Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Als der Doktor am Abend etwas verspätet in die Halle trat, wo schon die Kurgäste vollzählig beim Nachtessen saßen, sah er auf den ersten Blick, daß sein Platz neben Yvonne besetzt war. Ein junger Mann hatte ihn eingenommen, dem man sofort den Offizier ansah, obgleich er in Zivil war. Ein blondes Herrlein von mittlerer Größe mit einem sehr rosigen Gesicht, sorgfältig gescheiteltem Haar und kleinem, fast weißen Schnurrbärtchen unter der putzigen Stumpfnase, übrigens wie er in seinem blanken Sommeranzug auf seinem Stuhle wippte, eine so angenehme Erscheinung wie ein unschuldiger Kohlweißling, der sich auf einem Blumenstengel wiegt.

Yvonne hatte den Eintretenden gleich bemerkt.

Kommen Sie nur näher, Herr Doktor, rief sie ihm zu. Sie sollen hier nicht verdrängt werden, wenn Sie auch keinen Kummer darüber hätten. Darf ich die Herren miteinander bekannt machen? Herr Leutnant Kurt von Kastrow, ein entfernter Vetter meines verflossenen Gatten – Herr Doktor Johannes Helmbrecht. Vetter Kurt hat heute mittag sich des verwaisten Stuhls neben mir bemächtigt, er glaubte es mir schuldig zu sein, obwohl – sagen Sie, wird die Vetternschaft nicht ungültig, wenn sie von einem geschiedenen Mann herrührt? Gleichviel, der Herr Leutnant hat aus übertriebener Courtoisie sich verpflichtet geglaubt, mir noch ein bißchen den Hof zu machen, wenn er auch nicht meinetwegen hier heraufgekommen, sondern in festen Händen ist. Zu seiner Beruhigung hab' ich ihm gleich erklärt, daß dieser Platz besetzt sei, und sobald der berechtigte Eigentümer sich blicken lasse, ich ihn beurlauben würde. Also gehen Sie nur, Cousin, wohin Ihr Herz Sie zieht. Ich habe der Kellnerin schon gesagt, daß sie einen Stuhl dort einschieben soll. Sehn Sie nur, wie Ihre Gönnerin mir böse Blicke zuwirft. Sie macht sich ganz umsonst Sorge, daß Sie ihr um meinetwillen untreu werden möchten.

Sie reichte dem jungen Herrn lachend die Hand, die dieser an seine Lippen führte. Dann verbeugte er sich höflich vor Helmbrecht und schritt nach dem anderen Ende der langen Tafel, wo eine sehr hübsche, etwas korpulente Dame von ungewissem Alter zu ihm herübergeblickt hatte.

Nun, Herr Doktor, sagte Yvonne, machen Sie wenigstens heute noch einmal gute Miene zum bösen Spiel. Morgen wollen wir das anders arrangieren, und Sie können mich dann auch nach Belieben schneiden, so oft Sie mir begegnen. Nein, keine Notlüge, die mir gegenüber nicht einmal nötig ist, da ich kein bißchen eitel bin! Hier oben gilt ja das Schillersche Wort: Auf den Bergen ist Freiheit! und Ihre soll nicht beschränkt werden. Ich finde es ganz begreiflich, daß Sie lieber mit Hänsel dinieren wollen als an dieser lärmenden Table d'hote – Sie sehen, ich habe genaue Nachrichten, wie Sie Ihren Tag zugebracht haben; von Menschen, die ich verehre, interessiert mich alles, diese gleichgültige Menagerie hier am Tische ergötzt mich nur zur Fütterungszeit. Nun ist seit gestern noch der rauhe Krieger Kurt von Kastrow hinzugekommen, und es amüsiert mich zu beobachten, wie seine Flamme, die dicke jüdische Kommerzienrätin, an seiner Menschwerdung arbeitet. Sie hat ihn in Berlin kennen gelernt und sich des blonden Novizen angenommen. Die Angejahrten wissen euch zu schätzen, steht im Faust, zweiter Teil. Ja, den habe ich wirklich gelesen, obwohl ich kaum die Hälfte verstanden und auch diese Hälfte langweilig gefunden habe. Nun hat der Jüngling beim Einexerzieren seiner Rekruten sich ein wenig überschrien und daher Urlaub erhalten, um hier eine Kur durchzumachen – Kur im allerweitesten Sinn. Wie alltäglich das alles ist, wie banal und uninteressant! Nirgend eine schöne, große, echte Leidenschaft, immer nur der schläfrige Flirt, die frivole Genäschigkeit! Wie ich das alles hasse!

