Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Zehntes Kapitel.

Am anderen Morgen ging die Sonne wieder strahlend über der Fichtenhöhe auf. Nichts erinnerte an den grausigen Tumult der letzten Nacht, als die köstliche Frische der reingewaschenen Luft und der feuchte Hauch, der aus Büschen und Wiesen aufstieg.

Helmbrecht war zeitig aufgewacht, hatte vor allen andern sein Frühstück im Freien eingenommen und sich dann an den Schreibtisch gesetzt.

Er gedachte, in seinen Ferien hier oben eine Abhandlung für ein medizinisches Journal fertig zu bringen, worin ihn in der Stadt seine ärztlichen Pflichten beständig unterbrochen hatten.

Es wollte ihm aber heute nicht recht von der Hand gehen.

So schob er endlich das Blatt, an dem er geschrieben, zurück und stand auf, sich zum Ausgehn zu rüsten.

Er hatte im Städtchen unten ein paar Besuche zu machen, das wollte er nun tun, ehe er zu Tisch zu den Stäudlins ging. Unterdes wandte er sich zunächst nach dem Hause seines Kollegen, des Kurarztes, obwohl er wußte, daß er ihn nicht treffen würde, da er zu derselben Zeit oben im Seehof nach seinen Patienten sah. Es war ihm aber mehr darum zu tun, die junge Frau zu begrüßen, die er bei ihrer häuslichen Tätigkeit überraschte, da nach kleinstädtischen Begriffen vor zwölf Uhr die Stunde zu einer Visite, zumal einer allerersten, noch nicht gekommen war.

Sie empfing ihn trotz der Störung mit einem heiteren, unverlegenen Gesicht, und er hatte seine Freude an ihrem anmutigen Wesen und dem munteren Gespräch, das sie in der Küche – in die gute Stube wollte er ihr durchaus nicht folgen – miteinander führten. Auch daß ihre Gestalt verriet, sie befinde sich nach dem hübschen englischen Ausdruck »auf dem Familienweg«, ließ sie nur flüchtig erröten, und sie ergriff sogar die Gelegenheit, dem hochverehrten Herrn Doktor zu danken, daß er ihrem Manne versprochen hatte, die Patenstelle bei ihrem ersten Kinde zu übernehmen.

Von da ging er zum Bürgermeister, einem wackeren Manne, seines Zeichens Tuchhändler und Bankier des Städtchens, an dem er einen großen Gönner hatte. Denn er hatte begriffen, wie viel der gewerbliche Aufschwung ihres kleinen Nestes dem Kurort zur Höhenluft und Helmbrechts umsichtiger und tatkräftiger Leitung desselben zu danken hatte. Überdies liebte er die schlichte, franke Art des Doktors, der ohne alle großstädtische Überhebung jeden nach seinem Wert schätzte. Er nötigte ihn in sein Hinterstübchen, wo er sein Kontor hatte, und ließ ihn nicht los, ehe er ihm bei einer Flasche Rheinwein Bescheid getan, während sie von allerlei Neuerungen plauderten, die seit dem letzten Besuch Helmbrechts eingeführt oder in Aussicht genommen waren.

Kürzer fand dieser sich mit anderen guten Bekannten ab, dem Apotheker, Rentamtmann, Stadtschullehrer. Dieser letzte kam sogleich auf Hänsel zu sprechen, den er dem »Paten« sehr lobte wegen seines Fleißes und guten Betragens. Wie es mit der Patenschaft stand, wußte auch dieser biedere Mann, wie alle im Städtchen, ohne daß es, nachdem das erste weit zurückliegende Ärgernis historisch geworden war, die Hochachtung für den Herrn Doktor verringerte. Nur der Stadtpfarrer, ein noch jugendlicher Herr mit dem scharfen Blick eines kirchlichen Eiferers, was man seiner verhältnismäßigen Jugend zugute halten konnte, begrüßte Helmbrecht, als er zufällig an ihm vorüberging, nur mit einer herablassenden Gebärde, wobei sein blasses, kaltes Gesicht errötete, wie aus Unwillen über einen unbußfertigen armen Sünder.

Helmbrecht war im stillen verwundert, daß beim Anblick seines Feindes keine bittere Stimmung sich in ihm regte. Es war erst der dritte Tag, seitdem die Scheidung vollzogen war. Und schon hatte er sich so völlig darein gefunden, als wäre es ein Traum gewesen, daß er diese Frau je geliebt hätte.

Erst als es vom Kirchturm drei Viertel auf eins schlug, stieg er den Fußweg durch den Buchenwald hinan und langte pünktlich mit dem Schlage eins bei dem Stäudlinschen Hause an.

