Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Als er ihn erreichte, fand er Halle und Wirtsgarten von dem fremden Publikum aus dem Städtchen schon geräumt. Für das verspätete Abendessen der Kurgäste war im Freien gedeckt worden, sie saßen unter den Bäumchen an verschiedenen Tischen beisammen, plaudernd und trinkend, vor einigen standen, entgegen der abendlichen Kurverordnung, Sektflaschen, wie es die festliche Stimmung entschuldigte, da der Erfolg und Ertrag des Konzerts alle Erwartungen übertroffen hatte. Er hörte aus dem Stimmengewirr auch Crones Namen mehrfach heraus, und ein Gefühl heimlichen Glücks und Stolzes regte sich in ihm.

An zwei Tischen saß das Komitee, auch die Kommerzienrätin trank Champagner und füllte außer dem Glase ihres jungen Galans auch die Gläser des Schwesternpaars und der Sängerin. Nahe dabei sah er Yvonne mit Baron Fritz, in eifrigem Gespräch, das sie von ihren Nachbarn absonderte. Sie sahen beide aufgeregt aus, Yvonnes Gesicht war fahl und ihre Miene häßlich verzerrt. Es fiel Helmbrecht jetzt erst aufs Herz, daß sie ihm heftig zürnen müsse, da er vor ihrer dramatischen Szene den Saal verlassen hatte. In seiner Glücksstimmung dachte er einen Augenblick, zu ihr hinzutreten und sich zu entschuldigen. Welchen Vorwand aber hätte er ersinnen können, der ihr triftig genug erschienen wäre? So gab er es auf und wollte sich, um die Gesellschaft in weitem Bogen herumgehend, in sein Zimmer stehlen.

Er mußte zu dem Zweck den Weg nehmen zwischen der Rückseite des Hauses, wo die Küche lag, und dem Stallgebäude, das etwas entfernt auf der Wiese stand. Die Scheune mit den Futtervorräten war daran angebaut, und neben dem Tor stand eine alte hölzerne Bank mit einem Tisch, auf dem der Knecht und der Hüterbub ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten. Es war finster dort, denn der Mond wurde durch das hohe Dach abgewehrt, und ganz einsam, da alle Dienstboten teils in der Küche, teils bei den Gästen draußen zu tun hatten, von deren Schwatzen und Lachen nur verworrene Laute herüberklangen.

Doch eine einzelne weibliche Gestalt saß dort in sich zusammengesunken auf der Bank und schien zu schlafen. Als Helmbrecht aber leise an ihr vorbeigehen wollte, hob sie den Kopf, wie wenn sie aus einem Traum aufführe, und starrte ihn an.

Er schrak zusammen und blieb vor ihr stehen.

Maria? Du hier? Ich habe dich im Schlaf gestört – ich will dir nun noch gute Nacht sagen, und dann –

Ich habe nicht geschlafen, Johannes, kam es mit einer leise bebenden Stimme zurück. Gott weiß, ob ich diese Nacht überhaupt schlafen werde. Es ist ja nun erst alles entschieden, und ich muß mich drein finden, und hoff', ich bring's fertig. Aber leicht wird mir's nicht, obwohl ich selbst es gewollt hab'.

Der müde, schwere Ton dieser Worte erschütterte ihn. Er zweifelte keinen Augenblick, was damit gemeint sei, daß sie um sein Geheimnis wisse. Wie aber konnte sie's erfahren haben?

