dieser Stätte, wo sie so viel gelitten hatte, fortwandern die Nacht hindurch und den folgenden Tag und wieder eine Nacht, bis sie umsänke vor Erschöpfung, um nie wieder aufzustehn. Eine Art von beseligendem Irrsinn war über sie gekommen, sie hätte tanzen und singen mögen in dieser Weltentrücktheit, doch hatte sie noch so viel Besinnung, daß sie sich ganz still verhielt und sogar leise auftrat, als könne ihr Schritt jemand herbeiziehe der ihre einsame Wonne störte.

Und da kam wirklich eine dunkle Gestalt heran, vom Hause der Frau Agnes gerade auf sie zu. Sie stand erschreckend still, lächelte dann aber und setzte ihren Weg fort, da sie gesehn hatte, es war kein Gefährlicherer als Theodor. Der arme Knabe hatte sie all diese Tage entbehrt und dunkel begriffen, daß sie krank sei. Nun hatte auch ihn auf seinem Lager im Freien, das im Garten bei der Gärtnerwohnung ihm bereitet war, der grelle Mondschein geweckt, und in seinem dumpfen Hirn war der Wunsch aufgeblitzt, zu sehen, was seine Freundin mache. Mit jener List, die bei seinesgleichen oft gefunden wird, hatte er sich sacht erhoben, sich vollends angekleidet und war dann, da die Gartentür nachts verschlossen war, über den ziemlich hohen Zaun gestiegen.

Wollen wir spazieren gehn, Theodor? flüsterte das Mädchen.

Der Knabe nickte mit einem freudigen Grinsen.

So gingen die drei an dem Garten entlang und dem Walde zu. In Crones Sinn regte sich dunkel der Vorsatz, die Waldsteige hinaufzuwandern, immer weiter und weiter durch die nächtliche Waldeinsamkeit, bis sie das Bergland überstiegen hätten und nun die weite fremde Welt vor ihnen läge, die sie vom Hexenbühel aus mit Sehnsucht gesehen, und wo niemand sie kannte. Als sie aber auf dem Fußweg am Waldsaum bis zu der Stelle gekommen waren, wo der Pavillon sich über den Stufen erhob, stutzte sie plötzlich. Die Erinnerung schien in ihr aufzudämmern an die selige Stunde, die sie dort erlebt, an die süßen Liebesworte, die sie aus einem geliebten Munde vernommen hatte. Ein bittrer Seufzer drang ihr aus der Brust. Sie trat, den Knaben ungestüm sich nachziehend, aus den Schatten des Waldes heraus, wo es ihr nun nicht mehr geheuer war, und führte ihr kleines Geleit außen herum in der Richtung nach dem Seehof.

Ehe sie aber diesen erreichte, gelangte sie an das Ende des Sees, der hier in die Wiese hinaustrat. Er lag noch mit einer tiefschwarzen, gediegenen Spiegelfläche zwischen seinen dunklen Ufern, da der Mond noch nicht den Zugang zu seiner Flut gefunden hatte. Crone wendete keinen Blick nach ihm. Sie beschleunigte ihren Gang, als wäre ein plötzlicher Gedanke in ihr aufgeleuchtet. So erreichte sie die nächtlichen Lagerstätten der Kurgäste, die im Schutz ihrer Hüttchen im Freien schliefen. In der kleinsten und vordersten lag Hänsel, mit Hemd und Höschen bekleidet, unter einer leichten Wolldecke. Seine Füße ragten aus dem Schatten des Dächleins in den Mondschein hinaus. Er schlief fest, aus dem Helldunkel glänzte sein helles Gesicht unter dem dichten Haarschopf und die roten Lippen leuchteten ein wenig.

Wie um ihn näher zu betrachten, hatte das Mädchen sich neben das kleine Lager hingekniet, die Hände im Schoß gefaltet. Theodor und der Hund standen regungslos zu ihren beiden Seiten. So leise sich aber alle drei verhielten, schien der Knabe doch zu empfinden, daß jemand sich ihm genähert hatte. Er schlug langsam die Augen auf, blickte um sich und sagte: Oh, Tante Crone! Willst du auch hier draußen übernachten? Soll ich dir meine Hütte geben? Ich brauch' kein Dach über mir, um zu schlafen.