Doch betrat er es nicht durch die Vordertür, sondern durch den Eingang auf der Rückseite. Er hatte vom Hause der Frau Agnes her Yvonne kommen sehen und wollte ihr ausweichen, glaubte auch, sie habe ihn noch nicht bemerkt. Heimlich schämte er sich, daß es ihm nicht gleichgültig war, schon wieder auf einem Besuch bei den Menschen, die ihm teuer waren, von der lauernden Späherin betroffen zu werden, selbst da sie ihm gestern schon erzählt hatte, sie wisse, daß er zu Tisch geladen sei. Was geht sie mich an? murrte er bei sich selbst. Ich will nichts mit ihr zu schaffen haben.

Doch konnte er sich nicht erwehren, an gewisse Worte, die sie ihm ins Ohr geträufelt, zu denken, als er zu der Küche kam und Crone am Herde hantieren sah in einem schneeweißen Linnenjäckchen und großer Kochschürze, eine weiße Mütze auf dem braunen Haar, die ihr reizend stand. Ist sie nun nicht doch ein bißchen »kokett«, daß sie sich im vollständigen Kostüm eines eleganten Küchenchefs präsentiert? fragte er sich, während er an der Tür stehen blieb. Sie schien sein Kommen überhört zu haben, wenigstens wandte sie sich nicht nach ihm um und rührte mit einem langen Holzlöffel eifrig weiter in einer kupfernen Kasserolle. Die Cattina aber kam zu ihm hingelaufen, ihr vom Feuer gerötetes Gesicht lachte ihm zutraulich entgegen.

Guten Tag, Sor Giovanni! rief sie. Kommen noch bißchen früh. La piccina sein noch nix fertig, machen alles allein, Cattina nur Hand reichen. 'at gestern gesagt: der Dottore bei uns essen, was sollen kochen, Cattina? 'aben ich gesagt: muß sein ein pranzo con fiocchi, un pranzone und alles all' Italiana. Wenn Sor Giovanni nix kommen nach Santa Margherita, vielleicht, wenn sehen, wie dort wird gegessen, macht ihm gola. Dunque, soll 'aben ein Risotto con regaglie – wie 'eißen regaglie auf deutsch, Coroncina?

Hühnerleberlein! klang es vom Herde her.

Gut! Und dann ein stufatino mit Oliven – wie sagt man stufatino?

Ragout.

Schön! – E poi ein 'ahnen gebraten und Insalata con pomidoro und zuletzte ein dolce, torta di mandorle und zu allerletzte frutta e formaggio. Un pranzo da principe, was meinen, 'err Dottore?

Aber Cattina, rief er lachend, um Himmels willen, Ihr macht mir den Mund wässern, mi viene l'acquolina in bocca, heißt's nicht so, Fräulein Crone? So viel Italienisch hab' ich schon bei Euch profitiert. Daß Ihr aber Euern Lebensretter, wie Ihr mich nennt, totfüttern wollt, ist nicht schön von Euch.

Lieber Herr Doktor, sagte sie, ohne sich in ihrer Geschäftigkeit zu unterbrechen, ich bitte Sie, mich jetzt nicht zu stören, sonst lass' ich das Ragout anbrennen, und mache mir Schande mit meiner Kochkunst. Übrigens ist keine Gefahr, daß Sie sich überessen. Das Huhn für drei Personen ist ganz klein, ein zweites haben wir nicht auftreiben können. Bitte, gehn Sie zum Vater, Sie finden ihn vorn im Wohnzimmer; es geht immer noch ein Viertelstündchen her, bis wir uns zu Tische setzen.

Er nickte ihr zu und tat, wie sie ihn geheißen. Der bloße Klang ihrer Stimme hatte jeden leisesten Verdacht, als spiele sie eine kokette Komödie mit ihm, zum Schweigen gebracht. Wie konnte sie auch voraussehn, daß er sie in der Küche überraschen würde.

Im Wohnzimmer fand er den Maler vor einer Staffelei stehend und ein Bild betrachtend, das dem Fenster zugekehrt war. Guten Tag, Doktor! rief er ihm entgegen. Da kommt einmal her und beschaut Euch dies Bildli. 's ist ein Motiv von Rapallo, aber ich hab' nach meiner Art dazu und davon getan, bis mir's ganz recht war; so würdet Ihr's in der Natur schwerlich wiederfinden. Denn mit dem coin de nature vu à travers un tempérament ist's so eine Sache. Das tempérament ist manchmal so eigensinnig, daß es die Natur an allen Ecken und Enden zurechtrückt, bis kein Zollbreit von der Natur so bleibt, wie's ursprünglich war.