Als ob sie in seiner Seele läse, fuhr sie fort. Ich habe dich beständig beobachtet, als du im Konzert saßest und so hingerissen auf ihr Spiel hörtest und sie unverwandt dabei anstarrtest. Ich kenne deinen Blick, Johannes. So hast du mich vor Jahren angeschaut, als dir's aufging, daß du mich liebtest. Nun war's eine andere, jünger und schöner als ich, selbst wie ich damals war. Ich bin eine alte Frau geworden und soll deine Frau nicht mehr sein. Zuerst, wie ich darüber klar wurde, hat mir's wie mit Messern ins Herz geschnitten. Ich hätte laut aufschreien mögen, mitten unter die Menschen hinein, die nichts davon ahnten, wie's dir und mir zumute war. Aber ich hab' mir Gewalt angetan und zu mir gesagt: Es ist Gottes Wille, er hat dir's gegeben und nimmt dir's nun wieder, sein Wille geschehe! Und dann hab' ich auf ihr Spiel gehorcht, und das hat mir's selbst angetan, daß ich sie habe liebhaben und bewundern müssen und alles Glück ihr gönnen, auf das ich selbst ja ohnedies kein Recht mehr hab'. Und dann bin ich hier hinausgeschlichen und hab' mich hier ins Dunkel versteckt, denn ich konnt' keines Menschen Anblick ertragen. Dich aber hatt' ich hinausgehen sehn und wußte, wohin du gingst, und weiß, woher du jetzt kommst und was dort geschehen ist.

Die Stimme brach ihr, doch sie bezwang tapfer ihr Herz, und nur aus ihren Augen fielen große Tropfen ihre Wangen hinab, die er aber nicht sehen konnte.

Ja, Maria, brach es endlich aus seiner beklommenen Brust, ich war bei ihr und habe es ihr gesagt und sie gefragt, ob sie mein sein wolle, und sie hat eingewilligt. Daß es dir ein Kummer sein würde, trotz alledem, hat mein neues Glück nicht wenig getrübt. Aber du kannst glauben –

Sprich nichts weiter, unterbrach sie ihn. Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, du hast dich in nichts gegen mich verfehlt, all die Jahre her mir nur Liebes und Gutes angetan, dafür bin ich dir dankbar bis an meinen Tod. Und glaube mir, Johannes, wenn eine andere nun an meine Stelle tritt – ich werde sie freilich nie ohne Neid ansehn können und hoff' auch, diese Marter und Pein werdet ihr mir ersparen. Aber daß sie dich glücklich mache – mein Herrgott weiß, daß dies mein innigster Wunsch ist, und jeden Abend werd' ich darum beten. Weiß sie, wie wir zusammen gestanden haben?

Noch nicht. Ich hatte keine Zeit, es ihr heute schon zu sagen. Morgen will ich's tun.

Die Frau schwieg einen Augenblick und schien zu überlegen. Dann: Sag es ihr lieber nicht! Sie ist so jung, sie würde es vielleicht nicht verstehe Daß ich's ihr immer verbergen werde, nie das geringste tun, zwischen dich und sie zu treten, das gelobe ich dir bei dem Heiligsten, was ich auf Erden habe, bei dem Leben unseres Hänsel. Wie es mit dem in Zukunft werden wird –

Er wollte etwas sagen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

Er ist dein so gut wie mein. Aber wie wir uns in ihn teilen werden, wollen wir heute nicht ausmachen. Wir haben nun genug geredet, und mir ist eine Last vom Herzen, daß ich dir dies alles sagen konnte.

Ich hätte dir's morgen jedenfalls gesagt, versetzte er. O Maria, mir ist, als hätte ich in dieser Stunde erst ganz begriffen, was ich an dir besessen habe, welch eine reine und starke Seele in dir lebt. Wie soll ich dir jemals danken, daß du dies schwere Schicksal so tapfer und hochherzig –

Still! machte sie. Du sollst mich nicht loben. Ich bin viel feiger und schwächer als meine Worte. Und nun – gute Nacht, Johannes! Gib mir noch einmal die Hand – nein, umarme mich nicht – du gehörst nun einer andern. Schlaf wohl!

Sie löste ihre Hand mit festem Druck aus der seinen und ging mit ruhigem Schritt, ihm schwermütig zunickend, ins Haus zurück.

Eine geraume Weile stand er noch und sah ihr nach, da sie schon in der Tür der Küche verschwunden war.

Das Herz brannte ihm, alles, was diese Frau ihm je gewesen war, lebte wieder in ihm auf. Er hätte sie gern noch einmal an sein Herz gedrückt und ihr gedankt, anders als mit einem Händedruck, für all ihre Lieb' und Treue. Armes, teures Weib! sagte er vor sich hin. Dann riß er sich aus seinem Sinnen los und vollendete den Weg in sein Zimmer.

