Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Siebentes Kapitel.

Als Helmbrecht sich dem Zaun näherte, der den Garten der Frau Agnes umschloß, sah er die noch immer jugendliche Gestalt der Dreiundfünfzigjährigen aus der Hintertür des Hauses treten, eine Gartenschere in der Hand, am andern Arm ein Körbchen, auf dem Kopf einen breiten Sommerhut, der das hübsche helle Gesicht anmutig verschattete. Ihr ehemals goldblondes Haar war zum reinsten Silber verwandelt worden, umgab aber noch in dichtem Wellenscheitel die glatte Stirn, unter der zwei vergißmeinnichtblaue Augen ruhig und heiter in die Welt blickten.

Ein Aufleuchten der Freude erschien darin, als sie jetzt den Doktor erblickte. Sie lief rasch wie ein junges Mädchen auf das Gittertürchen zu, das den Zaun verschloß, öffnete es und streckte dem Herankommenden die Hand entgegen.

Willkommen, trautestes Freundchen! rief sie in ihrem weichen ostpreußischen Dialekt. Wir haben Sie längst erwartet. Sie sehen müde und abgespannt aus, und die Ferien tun Ihnen not. Nun lassen wir Sie so bald nicht wieder fort.

Er ergriff ihre Hand und küßte sie. Wie ist es Ihnen all die Zeit ergangen, meine verehrte Freundin, und unserm lieben Theodor und dem Professor?

Mir? Nun, Sie wissen, von mir werden überhaupt keine Bulletins ausgegeben, ich habe ja eine pöbelhafte Gesundheit, und was Theodor betrifft – seit Sie ihm die veränderte Diät vorgeschrieben haben, ist keiner der Anfälle wiedergekehrt. Er arbeitet wie ein richtiger Gärtnergehilfe, sobald es wieder im Garten zu tun gibt, und im Winter hat er Botanik studiert und weiß schon eine Menge Namen. Sie werden Ihre Freude an ihm haben, er ist eben da drüben bei dem Bohnenbeet beschäftigt. Der Professor aber – nun, den kennen Sie ja, der ist auch von Eisen, und so unvernünftig er die Nacht zum Tage macht, ficht ihn doch nichts an, er schläft dafür bis in den hellichten Tag hinein und holt alles nach. O lieber Doktor, er hat wohl das bessere Teil erwählt. Wer nur auf den Himmel blickt, den kümmert die armselige Erde nicht, auf der es von Jahr zu Jahr immer toller und schauerlicher zugeht.

Nun, versetzte er lächelnd, es gibt doch auch auf dieser vielgeschmähten Erde zuweilen ganz erträgliche Momente, die sich manchmal sogar zu guten Stunden und Tagen ausdehnen. Zum Beispiel in diesem Augenblick, wo ich Sie wiedersehe und ganz so hübsch und liebenswürdig finde wie immer, und die Sonne so warm scheint und unser Theodor sich wohl fühlt – ich sollte meinen, der Professor versäumt etwas, wenn er noch in den Federn steckt.

So hab' ich's nicht gemeint, sagte sie, und ihr Gesicht wurde ernst. Ich dachte an die Schlechtigkeit und Sinnlosigkeit, die mehr und mehr überhandnimmt, so daß man nicht vor ihr sicher ist, auch wenn man Flügel der Morgenröte nähme. Ich habe das ja schon in den Jahren, wo ich noch in der Welt lebte, mit Schrecken gesehen, wie es mit den Sitten bei alt und jung immer ärger wurde und gar keine Grenze mehr war, an der die Freiheit aus Respekt vor Anstand und Schamhaftigkeit haltmachte. Ordentlich wie ein Sport wird die Zügellosigkeit betrieben, alle Künste und vor allem die Literatur bemühen sich um die Wette, einen paradiesischen Zustand herbeizuführen, wo alles ganz nackt ginge, auch was man sonst sorgfältig verschleiert. Hier in unserer Bergwildnis wenigstens hoffte ich vor all den Greueln sicher zu sein. Aber bis hierher hat sich das Unheil bereits den Weg gebahnt, und Sie, Trautester, den ich so sehr verehre, sind mit schuld daran.

