Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel.

Es war weit nach Mitternacht, als Helmbrecht den Seehof wieder erreichte.

Die Arbeit an der Brandstätte war längst getan. Im Gärtnerhause hatte das Wasser mehr Schaden angerichtet, als das Feuer. Das Schulhaus war nur noch ein Trümmerhaufen, durch dessen Schutt und verkohlte Balken kleine Flammen rauchten und glosteten und in den die Sterne hereinschienen. Doch war Helmbrechts Hilfe noch nötig gewesen, da der junge Gärtner beim Sprung aus dem Fenster einen Arm gebrochen hatte, der von den beiden Ärzten wieder eingerichtet und geschient werden mußte. und der alte Gärtnergehilfe hatte beträchtliche Brandwunden davongetragen, die zu verbinden waren. Die Sorge für die obdachlos gewordenen Familien konnte den gutherzigen Nachbarn überlassen werden.

Während des Tumults war auch der junge Baron, der sich unermüdlich an dem Rettungswerk beteiligte, mehr als einmal in Helmbrechts Nähe gekommen. Sie hatten aber wie völlig Fremde aneinander vorbeigesehen. Nun war der Doktor in großer Erschöpfung nach dem ereignisreichen Tage den Fahrweg langsam hinaufgewandert, und es verlangte ihn mächtig, sich in sein Bett zu legen und einen langen Schlaf zu tun. Als er aber sein Zimmer erreicht hatte, sah er zu seinem nicht geringen Verdruß, daß die Tür gegenüber sich öffnete und Yvonne in großer Aufregung herausstürzte.

Sie war im Nachtkleide, über das sie nur ein weites silbergraues Frisiermäntelchen geworfen hatte, das geringelte blonde Haar kunstlos aufgesteckt, die blitzenden Ringe von den weißen Händen gestreift. Ihre Augen schimmerten feucht, und das seine Gesicht war fieberhaft gerötet.

Sind Sie's wirklich, lieber, lieber Herr Doktor? rief sie mit gedämpfter Stimme, um niemand in den Nebenzimmern zu wecken. Wenn Sie ahnten, mit welcher Angst ich Sie erwartet habe! Immer stellte ich mir vor, Sie seien zuletzt doch noch verunglückt, von einem umstürzenden Balken getroffen worden! Mein Zimmermädchen, die Christel, war beim Brande, die ist dann heraufgekommen und hat mir alles erzählt, wie es nur Ihnen zu danken ist, daß das Unglück nicht noch weiter um sich gegriffen hat. Wie sie mir aber schilderte, was für Angst sie selbst ausgestanden hat, als Sie die Leiter bestiegen, und wie ihr ein Mühlstein vom Herzen fiel, als Sie mit dem geretteten Hündchen den Erdboden wieder erreicht hatten – es war zu viel für mein armes Herz, ich bin umgefallen und habe eine halbe Stunde einen wütenden Anfall meiner alten Herzkrämpfe gehabt. Gott sei gelobt und gedankt, daß er Sie aus den Flammen heil herausgeführt hat! Aber Sie böser Mann, wie konnten Sie uns das antun, Ihr kostbares Leben um eines armseligen Tieres willen aufs Spiel setzen? Ein solches Heldentum ist geradezu gottlos.

Verzeihen Sie, Gräfin, versetzte er ruhig, wenn ich das nicht zugeben kann. Es steht bekanntlich in der Bibel, daß man seinen Nächsten lieben soll, wie sich selbst, und in jenem Augenblick waren das Hündchen und das Kind, das nach ihm schrie, meine Nächsten. Ein besonderes Heldentum kann ich auch nicht darin finden, daß jemand sein Leben, an dem ihm gerade in diesem Augenblick nicht viel gelegen war, in die Schanze schlug, um zu tun, was er nicht lassen konnte. Sie bauschen die ganze Geschichte viel zu sehr auf. Ich habe ihr keine schlimmeren Folgen zu verdanken, als daß ich angerußt wie ein Schornsteinfeger vor Ihnen stehe und etwas müde bin. Das aber ist eher ein Vorteil, da mein Schlaf in der letzten Zeit nicht eben der beste war. Und so wollen wir uns beide eine gute Nacht wünschen.

Er verneigte sich leicht gegen die junge Frau und legte die Hand auf die Türklinke.