Warum aber kommen Sie dann an diesen Ort, wo Sie wissen, daß Sie das finden werden, was Sie hassen? sagte er, indem er von einem Gerichte nahm, das ihm Trinchen servierte.

Wohin sollt' ich gehn, um nicht ganz das gleiche zu finden? versetzte sie und zuckte die schönen Schultern, die heut der Hitze wegen mehr als gestern entblößt waren. Geht es irgendwo in der Welt sittlicher zu? Oder wollen Sie mir raten, wie Hamlet der armen Ophelia, in ein Nonnenkloster zu gehn? Sie haben's freilich leicht, sich Ihre Gesellschaft zu suchen nach Ihrem Geschmack. Glauben Sie nicht, daß auch ich gern mit den Stäudlins anknüpfte, oder selbst mit der wackeren Justizrätin, obwohl mir der Anblick eines Kretins greulich ist? Aber diese Häuser sind ja hermetisch verschlossen, während Sie morgen bei dem interessanten Maler zu Mittag essen werden – sehen Sie, auch das haben mir meine Spione verraten – sie lachte, über sein erstauntes Gesicht belustigt – nein, ich habe keine Geheimpolizei besoldet, die Magd drüben bei Stäudlins hat es unsrer Fanni erzählt, und die der Gundel, und die hat mich gefragt, ob sie dann doch den Platz neben mir für Sie aufheben solle.

Er lachte nun auch.

Es ist gar kein Geheimnis dabei. Es sind meine alten Freunde, und jetzt wissen sie vollends nicht, was sie mir alles an Liebe und Güte antun sollen, da ich das Mädchen vorm Jahr in der bösen Krankheit behandelt habe. Mein Verdienst dabei war sehr gering. Dem Typhus stehen wir ja so gut wie ohnmächtig gegenüber und können nur die alte Mutter Natur ein wenig unterstützen. Vater und Tochter aber haben sich nun einmal in den Kopf gesetzt, mich für ihren Lebensretter zu halten.

Sie sah mit halb zugedrückten Augen vor sich hin, den Mund umspielte ein feiner, böser Zug und ihre rosigen Nasenflügel zitterten leise.

Sie ist sehr reizend, sagte sie. In Jahr und Tag wird sie eine vollkommene Schönheit geworden sein. Schade nur, daß sie es zu sehr weiß und darum schon jetzt so hochmütig auf die Männer herabsieht und vollends auf die Frauen.

Er blickte sie erstaunt an.

Hochmütig? Crone? Sie sind doch eine schlechtere Menschenkennerin, als ich geglaubt, Frau Yvonne.

Oh, sagte sie, wenn ich auch die Männer vielleicht überschätze – bei meinem eigenen Mann hab' ich es bewiesen; ich hielt ihn nur für dumm; er war aber schlecht – über mein eigenes Geschlecht lasse ich mich nicht leicht täuschen und weiß ganz genau, daß die kleine Stäudlin, obwohl sie so stolz einhergeht wie eine Diana, eine kluge, kühle, selbstbewußte Kokette ist.

Er runzelte die Stirn.

Sie tun dem guten Kinde schweres Unrecht, sagte er. Von dem, was Sie Koketterie nennen, hat sie nicht einmal einen Begriff. Wie sollte sie auch? Das lernt man erst im Leben, und das ihre ist so weltfremd verlaufen, als atmete sie unter einer Taucherglocke. Die Männer, die die gläserne Wand derselben umringen, betrachtet sie nicht viel anders, als wären es seltsame Fische, Ungeheuer der Tiefe, die ihre Köpfe an die Glocke stoßen und mit dummen großen Augen zu ihr herein glotzen. Bedenken Sie doch: ihre ganze Welt beschränkt sich auf den Papa, der ganz ungesellig ist, und die Cattina. Ich bin überzeugt, daß sie mit einem jungen Mann, bei dem sich's verlohnte, kokett zu sein, nie länger als zehn Minuten gesprochen hat, auch nicht da unten an ihrer Riviera.

Muß es immer ein junger Mann sein, bei dem wir uns unsere Sporen im Kampf mit den Herren der Schöpfung verdienen? Haben Sie selbst nicht freien Eintritt in die Taucherglocke? Und wenn Sie auch kein jeune premier sind, sind Sie so bescheiden, daß Sie sich nicht vorstellen können, ein Mädchen hielte es der Mühe wert, Sie erobern zu wollen?