Ich? Ich wüßte doch nicht –

Oh, schon im vorigen Jahr wollte ich Ihnen meine Meinung darüber sagen, zum Abschiede wenigstens. Aber Sie reisten so unerwartet schnell ab, und ich konnte Ihnen nur noch im Fluge die Hand drücken. In diesem Jahr aber ist's noch ärger geworden.

Noch ärger? – Er lächelte ein wenig ironisch.

Jawohl, mit Ihrer Höhenluft haben Sie's nun auf die richtige Höhe gebracht. Sie wissen, ich war immer gegen die gemeinsamen Bäder. Nun aber das Übernachten im Freien! Wie die Menschen einmal sind, kann's ja nicht ausbleiben, daß es da zu den schlimmsten Dingen kommt, und man hört ja auch die Glocken davon läuten. Dazu hat meine alte Regine mir erzählt, Frau Harlander wolle bauen, noch dreißig Zimmer, und entsprechend viele Schlafhütten. Wenn es so fortgeht, wird unser Seehof eine wahre Pflanzstätte der Immoralität werden, eine Zuflucht für alle die, die im flachen Lande unten noch nicht Raum genug haben, ihren frechen Gelüsten den Zügel schießen zu lassen, und das Bundeslied unserer Kurgäste wird werden: Ein freies Leben führen wir, ein Leben voller Wonne!

Sie hatte sich so in Eifer geredet, daß ihr hübsches Gesicht ganz rot geworden war. Seines aber, aus dem das ironische Lächeln geschwunden, hatte den Ausdruck eines ruhigen Ernstes angenommen.

Ich habe mich fortreißen lassen, sagte sie, aber einmal mußt' es heraus. Verzeihen Sie mir! Ich bin Ihnen so viel Dank schuldig, Sie sind mir so überaus wert, ich hätte nicht in der ersten Stunde des Wiedersehens –

Nein, verehrte Freundin, unterbrach er sie, es ist besser so. Man soll nichts zurückhalten, was man gegen alte Freunde auf dem Herzen hat. Dies heikle Thema – es ist ja nicht das erstemal, daß es zwischen uns zur Diskussion kommt. Wenn es jetzt wieder geschieht –

Sie müssen nur wissen, trauter Freund, weshalb es mich so dazu gedrängt hat. Ich habe gestern mit Theodor einen Spaziergang zum Hahnenkamm hinauf gemacht. Als wir zurückkehrten, trafen wir auf der Bank im Walde, wo die Quelle entspringt, ein junges Paar, ich glaube, es war der durchgefallene Komponist, der sich hier von seinem Fiasko erholen will. Ein junges Frauenzimmer, das ich nicht kenne, saß neben ihm und hatte den einen Arm um seinen Nacken gelegt und sprach so eifrig in ihn hinein, daß sie uns nicht kommen hörte, und dazwischen küßte sie ihn auf die Backe. Er aber starrte vor sich hin, ohne ihre Zärtlichkeit zu erwidern. Es sah schamloser aus, als wenn er sie geküßt hätte, und ich zog meinen Jungen geschwinde unter die Bäume fort, durch dick und dünn, daß er nur die verliebte Person nicht sehen sollte. Er weiß ja von solchen Sachen nichts, aber es könnte ihn doch beunruhigen, und so bin ich nicht einmal hier davor sicher, daß sein unschuldiges Blut vergiftet wird.

Darüber, liebe Freundin, kann ich Sie beruhigen, versetzte Helmbrecht. Durch den Schleier, der seinen Geist umgibt, dringt nichts von dem, was an verführerischen Bildern auf eine ganz wache Phantasie einen Eindruck machen und schlummernde Instinkte wecken könnte. Was aber Ihre Besorgnis betrifft, es möchte hier oben auch für Erwachsene nicht mehr geheuer sein, so möchte ich Sie bitten, die Gefahr nicht zu übertreiben. Einmal stehe ich Ihnen dafür, daß Frau Maria ihr Haus nicht vergrößern wird. Das werde ich ihr mit guten sanitären Gründen ausreden. Die Frage der Sittlichkeit aber soll ganz aus dem Spiel bleiben. Wir haben hier kein Kloster gegründet, sondern eine Heilstätte, wo jeder nach seiner Fasson gesund werden kann. Daß die Patienten auch ihre moralischen Begriffe einem strengen Regime unterwerfen müßten, darf ihnen nicht zugemutet werden. Sittlichkeit ist Privatsache, unten in der Welt wie hier oben im Gebirge. Ein gewisses Dekorum muß beobachtet werden, das versteht sich. Aber hat jenes einsame Liebespaar es verletzt, wenn es sich in das Tannendickicht flüchtet, um sich einmal con amore zu küssen? Konnte das Fräulein wissen, daß Sie des Weges kommen würden? Oder soll eine Tafel vor dem Walde errichtet werden mit der Inschrift: Küssen ist verboten?