Trotz all dieser stürmischen Aufregungen fand er bald den Schlaf und die lieblichsten Träume. Doch war er früh wieder wach und erwartete ungeduldig die Stunde, wo er, ohne aufzufallen, in das Stäudlinsche Haus hinübergehen konnte. Als er es endlich, immer noch früh genug, betrat und die Treppe zum oberen Stock hinaufstieg, stand Crone in der offenen Tür ihres Wohnzimmers und grüßte ihn mit lächelnden Augen schon von weitem. Er wollte sie umfangen, aber sie wehrte ihm sanft und drückte ihm nur innig die Hand. Geh erst hinauf, Liebster. Du findest den Ätti in seinem Studio. Er weiß noch nichts. Oder soll ich dich begleiten?

Er schüttelte den Kopf. Er wußte, daß etwas zur Sprache kommen mußte, was er ihr erst unter vier Augen sagen wollte. So stieg er zu dem Dachzimmer hinan.

Veit Stäudlin stand vor seiner Staffelei in einer leichten hellen Jacke, die mit allerlei Farbenflecken geziert war, auf dem buschigen Malerhaupt ein kleines rotes Fes, das weit auf den Hinterkopf zurückgerutscht war. Er nickte dem Eintretenden freundlich zu, legte Palette und Pinsel weg und streckte dem Freunde die Hand entgegen.

Ihr wollt sehen, ob ich mich durch die Nachtschwärmerei nicht zur Faulheit habe verführen lassen, rief er lachend. Dergleichen aber ficht mich alten Knaben nicht an. Da seht, ich meine, was ich heut schon seit zwei Stunden gemacht habe, ist nicht ganz übel geraten.

Helmbrecht trat vor die Leinwand, auf der ein Stück Meeresufer vom Strande bei Bordighera zu sehen war, die weißen Trümmermassen eines kleinen Kastells, im Vordergrunde eine hohe Palmengruppe. Alles war erst in den Hauptmassen angelegt, mit der sicheren Hand des Meisters, der weiß, was er will und kann. Der Maler aber, während der andere still betrachtete, zündete sich seine kurze Pfeife an und sprach dann vom Wetter.

Helmbrecht hatte sich auf dem Wege hierher überlegt, was er sagen wolle, um auf eine heitere Art zu dem sehr ernsten Anlaß seines Morgenbesuchs zu gelangen. Ihr habt mir erst kürzlich ein so großes Geschenk gemacht, verehrter Freund – so wollte er anfangen – es ist unverschämt, daß ich heute komme, Euch um ein so viel größeres zu bitten und so weiter. Dem Vater seines Mädchens gegenüber versagte ihm aber jeder rednerische und humoristische Schmuck.

Teurer Meister, sagte er stockend, ich hab' Euch ein großes Geständnis zu machen. Crone und ich, wir haben uns gestern abend nach dem Konzert verlobt. Ich bin gekommen, Euch um Eure Einwilligung und Euren Segen zu bitten.

Es wurde ganz still nach diesen Worten. Der Maler war ans offene Fenster getreten, Helmbrecht stand regungslos vor der Staffelei, die eine Wand zwischen den beiden Köpfen bildete. Man hörte nichts in dem kleinen Raum als das Zwitschern der Schwalben, die draußen um das Dach flogen, und das dumpfe Heulen, mit dem Fulvo unten einen Vorübergehenden meldete.

Wohl fünf Minuten hatten die beiden Männer so gestanden, da wandte der Alte sich um und sagte mit einer Stimme, in der eine tiefe Bewegung zitterte: Was Ihr mir da gesagt habt, Freund, überrascht mich aufs höchste. Ich hab' so in den Tag hineingelebt, nur auf mein Malwerk versessen, daß ich die Augen nicht gebraucht hab', um anderes zu sehen, was um mich her vorging. Und das Kind hat auch so listig Versteckens gespielt mit dem dummen und blinden Ätti, auch ein Gewitzterer und Hellsichtigerer hätte wohl nichts gespürt, wenn das Kind auch neulich gesagt hat, sein Herz sei nicht mehr frei. Nun, daß ich Euch herzlich zugetan bin und keinen lieberen Eidam mir wünschen könnte, muß ich das erst ausdrücklich versichern? Aber Ihr selbst werdet Euch gesagt haben, daß es mit meinem Glückwunsch und Segen allein nicht getan ist. Wie steht es – seine Rede wurde leiser und zögernder – mit Euch – ich meine, ob Ihr frei seid? Grad heraus gesagt: seid Ihr gewiß, daß auch eine andere ihren Segen zu dieser Verbindung geben werde?