Sie sah ihn mit ihrem schüchternen Kinderblick, den sie so gut in ihrer Gewalt hatte, von unten auf an und flüsterte: Ist es sehr unbescheiden, wenn ich Sie bitte, mir noch zehn Minuten zu schenken? Um meinen Schlaf ist es sonst geschehen. Ich würde bis an den hellen Morgen kein Auge schließen.

Er runzelte die Stirn.

Wenn es durchaus sein muß, Frau Gräfin –! Ich bitte einzutreten.

Er öffnete die Türe und ließ sie vorangehen. Drinnen, während sie ans Fenster getreten war, zündete er rasch die Lampe an und sagte dann im geschäftsmäßigsten Ton: Ich stehe zu Befehl, Frau Gräfin.

Sie wandte sich langsam um und tat ein paar Schritte ihm entgegen. So verwahrlost er aussah – den Hut hatte er unten im Gewühl verloren, die Kleider waren beschmutzt, die Haare klebten ihm von Ruß geschwärzt an den Schläfen und sein Gesicht war von schwarzen Flecken entstellt – der Anblick keines jungen Herren in hellem Waffenschmuck würde sie mehr entzückt haben. Ihr Herz und ihre Sinne drängten sich ihm entgegen, sie bezwang sich aber und statt sich ihm an die Brust zu werfen, streckte sie nur beide Hände nach ihm hin.

Als er sich nicht rührte, ließ sie die Arme sinken und sagte mit einem Seufzer: Es hilft nichts, ich muß meine Zuflucht zu Ihnen nehmen, oder ich sterbe. Sie haben mir gesagt, daß Sie, solange Sie hier sich aufhalten, keine ärztliche Praxis ausüben wollen, außer im Notfall, wie bei dem kranken Lenchen. Nun, mein Notfall ist etwas dringender. Der Herzkrampf, der mich vor einer Stunde befallen, wird sich wiederholen, es pflegt immer so zu sein, diesmal aber war er so furchtbar, daß ich einen zweiten nicht überstehen würde. Helfen Sie mir, lieber Doktor! retten Sie mich! Es ist unmöglich, wie Sie sehen, daß ich andere zu Hilfe rufe. Wenn Sie sich morgen nicht vorwerfen wollen, eine ärztliche Pflicht versäumt zu haben, so nehmen Sie sich meiner an!

Sie war auf einen Stuhl neben dem Sofa gesunken und preßte die linke Hand auf das Herz, während ihre Brust heftig arbeitete.

Beruhigen Sie sich, Gräfin, versetzte er. Ich bin überzeugt, Sie werden die Nacht gut überstehen, und morgen sagt Ihnen dann mein Kollege, was zu tun ist. Sie haben ihn ja schon einmal konsultiert, und er hat Sie mit dem Trost entlassen, mit dem wir freilich stets bei der Hand sind, wenn unser Latein am Ende ist, alles komme von den Nerven her. Trinken Sie ein Glas Wasser und kühlen Ihre Stirn. Gewiß werden Sie Schlaf finden.

Sie schnellte vom Stuhl in die Höhe. Ihr Gesicht erglühte von einer heftig aufwallenden Empörung.

Verzeihen Sie, daß ich Sie belästigt habe, sagte sie rasch. Ich hätte es wissen können, daß Ihr alter Haß auf mich so stark ist, um es Ihnen unmöglich zu machen, mich nur mit einem Finger anzurühren. Ich gelte Ihnen nicht so viel für einen Nächsten, wie ein winselndes Hündchen, und Sie könnten mich zehnmal im Feuer umkommen sehen, ohne nur einen Schritt zu meiner Rettung zu wagen. Helden sind aus härterem Stoff, als andere Sterbliche, und können sehr grausam sein. Nochmals: verzeihen Sie, daß ich das nicht früher begriff, und adieu!

Sie machte einen Schritt gegen die Tür, er vertrat ihr aber den Weg.

Wenn Sie es so nehmen, Gräfin, muß ich mich wohl fügen. Sie sollten doch aber einsehen, daß ich gewissenlos handeln würde, wenn ich eine Diagnose stellte ohne eine sorgfältige Untersuchung. Zu einer solchen werde ich also morgen gern bereit sein. Jetzt –

Warum nicht heute? warum nicht in dieser Stunde, da Gefahr im Verzug ist? fiel sie ihm hastig ins Wort. Sie ahnen nicht, was für mich davon abhängt, daß ich von dem einzigen Arzt, zu dem ich volles Vertrauen habe, endlich mein Schicksal erfahre.