Sie machen einen Scherz daraus, warf sie ein. Aber werden Sie nicht zugeben, daß es unheilvoll ist, wenn gewisse natürliche Triebe zu früh geweckt werden, daß man dafür sorgen sollte, den Anstand zu wahren und zumal der Jugend die Schleier nicht allzu zeitig zu lüften, hinter der die Geheimnisse des Lebens sich verbergen?

Nein, verehrte Frau, das geb' ich nicht zu, sagte er lächelnd, da es ja doch bei aller pädagogischen Vorsicht nicht möglich ist und nicht einmal heilsam. Je mehr man die Schleier verdichtet, desto geschäftiger sucht die Neugier dahinter etwas Unerlaubtes, was wider die Natur wäre, und dadurch erst wird, wie Sie sich ausdrücken, das junge Blut vergiftet. In Griechenland, dem klassischen Lande der Nacktheit, wuchs eine sehr gesunde Jugend heran, weil sie im Entschleierten nichts Unzüchtiges sah. Der tägliche Anblick stumpfte sie gegen die krankhafte Überreizung ab, die uns moderne Menschen gefährdet. Aber das alles sind ja Binsenwahrheiten, und so viel muß ich allerdings zugeben, daß diese Fragen von Frauen stets anders entschieden werden müssen als von uns Männern. Es handelt sich da für die Frauen zugleich um ihre sozialen Interessen, um Ehe und Familie, während der Mann als ein selbstsüchtiger Realist die Rücksicht auf die bürgerliche Gesellschaft, die auf der Schamhaftigkeit beruht, sich nur als notwendiges Übel gefallen läßt, da dies alles mit tieferer Ethik nichts zu tun hat.

Sehen Sie, teure Freundin, fuhr er fort, ich habe viele Männer gekannt, und zwar unter den edelsten, die es mit ihren Pflichten gegen ihre Nebenmenschen sehr ernst nahmen, aber durchaus nicht der Meinung waren, es entadle sie, wenn sie die Bedürfnisse ihrer sinnlichen Natur unbedenklich befriedigten. Sie verstanden es nicht, daß man das, was allen gemeinsam ist, gemein nennen könne. Nur wo das Naturrecht mit höheren sittlichen Forderungen in Konflikt kam, respektierten sie die Grenze und verzichteten. Das eben kann kein Weib verstehen, das sich nur geborgen fühlt, wenn es den Schutz der bürgerlichen Gesellschaft genießt, die ja auch an jeder, die ihrem Herzen und ihren Sinnen ohne Bedenken folgt, ein blödes Strafgericht vollstreckt.

Frau Agnes hatte schweigend zugehört und mit einer bekümmerten Miene vor sich hin geschaut.

Sie mögen recht haben, sagte sie jetzt. Männer und Frauen werden sich hierüber nie verständigen, bis auf die Frauen, die über allen Respekt vor der bürgerlichen Sitte und den geheiligten Institutionen der Gesellschaft hinaus sind. Erlebe ich es doch an mir, daß mein Gefühl Ihnen gegenüber in einem unversöhnbaren Zwiespalt bleibt. Ich halte Sie für einen der besten, edelsten, stets auf das Wohl anderer bedachten Mann, und doch haben Sie selbst –

Sie hielt inne, mit einem leichten Erröten, das sie um zwanzig Jahre jünger erscheinen ließ.

Sprechen Sie es nur aus, sagte er ruhig – ich weiß ja, was Sie sagen wollen: daß ich in einem unsittlichen Verhältnis gelebt habe, schon seit Jahren, und moralischen Menschen ein Ärgernis gebe, ja der ganzen hiesigen Kurgesellschaft ein böses Vorbild bin, an das sie sich halten kann, wenn sie sonst Lust dazu hat. Aber beruhigen Sie sich, verehrte Rigoristin, das Ärgernis hat die längste Zeit gedauert. Frau Maria hat mich gestern in das Nebenhaus verbannt, ihr Beichtvater hat auf eine Scheidung gedrungen, ich habe mich fügen müssen, obwohl ich diesen Gewissensgrund nicht triftig finde, und am allerwenigsten eine »gegenseitige unüberwindliche Abneigung« vorliegt.