Helmbrecht hatte sich auf das kleine schwarze Ledersofa sinken lassen, das neben einem alten Schrank an der dunklen Wand des Ateliers stand. Nach einer kurzen Pause, in der er sich gesammelt hatte, antwortete er: Ich war auf diese Frage gefaßt, teurer Freund. Aber ich kann Euch vollkommen beruhigen. Sie selbst hat das Band zwischen uns gelöst, in der ersten Stunde, da ich heraufgekommen war. Ihr neuer Beichtvater hat ihr das Gewissen geschärft, was so viele Jahre bestanden, ihr als Sünde vorgestellt. Da sie mich lieb behalten hat und keine niedrige Seele ist, wird sie ein Glück, das ich gewinne, mir nicht mißgönnen, wenn auch eine eifersüchtige Regung in ihrem Herzen zurückbleibt. Und sie hat mir's auch gestern abend noch selbst versichert, so hochherzig, daß mich's tief hat rühren müssen. Daß ich Crone beichten muß, was geschehen, versteht sich von selbst, und das ist ein Schatten, der über mein Glück und wohl auch über das ihre fallen wird. Aber ich habe das Vertrauen zu ihr, daß sie mich freisprechen wird, wenn sie erfährt, wie ernst ich es damit genommen, daß ich mein Verhältnis zu der trefflichen Frau als eine Gewissensehe betrachtet habe, die ich nie zu trennen gedacht hätte, wenn es nicht ihr eigenster Wille gewesen wäre.

Wieder trat eine Pause ein, in der man nur das schwere Atmen des Malers hörte. Dann sagte dieser: Und das Büebli, der Hänsel?

Jawohl! kam es mit einem Seufzer von Helmbrechts Lippen, das ist das schmerzlichste. Den Knaben muß ich der Mutter lassen, ich habe kein Recht an ihn, vielleicht aber – wer weiß, was die Zukunft bringt? Wenn später Crone auch darüber hinwegkommt –

Ihr meint, daß er geboren wurde, als Frau Marias rechter Gatte noch lebte?

Helmbrecht fuhr vom Sitz empor. Er ging mit unsteten Schritten in dem kleinen Raum auf und ab und blieb endlich vor der Staffelei wieder stehen, dem Maler den Rücken zukehrend. Dann sagte er dumpf: Ich hab' es immer dunkel geahnt, daß Ihr mir dies zum Verbrechen gerechnet habt, da es Euch wie allen andern hier nicht unbekannt sein konnte, wie es damit zugegangen war, daß der Knabe zur Welt kam, als sein Vater schon Jahr und Tag ein verlorener Mann war. Aber erwägt in einem billigen Sinn, was zu meiner Entschuldigung spricht. Ich kam hierher als ein junger, leichtmütiger Gesell und fand die schöne Frau eines todkranken, unheilbaren Mannes, die mir erst Dank wußte, daß ich dem Leidenden Linderung bieten konnte, und dann eine wärmere Empfindung für mich faßte, die bald zu einer heftigen Liebe wurde. Wem geschah damit ein Unrecht, wenn sie sich an mich hing, Trost und Freude in ihrem öden kummervollen Leben bei mir zu finden? Wie viel der Mann von unserm geheimen Einverständnis wußte, ist uns nicht ganz klar geworden. Wir waren aber beide der Meinung, er habe, da er ein gütiges Herz hatte, bei Lebzeiten schon sein Weib als seine Witwe betrachtet, wofür auch ich sie ansah, und es ihr nicht mißgönnt, daß sie Ersatz suchte für das, was an seiner Seite ihr das Schicksal versagt hatte. Strenge Moralisten, die von einem Naturrecht nichts wissen wollen, werden das alles nicht gelten lassen und auch in diesem Falle von der Sünde des Ehebruchs reden, von der die einfachen Menschen, die diesen entlegenen Weltwinkel bewohnen, nach ihrem schlichten Gefühl mich und Frau Maria freisprachen, als wir älter wurden und man sah, daß wir's redlich miteinander meinten und jedes äußere Ärgernis vermieden. Daran hab' ich mich bisher gehalten. Nun aber frage ich, ob ich auch in Ihren Augen verdammenswert oder entschuldbar bin und ob Sie einem solchen Sünder Ihr unschuldiges Kind fürs Leben anvertrauen wollen.