Sie antwortete nicht sogleich. Ihre Augen hingen unverwandt an dem frischen Knabengesicht, das in jedem Auge an ein anderes in ihr erinnerte und den Schmerz erneuerte. Nie zuvor war die Ähnlichkeit ihr aufgefallen, und sie hatte den Knaben immer lieb gehabt, ohne an seinen Vater dabei zu denken. Heut aber fühlte sie in der dumpfen Umschleierung ihres Bewußtseins etwas wie Haß gegen ihn, als ob er an all ihrem Unglück schuld sei, und alles noch gut werden könnte, wenn er nicht auf der Welt wäre. Mit einer rauhen Gebärde stieß sie die kleine Hand zurück, die sich ihr entgegenstreckte. Was willst du von mir? hauchte sie.

Sie erhob sich rasch von den Knien, der Knabe aber war ebenso hurtig aufgesprungen.

Tante Crone, bat er schmeichelnd und bemächtigte sich trotz ihres Widerstrebens ihrer Hand, ich bin gar nicht mehr müde. Wo gehst du hin? Und darf ich dich nicht begleiten? Willst du baden? Ich hole dir einen Anzug und ein Badetuch. Ich weiß, wo Frau Jäger den Schlüssel versteckt.

Damit hatte er sie ein paar Schritte fortgezogen dem See zu. Sie folgte willenlos. In ihrem irren Sinn fand nichts Eingang, als die unerwartete Erkenntnis, daß der Knabe, der sich an sie drängte, ihr Feind sei. Und doch hatte sie nicht die Kraft, seine kleine Hand von der ihren zu lösen, und folgte ihm, wohin er sie führte.

Als sie aber das Seeufer erreichten, stand sie still.

Ich will nicht baden, hörst du? Geh zurück – laß mich allein!

Er rührte sich aber nicht. Dann wollen wir Schiffchen fahren, Tante Crone, sagte er. Du sollst sehen, wie gut ich rudern kann. Ich hab' es von Fritz gelernt. Bitte, steig ein, Tante!

Unweit des Endes, wo der See eine kleine Bucht bildet, lag ein schmaler Kahn an einen Pflock angekettet, der zuweilen von den Kurgästen benutzt wurde und sonst dazu diente, die Seefläche von allerlei Unrat zu säubern. Doch ehe Hänsel hineinspringen konnte, hatte sich Theodor bereits vorgebeugt und mit einem fröhlichen Kichern Crone die Hand hingestreckt, ihr hineinzuhelfen. Das Mädchen in seinem Traumzustand, ohne klar zu wissen, was es tat, zauderte nur eine kurze Weile und stieg dann in das schwanke Fahrzeug. Sofort sprang Fulvo nach. Hänsel aber blieb bestürzt zurück. Er wußte, daß das leichte Fahrzeug nur drei Personen trug, und daß es umsonst gewesen wäre, mit Theodor um das Ruder zu kämpfen. So stand er traurig am Ufer und mußte es geschehen lassen, daß jener die Kette vom Pflock löste und mit einem flinken Ruderschlag den kleinen Nachen auf den See hinaustrieb.

Das Mädchen saß vorn im Kahn, ihrem Schützling zugewendet, der auf dem Bänkchen am Steuerbord kauerte und langsam die beiden Ruder bewegte, von Zeit zu Zeit auflachend, wie wenn ihm ein feiner Streich gelungen wäre.

Er stammelte ein paar unverständliche Worte an sie hin. Sie achtete nicht darauf. Sie sah unverwandt zwischen den dunklen Waldhöhen, die den See umgaben, in die Wiesen hinaus, die taghell herüberglänzten. Ganz hinten sah sie den Turm des Observatoriums, dessen Kuppel silberblank sich in die reine Luft erhob. Nie hatte sie die Gegend von diesem Punkt aus überblickt, es war ihr als wäre sie in eine fremde dunkle Welt versetzt, in die nur die Erinnerung an ihr früheres Leben hereinleuchte.

So schloß sie die Augen und ließ sich auf der leicht schwankenden Flut hintreiben, die nackten Füße in den kleinen Hausschuhen auf den warmen Rücken Fulvos gestellt, der schlafend dicht vor ihr lag.