Der humoristische Ton seiner letzten Worte verstimmte sie.

Wie können Sie scherzen in einer so ernsten Sache! sagte sie. Es steht Ihnen so schlecht, denn Sie sind ein ernsthafter Mensch und alles Frivole entstellt Sie.

O verehrte Freundin, rief er, verstehn Sie denn nicht, daß es nur Galgenhumor ist, wenn ich so rede, daß mir bitterernst zumut ist? Ich habe diese Frau ja neun Jahre lang lieb gehabt, mein Verhältnis zu ihr als eine Gewissensehe betrachtet und mir nicht einfallen lassen, daß es je zu einer Scheidung kommen könne.

Wenn das wahr ist, erwiderte sie, warum haben Sie denn nicht dafür gesorgt, das Band unauflöslich zu machen? Es gab doch ein Mittel dazu, nachdem der Mann gestorben war.

Einen Augenblick schwieg er und sah düster zu Boden.

Jawohl, sagte er dann, so möcht' es scheinen, und so schien's auch mir, damals. Und ich wollt' sie auch dazu bringen und war sehr unwillig, als sie nichts davon wissen wollte. Sie hatte freilich mehr Vernunft als ich, war ja auch älter und keine Idealistin. Sie fühlte oder sah vielmehr klar ein, daß wir zwei verschiedenen Welten angehören, beide an unsre Scholle gefesselt. Sie mußte hier oben bleiben, ihr großes Geschäft fortführen, schon um der Töchter willen, die nicht für die Stadt erzogen waren, und ich durfte meinen Beruf nicht aufgeben, um hier oben zu faulenzen und nur die paar Sommermonate den Kurarzt zu spielen. Da machten wir dann aus der Not eine Tugend – Sie werden sagen: eine Untugend – soviel ich dabei entbehrte. Aber Gott weiß, nicht aus Frivolität, und jetzt noch, da das Blut kühler geworden, hätt' ich mir nichts anderes gewünscht, als es so fortbestehn zu lassen bis an unser seliges Ende, da die Sanktion durch das Standesamt meinem inneren Gefühl nicht den geringsten Zuwachs an Kraft und Festigkeit hätte geben können.

Aber das Jungchen, der Hänsel?

Das ist der wundeste Punkt, sagte er, mit einem Seufzer. Den können wir nicht in zwei Stücke schneiden, eins für den Seehof, eins für mich. Ich bin fest entschlossen, ihn nur noch ein Jahr bei der Mutter zu lassen, dann aber – auch vor der Welt wird es nur natürlich scheinen, daß der Junge auf eine bessere Schule kommt, als in dem Nest unten, und daß sein Pate sich seiner Erziehung annimmt. In den Ferien bring' ich ihn dann wieder herauf, damit auch die Mutter –

Er brachte den Satz nicht zu Ende. Denn in diesem Augenblick sah er die lang aufgeschossene Gestalt des Sohns seiner Freundin den Gartenweg daherkommen, mit einem langsamen, schwankenden Gang, die Füße einwärts, den Kopf vorgeneigt. Er trug einen hellen Nankinganzug, einen breiten Strohhut, um den Hals ein loses buntseidenes Tuch, und nur der wunderliche Gang verriet schon von fern, wie es um das unglückliche junge Geschöpf, das nur ein Scheinleben führte, bestellt war.

Als er sich näherte und den Besuch erkannte, leuchtete eine rührende Freude auf in seinem hübschen Gesucht, das die Züge der Mutter trug, nur durch die geistige Leere zur Maske entstellt. Er nickte dem Doktor zu, ließ ein paar lallende Töne aus dem halb offen stehenden Munde hören und reichte Helmbrecht eine kleine Ranke mit Bohnenblüten, die dieser freundlich nickend und dem Knaben die Wange streichelnd entgegennahm.

Er will Ihnen seine Freude ausdrücken, Sie wiederzusehen, flüsterte die Mutter. Er hat Sie aus der Ferne erkannt und das Hübscheste, was ihm zur Hand war, Ihnen bringen wollen. Nicht wahr, Theodorchen, du bist froh, daß der gute Onkel wieder da ist?