Helmbrecht trat vor das Bild und betrachtete es aufmerksam. Es war eine ziemlich große Landschaft, ein Olivenwäldchen links im Vordergrunde, aus dem zwischen den zerklüfteten grauen Stämmen ein paar tiefschwarze Zypressen aufragten. Dahinter stieg eine sanfte Berghalde hinan, mit kleinen weißen Villen besetzt, bis zu dem kahlen, zackigen Gipfel, auf dem ein Klösterchen seinen zierlichen Turm in den hyazinthblauen Himmel erhob. Zur Rechten stieg das Ufer steil hinab zum Strande, den die Meeresbrandung umschäumte und ein Möwenschwarm umflatterte, in der Ferne aber kam ein Schifferboot geschwommen, ein gelbes und ein lichtblaues Segel war darauf ausgespannt, ein Mädchen saß am Steuer, dessen kleiner Kopf an dem frei auf die Schultern niederhangenden Haar als ein Bildchen Crones zu erkennen war, während ein Knabe, eine Mandoline im Arm, vorn an der Spitze stand und zu singen schien.

Wohl zehn Minuten stand Helmbrecht stumm in die Betrachtung des Bildes versunken. Dann streckte er dem Maler die Hand entgegen und sagte: Da habt Ihr was ganz besonders Wundervolles gemacht, Meister Veit. Euer Temperament hatte seine glücklichste Stunde, als Ihr dieses Stück Erde auf die Leinwand brachtet. Ich kann nicht satt werden, Augen und Herz daran zu weiden.

Ihr dürft Euch auch Zeit dazu lassen, versetzte der Maler. Wenn's Euch wirklich gefällt, nehmt es mit Euch und hängt's über Euern Arbeitstisch.

Ein so kostbares Geschenk – nein, rief Helmbrecht, kleine Geschenke erhalten die Freundschaft, aber ein so großes –

Lieber Freund, unterbrach ihn der andere, Ihr habt mir ein Geschenk gemacht köstlicher als alles, was in meinem Vermögen ist, und was ich niemals vergelten könnte. Und da Ihr nicht das geringste dagegen annehmen wolltet, müßt Ihr wohl begreifen, daß es mir ein Herzensbedürfnis ist, Euch irgend etwas zuliebe zu tun, soweit es in meiner Macht steht. Diesen Winter, während ich daran malte, hab' ich beständig gedacht, ob es Euch wohl gefallen möchte. Und ich war so närrisch, bei dem Bübli mit der Mandoline mir was Symbolisches träumen zu lassen, als wär's der Genius der Genesung, der mein Maidli sicher in den Hafen lotste. Das ist all dumm Zeug, so was kann man nicht malen, aber Gedanken sind dennoch zollfrei, und wenn Ihr's anschaut, mög' auch Euch einfallen, daß ohne den Schutzgeist, den Ihr ja kennt, das Schifflein traurig zu grunde gegangen wär'.

Die Stimme versagte ihm, er wollte sich abwenden, seine Bewegung zu verbergen. Da fühlte er seine Schultern umschlungen und Helmbrechts Mund an dem seinen. Kein Wort wurde mehr gesprochen. Die beiden Männer hielten sich aber noch umfaßt, als die Tür sich öffnete und Crones junge Stimme zu Tische rief.

Sie begriff sofort, was zwischen ihnen vorgegangen war, trat aber nur sacht vor das Bild und sagte: Nicht wahr, es ist schön? Es ist mit das schönste, was der Ätti gemalt hat.

Und daß er's für mich gemalt hat, ist das Allerschönste daran! rief Helmbrecht. Mir ist nie etwas geschenkt worden, was mich mehr gefreut hätte.

Nun aber genug davon! sagte der Maler. Kommt, kommt! Wir wollen den Risotto nicht kalt werden lassen. Geben Sie dem Chröneli den Arm, Doktor, und jetzt zu Tische!

Sie gingen in das Eßzimmer gegenüber, das mit etlichen Skizzen Stäudlins und ein paar Blumenstudien der Tochter hell und freundlich dekoriert war. Auf einer kleinen Kredenz stand eine große goldgelbe Melone, daneben ein Teller mit einem Riesenstück eines Gorgonzola, den der Maler sich aus Italien kommen ließ und jedem heimischen Käse vorzog. Auf dem zierlich gedeckten Tisch aber blühte in einer dunkelblauen Vase ein kleiner bunter Feldblumenstrauß.

Sie setzten sich auf die einfachen Rohrstühle, und die Cattina, von Fulvo begleitet, der sich dann ruhig zu Crones Füßen niederlegte, trug die Schüssel mit dem Risotto herein. Auch sie war in einem sauberen Gewande, nur eine Schürze vorgesteckt, während Crone die Küchentoilette mit ihrem gewöhnlichen Kleide vertauscht hatte. Warum haben Sie nicht wenigstens das weiße Mützchen aufbehalten? sagte Helmbrecht. Es stand Ihnen so schmuck.