Auf einmal trat der Mond hinter den letzten Wipfeln hervor und goß sein volles Licht auf die Flut des Sees, die durch den hindurchziehenden Kahn in leichten Ringen bewegt wurde. Die plötzliche Helle traf ihr Gesicht. Sie sah auf und zu dem strahlenden Gestirn empor, vom Zauber dieser Fülle des Glanzes überwältigt. Ihr war so seltsam zumut, als hätte sie alle Schmerzen und Trübsale des irdischen Lebens hinter sich gelassen und schwimme in einem seligen Jenseits, wohin kein Laut der feindlichen Welt ihr zu folgen vermochte. Immer sanfter floß ihr Blut, immer ruhiger klopfte ihr Herz. An die Menschen, die sie zurückgelassen, dachte sie nur wie an Bilder, die sie gesehen, nur die Landschaft, die ihr Vater Helmbrecht geschenkt, trat einen Augenblick vor ihre Erinnerung, und sie wunderte sich, daß es schon einmal im Bilde sich so zugetragen, daß eine Knabengestalt, die der Genius der Genesung war, sie über das Meer an eine sichere Küste gerudert hatte. Auch der kleine See erschien ihr wie ein weites Meer, aber sie fürchtete sich gar nicht, sich ihm anzuvertrauen. Nichts Schlimmes konnte ihr mehr zustoßen in diesem sicheren Kahn, kein Sturm aufstehn, sie wie ihre Mutter in die Tiefe zu reißen.

Nur die Augen schmerzten sie endlich von dem unverwandten Hineinstarren in die leuchtende Scheibe. Sie senkte jetzt den Blick zur Fläche des Sees hinab und sah die Silberfunken zwischen den schwarzen Wellen spielen und tauchte die heiße Hand über den Rand des Kahns in die weiche Flut. Auf einmal aber zog sie sie zurück. Ihre Augen hefteten sich mit einem Ausdruck des Schreckens auf einen Punkt, wo das Mondgesicht widergespiegelt aus der Tiefe heraufsah. Ihre Brust arbeitete heftig, sie erhob sich von ihrem Sitz und kniete am Bord des Nachens nieder, starr in die Tiefe blickend. Immer lauter atmete sie, immer schwerer neigte sich der Rand des Schiffchens nach der Wasserfläche – Theodor stieß ein dumpfes Grunzen aus, ein warnendes Lallen, indem er sich schwerfällig aufrichtete, wie um sie zurückzureißen. Da fuhr sie mit irrem Blick, das Haupt weit vorgebeugt, in die Höhe und rief mit einem Ton des Entzückens zur Flut hinab: Vengo, Mamma, vengo! Aspetta tua figlia!

Mit diesen Worten, die sie wild und wie außer sich hinausschrie, stieg sie auf das Bänkchen, stand dort einen kurzen Augenblick, ihr Kleid zusammenraffend, und ließ sich dann, mit einer Hand hinunterwinkend, über Bord gleiten.

In demselben Augenblick fuhr der Hund mit rauhem Geheul in die Höhe und setzte in einem mächtigen Sprunge ihr nach. Das schmale Fahrzeug schwankte und beugte sich bis an den Rand zur Seefläche hinab, so daß es schien, als ob auch Theodor das Gleichgewicht verlieren und über Bord taumeln müsse. Er stemmte sich aber mit dem Instinkt der Selbsterhaltung fest gegen den Boden des Schiffchens, und aus seiner gequälten Brust drang ein Hilferuf, der wie das Gebrüll eines verwundeten Tieres klang und sich immer wiederholend weit über den dunklen See hinaushallte.

Am Ufer drüben hatte der Knabe die ganze furchtbare Szene miterlebt, in tödlichem Entsetzen, als Crone sich erhob und den Nachen ins Schwanken brachte. Sobald sie in die Tiefe hinab verschwunden war, hatte er seine kleinen Schuhe abgeworfen und sich in den See gestürzt. Er war mit dem Wasser so vertraut, daß er in wenigen Minuten den Kahn erreichte. Aber wohin Crone gesunken war, konnte er nicht erkennen. Nur Fulvos Rücken tauchte hin und wieder vor ihm auf. Er glaubte, an ihm einen Führer zu haben, und regte die kleinen Arme eifrig dem Hunde nach, verlor ihn aber wieder aus dem Gesicht. Nun wandte er sich ab und schwamm gegen das steile Ufer drüben, das von hohem Schilf umwuchert war. Darin verstrickte er sich und sein jammervolles Rufen klang in die Stille hinaus, bis das Wasser es erstickte. Sein kleiner Kopf hob sich noch eine Weile über die Flut empor. Dann war von ihm nichts mehr zu sehen.


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