Der Knabe lallte wieder und heftete einen hilflosen Blick auf Helmbrecht.

Sehen Sie, wie er Ihnen gern etwas Liebes sagen möchte? fuhr die Frau fort. Mit dem Sprechen geht es noch immer nicht so recht, ich aber verstehe ihn ganz gut. Sie müssen selbst sagen, Doktor, daß er viel besser aussieht als vorm Jahr. Auch das danken wir Ihnen. Er kann jetzt stundenlang sitzen und das botanische Buch studieren, das Sie ihm zu Weihnachten geschickt haben, und er unterscheidet sogar die Spezies. Wenn das so fortgeht und der Einfluß der guten Luft auch fernerhin wohltätig auf ihn wirkt – glauben Sie nicht auch, lieber Doktor, daß einmal eine Krisis eintreten kann, wo all die Kräfte, die jetzt gebunden sind, ihre Fesseln sprengen und er dann nachholt, was er bis jetzt versäumt hat? Er ist ja noch so jung. Am zweiten September wird er sechzehn. Jetzt aber geh wieder an die Arbeit, mein Jungchen!

Der Knabe nickte, drehte sich um und ging den Weg, den er gekommen war, bedächtig zurück.

Helmbrecht hatte nicht das Herz, auf die Frage der Mutter zu antworten und ihr den Wahn zu erschüttern, an den sie mit aller Kraft ihrer liebevollen Seele sich anklammerte. Auch wurde er aus der Verlegenheit gerissen durch eine scharfe, etwas hohe Stimme, die in diesem Augenblick aus einem Fenster im oberen Stock des Turmes herabklang.

Guten Morgen, Doktor! Lassen Sie sich auch endlich wieder bei uns sehen?

Helmbrecht hob die Augen und grüßte, den Hut schwenkend, hinauf. In dem weit offenen Fenster sah man die seltsame Figur eines kahlköpfigen Mannes, die in einem lose zugeknöpften gelben Schlafrock steckte, den Hals entblößt, zwei graue Haarbüschel an den Ohren hoch aufgesträubt. Die kleinen dunklen Augen blitzten von Geist und Temperament, die große, etwas gekrümmte Nase gab dem glattrasierten Gesicht einen gebieterischen Ausdruck, den der kräftig geschwungene Mund verstärkte.

Guten Tag, Professor! rief Helmbrecht hinauf. Ich freue mich, Sie so frisch und wohl zu sehen und hoffentlich gut ausgeschlafen. Zeit dazu haben Sie sich gelassen. Wahrscheinlich hat sich eine zärtliche Unterhaltung mit einer Sternenjungfrau so lange hingezogen.

Sie sind sehr auf dem Holzweg mit Ihrer Neckerei, erwiderte der Alte droben. Allerdings hatte ich ein Rendezvous in Aussicht, aber es ist auf nichts Verlaß, wo sich's um Weiber handelt, nicht einmal am Himmel. Die verwünschte Marjell hat mich zum Narren gehalten, um elf erwartete ich sie wie gestern, sie hat aber aus ihrer Wolkengardine nicht herauszukommen geruht, und so hab' ich bis drei Uhr gesessen und bin endlich mit langer Nase abgezogen. Aber nur Geduld! Der Racker soll mir doch nicht entgehen. Wie ist's, Doktor? Wollen Sie mit mir frühstücken? Die notwendigste Toilette habe ich schon besorgt, und mein Schlafrock ist ja für einen Freundesbesuch anständig genug.

Helmbrecht lachte. Ich bedaure, verehrter Freund, das Frühstück habe ich schon seit drei Stunden hinter mir. Zudem ist es mir unmöglich, auch nur auf eine Zigarre zu Ihnen hinaufzusteigen. Ich habe mich schon zu lange hier verschwatzt. Aber Sie sollen mich bald wiedersehen.

Er grüßte hinauf, gab der Justizrätin die Hand und sagte: Ich lade mich für einen der nächsten Tage zum Kaffee bei Ihnen ein, verehrte Freundin. Jetzt habe ich dringende Pflichten zu erfüllen – Vaterpflichten! setzte er leise hinzu, mit einem schwermütigen Lächeln, worauf er sich rasch entfernte.


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