O teurer Freund, versetzte der Alte, auf mich kommt es nicht in erster Linie an, sondern was dies mein Kind darüber denken wird, wenn es die Wahrheit erfährt. Ich weiß nicht, wieviel das Chröneli vom Leben und den Verhältnissen der Geschlechter zueinander sich zusammengereimt hat, aus dem, was ihm so zufällig zu Ohren kam, denn aus Romanen hat es nichts lernen können, die sind ihm fern geblieben. Auch hab' ich mich gehütet, ihm Erklärungen zu den zehn Geboten zu geben, da ich es dem Instinkt seines reinen Herzens in allen Fällen eines sittlichen Konflikts getrost überlassen konnte. Aber wenn es nun doch einmal erfährt, was wir heute noch ihr verschweigen wollen –

Helmbrecht wandte sich hastig um. Verschweigen? rief er. Ich soll das Gelübde ihrer ewigen Liebe und Treue mir erschleichen, indem ich sie im unklaren darüber lasse, was sie an mir haben werde? Kann sie nicht, wenn ihr später die Augen aufgehen, sich beklagen, daß sie betrogen worden sei, und dann sich kummervoll von mir abwenden?

Der Maler legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn mit den hellen Augen beschwichtigend an.

Adagio, amigo mio! sagte er. Ein weiser Erzieher, der zu sein ich sonst freilich wohl mich nicht rühmen kann, bringt, was er einem Zögling an Lebenslehren einflößen will, nicht auf einmal in sein unerfahrenes Innere. Ich bürge Euch dafür, daß Euer Fraueli, wenn es erst ein paar Jahre Zeit gehabt hat, an Eurer Seite heranzureifen, auch von diesem Kapitel Eurer Lebensgeschichte anders denken wird, als wenn es jetzt ihr vorgetragen würde. Und darum mein' ich, man lasse ihr Zeit, tolerant zu werden und zu verzeihen, was sie dann begreifen gelernt haben wird. Kommt, Lieber, und laßt uns die Sache ruhig erwägen. Ja, ich geb' Euch dies mein Kleinod mit Freuden, ich weiß, niemand wird es so in Ehren halten, wie Ihr, und wenn ich, lange vor Euch, meine Augen schließe, werde ich dieses Kindes wegen ruhig sterben können. Denn ich halte Euch für einen durchaus braven Mann, der auch, wo etwas Menschliches ihn angewandelt hat, überzeugt war, recht zu tun und keine höhere Pflicht zu verletzen.

Damit umarmte er ihn in tiefer Rührung und zog ihn neben sich auf das Sofa. Helmbrecht konnte sich immer noch des Gefühls nicht erwehren, daß er ein Unrecht an dem ahnungslosen Mädchen begehe, wenn er nicht vor allem ihr volle Wahrheit gäbe. Daß der Alte darüber hinweg konnte, beruhigte ihn nur halb. Doch betrog er sich nur zu willig selbst damit, daß die Verantwortung nur auf den falle, der das ältere Recht an dem Glück seines Kindes habe.