Und da er betroffen schwieg: Ich habe Sie heute beobachtet, fuhr sie fort, wie Sie mit ihr und den Knaben aus dem Walde kamen. Sie sah aus wie ein echauffiertes Tanagrafigürchen, nein, wie ein Mädchen, das zu einem solchen Modell gesessen und sich dabei in den Bildhauer verliebt hat. Verliebt ist nicht der rechte Ausdruck, vielmehr sich darüber geärgert hat, daß der Künstler sich nicht in sie verlieben wollte. Wie es in dessen Herzen aussieht, kann ich freilich nicht beschwören. Aber gleichviel, sie wird es mit ihren kleinen Künsten dahin zu bringen suchen, daß er seine künstlerische Kaltblütigkeit verliert, wenn auch sie vielleicht so kühl dabei bleibt, als wäre sie eine richtige Tanagreserin in Terrakotta. Sie weiß, daß die Männer nichts mehr reizt, als die gespielte Unnahbarkeit. Ich habe schon positiv häßliche Mädchen damit ihr Spiel gewinnen sehen, daß sie taten, als hätten sie keinen Teil an der allgemeinen Weiberschwäche, keinen Brennstoff in ihren Sinnen. Gerade das scheint den Männern dann »ein Ziel aufs innigste zu wünschen«, ein solches Marmorpüppchen in ihren Armen zum Schmelzen zu bringen, den Pygmalion an einer Nippfigur zu machen.

Und da er fortfuhr zu schweigen, im Innersten empört, das reine Bild des lieben Mädchens so entstellt zu sehen: Sie müssen mir meine Offenherzigkeit nicht übelnehmen, sagte sie. Einmal bin ich eine zu ehrliche Natur, um zu schmeicheln und jemand nach dem Munde, will sagen nach dem Herzen zu reden, und von der Koketterie kann ich mitsprechen, gerade weil ich sie nur auf den Brettern ausübte, solang ich noch mimte, und sie im Leben um so tiefer verabscheute. Und dann – ich achte und verehre Sie zu sehr, um es gleichgültig mit anzusehen, daß Sie mit offenen Augen in das Netz gehn, das hier nach Ihnen ausgeworfen wird. Sind Sie mir nun sehr böse? Übrigens – irren ist ja menschlich. Wenn ich der kleinen Hexe unrecht getan haben sollte –

Ein heftiger Ingrimm schwoll ihm zum Herzen. Er öffnete eben den Mund zu einer schneidenden Erwiderung, als er die Stimme des Leutnants hörte, der mit seiner Dame herangetreten war: Gestatten Sie mir, liebe Kusine, Ihnen Frau Kommerzienrätin Betti Silberstern vorzustellen, deren großer Wunsch es ist, Ihre Bekanntschaft zu machen.

Helmbrecht fuhr hastig von seinem Stuhl auf, verneigte sich kalt und verließ die Halle. Er hatte nur noch flüchtig den Blick Yvonnes gesehen, der zugleich Ärger über die Störung und die listige Bitte, ihr nicht zu grollen, aussprach. Zum erstenmal erschien ihm die untere Hälfte ihres Gesichts gemein und der Ausdruck ihrer Augen lauernd und kätzchenhaft unheimlich. Dazu lastete die schwere Luft, die sich selbst am Abend nicht gekühlt hatte, auf seiner Brust. Er stand draußen still und tat ein paar tiefe Atemzüge, die ihn doch nicht erleichterten. Denn der Druck lag mehr noch auf seiner Seele, die das, was die Schlange ihm zugezischt hatte, nicht sogleich abzuschütteln vermochte, so tief er sie verachtete. Er lachte bitter auf, indem die einzelnen Worte wieder in ihm auftauchten, mit denen sie ihm die unberührte adlige Natur seiner jungen Freundin zu verdächtigen gesucht hatte. Komödiantin! murrte er vor sich hin. Neidische Teufelin! Eine Tanagrafigur? Was weiß diese Dekadentenseele von einer echten Griechin! Diese mit allen Wassern gewaschene Modedame von einem reinen Meisterstück der Natur!