Ich hab' es nicht zur Zierde aufgesetzt, erwiderte sie, nur daß kein Haar von meinem Kopf in die Schüsseln fallen sollte.

Er wurde ein wenig rot und bat ihr im stillen den Argwohn ab, als ob sie es darauf abgesehen hätte, mit diesem Kostüm ihm zu gefallen. Auch in der stillbeflissenen Art, wie sie die Wirtin machte, konnte er keinen Hauch einer bewußten Gefallsucht spüren. Sie freute sich unverstellt, wenn er die einzelnen Gerichte lobte, sagte aber, es sei doch im Grunde Cattinas Verdienst, die sie angeleitet, und überdies könne auch eine Ungeschickte leicht lernen, was die einfache italienische Kochkunst an Geheimnissen enthalte. Der Vater nickte zu allem, was sie sagte, sichtbar stolz auf seine kleine Hausfrau, sprach aber während des ganzen Essens keine hundert Worte. Er war ein starker Esser und lobte die Talente seines Kindes lieber, als durch Worte, durch die Tat.

Auch Crone war nicht sehr redselig. Sie brachte nur ihren Gast auf sein Leben in der Stadt, seinen Beruf und sein Wirken in der Kinderklinik. Alles mußte er ihr ausführlich beschreiben, wie es da zuging, wie die Kleinen gewartet, gefüttert und gewaschen würden. Sie sind glücklich, Herr Doktor, daß Sie beständig mit Kindern zu tun haben. Ich habe auch im Winter eine ganze Schar kleiner Mädchen und Bübchen um mich, aber ich fühle doch, daß ich ihnen entbehrlich bin und ihnen nicht viel nütze, wenn ich ihnen Geschichten erzähle und allerlei schenke.

Sie haben nur das Gute von diesem Verkehr mit den kleinen Menschen. Wenn Sie die Not und Sorge und das Herzweh auszustehen hätten, das mit meinem Beruf verbunden ist –

Gerade danach trag' ich Verlangen, versetzte sie. Wenn man um einen Menschen zu leiden hat, fühlt man erst, wie lieb er einem ist. Ich habe freilich auch manchmal meine liebe Not mit meinem großen Chindli, wenn es leichtsinnig ist und etwa mitten im Winter sich auf die offene Straße hinsetzen will, eine Skizze zu malen, aber im übrigen brauch' ich gottlob nicht die barmherzige Tochter bei ihm zu spielen, und er folgt mir auch meist, ich hab' ihn gut erzogen, gelt, Ätti?

Der Vater nickte mit einem glücklichen Lächeln seiner kleinen Gouvernante zu und strich ihr über das Haar. Du Hexli! sagte er. Dann hieb er tapfer in den Gorgonzolaberg ein und legte dem Gast ein großes Stück auf den Teller.

Nach dem Essen gingen die Männer wieder in das Wohnzimmer hinüber, saßen noch eine Weile beim Kaffee, und Helmbrecht konnte es nicht abschlagen, eine der schwarzen, beizenden Zigarren zu rauchen, an die der Maler sich in Italien gewöhnt hatte. Als er sich dann verabschiedete und von seinen Wirten in das Vorgärtchen hinausgeleitet wurde, fanden sie zu ihrem Erstaunen unter dem Balkon auf einem Bänkchen kauernd den Sohn der Frau Agnes.

Er stand schwerfällig auf, mit seinem verträumten Lächeln Crone zunickend. Er möchte wieder mit mir spazieren gehen, flüsterte sie den Männern zu, trat dem Knaben dann aber näher und sagte: Heute kann es nicht sein, Theodor, heute hat Crone keine Zeit. Morgen früh wird sie dich abholen.

Der Knabe schien von diesen Worten nur zu verstehen, daß sie ihn heute nicht mitnehmen könne. Seine lachende Miene verdunkelte sich, er stieß einen Seufzer aus und wandte sich weg.

Ich will ihn zu seiner Mutter zurückbringen, sagte Helmbrecht. Vielleicht kann ihn der Gärtner spazieren führen. Ich selbst bin seit dem Morgen unterwegs gewesen und muß an meine Arbeit gehn. Komm, Theodor! Wir gehn zusammen.

Er legte seinen Arm freundlich um die Schulter des Knaben, und sie trennten sich von den Stäudlins, die noch eine Weile ihnen nachsahen.

Was für ein braver Mensch, der Doktor! sagte der Maler. Wo er jemand leiden sieht, muß er hilfreich sein.

Crone sagte nichts und ging mit ihren stillen Gedanken ins Haus zurück.


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