So verstummte er und sah in unsicherer Stimmung vor sich hin. Der Vater redete nun von der Zukunft, wie er sich ihr Leben zu dreien einzurichten denke, daß er seine Wohnung neben der seiner Kinder aufschlagen wolle in der Stadt, in der sein Eidam seinem Berufe nachging. Im Herbst und Frühling könne er von dort aus auf ein paar Wochen an seine geliebte Riviera gehen, das Grab seines Weibes aufsuchen und seine Skizzenmappen füllen. Dorthin würden ihn in Ferienzeiten auch seine Kinder hin und wieder begleiten. Zunächst aber solle Helmbrecht unverzüglich von hier Abschied nehmen, ohne daß die Verlobung bekanntgemacht worden sei, um zu vermeiden, daß irgendein voreiliges Gerücht zu den Ohren der ahnungslosen Braut dringe. Er selbst, der Vater, werde mit dem Kinde ihm nach etlichen Wochen in die Stadt nachfolgen, wo dann der Schleier von dem Ereignis für die Welt gelüftet werden möge.

Helmbrecht hörte mit ehrerbietigem Staunen, wie klar das alles von dem Manne, den er für eine unpraktische Künstlernatur gehalten hatte, vorausgeschaut und angeordnet wurde. Er verabschiedete sich jetzt, da Crone schon in ungeduldiger Spannung seine Rückkehr erwartet haben würde, und ging zu ihr hinunter.

Er fand sie an ihrem Maltischchen, von dem sie sogleich lebhaft aufsprang. Hat es so viel Mühe gekostet, rief sie ihm entgegen, dem Babbo mich abzugewinnen? Ist er nicht überfroh gewesen, daß sein Töchterli eine so gute Partie macht, um die eine Prinzessin sie beneiden könnte? Was habt ihr so lang miteinander zu bereden und zu beraten gehabt?

Er wich dem arglosen Blick ihrer hellen Augen aus und sagte ihr nur, daß der Vater ihre Verlobung, an der er große Freude habe, hier oben noch nicht bekanntmachen wolle, sondern erst in der Stadt, in die er morgen schon zurückkehren müsse, während sie ihm in einigen Wochen folgen sollten.

Oh, sagte sie, indem ein Schatten ihre klare Stirn überflog, morgen schon? Das ist hart. Aber nein, ich will nicht klagen. Es ist wie vor Jahren, als der Ätti mir verraten hatte, er habe mir was besonders Schönes und Liebes zu Weihnachten zugedacht. Ich war sehr neugierig und kramte einmal im Schubfach seines Schranks, da fand ich das Kettlein mit dem Medaillon meiner Mutter und wurde glückselig, indem ich dachte, das soll dein werden, und es ging mir keine Stunde aus dem Sinn bis zum Heiligabend. Es ist nun freilich doch anders. Aber auch so, wenn ich deine Augen und deine Stimme mir nur vorstellen kann, es überläuft mich doch immer mit einem Glückschauer, daß ich fast erschrecke.

Komm, fuhr sie fort, ich will dir zeigen, woran ich eben gemalt hab'. Du darfst nicht lachen. Es ist sehr ungeschickt, ich kann eben Figuren nicht so herausbringen wie Blumen, das muß ich erst noch lernen. Mir aber ist's doch lieb, daß ich es wenigstens so weit zustande gebracht habe.

Sie führte ihn zu dem Maltischchen. Auf einem großen Blatt war in Wasserfarben ein Mann abgebildet, der auf einer Leiter zum Fenster eines brennenden Hauses hinaufgestiegen war und ein schwarzes Hündchen vom Sims auf seine Schulter gehoben hatte. Unten sah man nur die Köpfe einer großen Volksmenge, die zu der Gruppe hinaufstarrte. Um das Ganze aber war ein schöner Kranz von Lorbeerzweigen gemalt, in die ein paar rote Rosen hineingeschlungen waren.

Du närrische Liebste! sagte er gerührt und zog sie an sich, welche Torheit, dergleichen wie eine denkwürdige Historie zu verewigen! Aber laß dir sagen, es war ein reiner Frevel, daß ich's tat, gar kein Heldenstück. Ich wollte das Schicksal herausfordern, indem ich in mir sagte: wenn ich heil davonkomme, soll's ein Zeichen sein, daß ich das geliebte Wesen doch noch gewinne, obwohl ich's nicht wert bin. Und nun ist's eingetroffen.

Er schlang den Arm um sie und wollte sie küssen. Sie entzog sich ihm mit einer bittenden Gebärde. Nein, sagte sie, es darf nicht sein. Die Cattina erlaubt es nicht.