Der Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. Er nahm den Hut ab und trocknete sich die Stirn, indem er sich auf eine Bank im Wirtsgarten setzte. Dann wurde er ein wenig ruhiger, zündete sich eine Zigarre an und blickte finster zum Himmel empor, an dem eine schwarze Wolkenschicht stand, die langsam in die Höhe wuchs. Inzwischen leerte sich die Halle, einzelne Gäste näherten sich dem Ort, wo er saß, er hörte die Stimme Yvonnes, ihres Vetters und eine dritte, die der schönen Jüdin angehören mußte. Mit einer Gebärde des Ekels sprang er auf und schritt außen um die Halle herum nach der Rückseite des Hauses.

Er fand dort den langen Lutz in vertrautem Gespräch mit einer der Mägde, die leise kicherte. Als sie den Doktor herankommen sah, huschte sie von ihrem Liebhaber weg, wieder in die Küche hinein. Er möchte noch ein Bad nehmen, sagte Helmbrecht. Ob Lutz ihm ein Hüttchen aufschließen und zu einem Badetuch verhelfen könne.

Die Badefrau sei schon in ihrer Kammer, antwortete der Riese. Er wisse aber, wo sie die Schlüssel verwahre, und wolle den Herrn Doktor bedienen. Übrigens sei ein Gewitter im Anzuge.

Das sehe er, aber es tue nichts. Zwar sei es verboten, nach Sonnenuntergang zu baden. Aber eben das Gewitter werde dafür sorgen, daß niemand ihn überrasche.

Oh, was der Herr Doktor sich erlaube, da habe niemand was gegen zu sagen.

So gingen die beiden nach dem See. Es war so völlig dunkel geworden, daß sie den Weg verfehlt haben würden, wenn sie ihn nicht so genau gekannt hätten. Der Schlüssel war aber nicht zu finden.

Es tut nichts, sagte Helmbrecht. Wir sind hier draußen ganz allein, kein Mensch wird herauskommen. Er warf die Kleider ab und stand eine Weile, die freie Luft mit Wonne an seinen Gliedern fühlend, auf dem kleinen Brett, das weit in den See hineinging. Als er dann hinuntersprang, fuhr der erste Blitz über die schwarze Bergwand hin, und ein dumpfer Donner rollte hoch über den Wipfeln, die in einem brausenden Winde schwankten. Es fiel aber noch kein Tropfen, die nachtdunkle Fläche des Sees lag spiegelglatt, nur von den Armen des Mannes bewegt, der in langen Stößen zum anderen Ufer hinüberschwamm. Dort aber mußte er umkehren, der Berg senkte sich so steil in die Flut hinab, daß kein Fuß dort landen konnte. Auch war diese Seite des Sees von dichtem Schilf umwachsen.

So wohl ihm in der kühlen, weichen Flut war, das Gewitter zog immer gewaltiger herauf und mahnte ihn zur Umkehr. Nun stand es schon gerade über dem Bergkessel, den der See ausfüllte, Blitz auf Blitz zuckte herab, das Tosen des Donners rollte in ununterbrochener Kette ihm zu Häupten, und gerade, da er an dem Badesteg wieder herausstieg, lösten sich auch die Schleusen des schwarzen Gewölkes, und eine schwere Regenflut prasselte herab, die sofort die am Ufer abgeworfenen Kleider völlig durchtränkte.

Es gelang Helmbrecht nur mit Mühe, sich notdürftig zu bekleiden. Auch der Knecht war bis auf die Haut durchnäßt, da er am Ufer kauernd, nur von einem vorspringenden Hüttendach ein wenig geschützt, auf die Rückkehr des Herrn Doktors gewartet hatte. Er ließ sich's aber nicht anfechten, sondern machte phlegmatisch allerlei Witze, daß der Herr Doktor nun ein doppeltes Bad genommen habe, auch würden die Herrschaften, die sonst im Freien übernachteten, heute wohl lieber in die trockenen Federn kriechen, statt ins nasse Moos.

Helmbrecht drückte ihm ein Geldstück in die Hand und erreichte dann triefend sein Zimmer. So unbehaglich ihm in den nassen Kleidern gewesen war, seine unwirsche Stimmung war durch den Aufruhr in der Natur wohltätig beschwichtigt worden. Als er in seinem Bette lag, konnte er selbst an das Gespräch mit Yvonne so gleichmütig zurückdenken, wie an einen schlechten Roman, den er nach den ersten Kapiteln an die Wand geworfen hätte. Desto heller und lieblicher stand die Szene auf dem Hexenbühel vor ihm, er hörte wieder die herbe junge Stimme ihre italienischen Liedchen singen und sah das reine Profil der Sängerin wie eine Erscheinung aus einer besseren Welt sich von dem hellen Himmel abheben.


 << zurück weiter >>