Die Cattina?

Sie hat mir gestern noch gepredigt, eine Braut dürfe sich nicht liebkosen lassen, eh sie vorm Altar gestanden, in ihrer Heimat wisse es jede, ich hab' ihr versprechen müssen, dich auch darum zu bitten. Wenn ich meinem Herzen folgte, hinge ich immer an deinen Lippen und Augen und dieser ernsten Stirn, die ich so liebe. Aber ich will vernünftig sein, sei du es auch. Ich gehöre dir ja in kurzem ganz. Komm, laß uns sitzen. Ich bin ein bißchen müde. Diese ganze Nacht hab' ich kaum ein Stündli geschlafen, das Wachen war viel zu süß.

Ich muß dir aber sagen, Liebster, sagte sie lächelnd, da sie auf dem kleinen Ruhebett nebeneinander Platz genommen hatten, ihre Hand in der seinen, ich sorge mich manchmal, ob du auch weißt, was für eine ungebildete, kindische Frau du bekommst. Zwar die Bücher da in meinem kleinen Schrank hab' ich alle gelesen, es steht aber nur von Geographie und Kunstgeschichte darin und ein bitzli Weltgeschichte, die interessiert mich aber nicht. Du sollst mich alles lehren, was du denkst, daß ich wissen muß. Denn unter fremden Leuten will ich dir keine Unehre machen. Aber in deinem Beruf dir beizustehn, soll meine größte Freude sein, denn ich habe eine glückliche Hand mit Kindern, und alle lieben mich. Ach, Liebster, in Toskana hört' ich ein Mädchen singen:

Wann wird der benedeite Morgen tagen,
Wo wir zum Priester gehn, das Ja zu sagen!

Das summt mir seit gestern immer in den Ohren. Aber hast du mit dem Babbo schon davon gesprochen, wie es in der Zukunft werden wird?

Er sagte ihr auch davon, sie atmete tief auf, und in ihre Augen trat ein feuchter Glanz. Wie gütig er ist, flüsterte sie. Verzeih, daß ich weinen muß! Es ist zu viel des Glücks für ein dummes Kind, das noch nichts getan hat, all die Liebe zu verdienen. – –

Nach einer Stunde brach er auf. Ich muß morgen um zehn Uhr fort und habe heute noch alle Hände voll zu tun, mein Zelt abzubrechen. Das Lenchen nehm' ich mit und bring's in meine Klinik, denn es will sich noch immer nicht recht erholen. Morgen früh komm' ich noch auf eine Stunde, denn man würde sich vielleicht doch Gedanken darüber machen, wenn ich heut zum zweitenmal zu den Stäudlins ginge. Es sind Menschen da, die mir's nicht gönnen. Und so leb wohl, mein holdes Herz! Bleib mir treu bis morgen früh.

Er schlang den Arm um sie, doch reichte sie ihm nur die Wange. Als er aber schon aus der Türe war, rief sie ihn von der Schwelle aus noch einmal zurück, faßte seinen Kopf mit ihren beiden schlanken Händen und küßte ihn innig auf den Mund. Geh! flüsterte sie dann. Verrat es nicht der Cattina!

Sie sah ihm durch den Flur nach, bis er auf der Treppe ihr entschwand. Dann warf sie das Haar zurück und stieg langsam zur Werkstatt ihres Vaters hinauf.

Sie fand den Alten in tiefer Versonnenheit auf dem kleinen Sofa sitzend. Die Pfeife war nicht wieder angezündet worden, die während des Gesprächs mit Helmbrecht ausgegangen war. Er blickte mit träumenden Augen auf, als sein Kind eintrat.

Chröneli! sagte er, mein Chröneli!

Da stürzte sie vor ihm nieder und sagte nur: Ätti! mein lieber Ätti! Er aber hob sie auf und nahm sie wie ein halbwüchsiges Kind auf seinen Schoß, beständig ihren Kopf und ihr von Tränen benetztes Gesicht streichelnd. So saßen sie lange in großer freudiger Wehmut, die erst spät und stammelnd sich in liebevollen Worten löste.


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