Er verneigte sich achselzuckend.

Mag's denn sein! Sie erlauben nur, Gräfin, daß ich Hände und Gesicht wenigstens aus dem gröbsten reinige und diesen Rock mit einem sauberen vertausche. Ich bitte einstweilen sich auf das Sofa zu setzen und sich's bequem zu machen.

Er ging in sein Schlafkabinett, und sie hörte ihn drin eine gute Weile im Waschbecken plätschern. Als er erfrischt und gesäubert wieder eintrat, fand er sie im Sofa sitzend, den Kopf auf das Rückenpolster zurückgelehnt, die Augen halb zugedrückt. Sie sah unendlich reizend aus, da ihre Haare aufgegangen waren und ihre zarten Wangen umringelten, während zwischen den ein wenig geöffneten Lippen die weißen Zähne schimmerten. All das Liebliche aber schien völlig an ihm verloren zu sein.

Wollen Sie nun die Güte haben, gnädige Gräfin, sagte er, indem er nahe an sie herantrat, die Hüllen von der linken Schulter zurückzuziehen. Ich kann das Herz nur untersuchen, wenn es frei vor mir liegt.

Sogleich ließ sie das Frisiermäntelchen von den Schultern zurückgleiten und öffnete ihr Nachtkleid, mit einem erheuchelten Zögern, als würde es ihr schwer, ihre Züchtigkeit zu überwinden. Als die Hülle abgestreift war und die schönste, noch ganz jugendlich schwellende Brust vom Schein der Lampe angestrahlt hervortrat, blickte sie selbst mit einer eigentümlichen Miene des Stolzes und Triumphs auf ihren Reiz hinab und verfolgte aufmerksam jede Bewegung des Arztes, der sich zu ihr niederbeugte und das weiße Herz zu beklopfen und zu behorchen begann. Beide verhielten den Atem. Das Auge der jungen Frau ruhte mit einem lauernden Blick auf dem abgekehrten Gesicht des Mannes, den sie endlich in ihre Gewalt gebracht zu haben glaubte. Es war aber keine Bewegung darin zu entdecken, und seine Hände waren so ruhig, als ob sie statt des blühenden Fleisches kühlen Marmor betasteten.

Endlich richtete er sich auf.

Sie haben ein völlig gesundes Herz, Gräfin. Ich muß meinem Kollegen beistimmen, die Erscheinungen sind nur nervöser Natur, denn ein organischer Fehler ist nicht vorhanden. Ruhe des Körpers und – des Gemüts, dazu eine zweckmäßige Abhärtung, und Sie werden hoffentlich bald von der Plage befreit sein. Für heut wüßte ich nichts zu verordnen, als daß Sie sich eine kalte Kompresse aufs Herz legen, die Ihnen sicherlich zum Schlafen verhelfen wird.

Sie hörte seine ruhigen Worte, in denen kein Hauch von persönlichem Anteil oder Erregung durch ihre Schönheit klang, in tiefer Erbitterung an. Sagten sie ihr doch nichts Neues, da sie nicht die geringste Sorge um ihre Gesundheit hatte. Nur das war neu, daß dieser Mann mit einem Panzer umgeben war, an dem selbst die schärfsten Pfeile, die für jeden andern verderblich gewesen wären, sich abstumpften.

Ich danke Ihnen, Herr Doktor! hauchte sie, indem sie hastig das Nachtgewand und das seidene Mäntelchen wieder um ihre Schultern zog. Ich bin Ihnen eine große Beruhigung für alle Zeit schuldig geworden, die Gewißheit, daß von dieser Seite mir mein Schicksal nicht verhängt ist. Schade drum! Es schien mir immer die erwünschteste und vornehmste Todesart: an seinem Herzen zu sterben. Und nun wünsch' ich Ihnen so wohl zu schlafen, wie ein Held, der über jede menschliche Schwäche erhaben ist, auf so wohlverdienten Lorbeern nur irgend zu ruhen vermag.

Sie neigte sich zu seiner Hand herab, in der er noch das Auskultierröhrchen hielt, und eh' er es verhindern konnte, hatte sie sie mit ihren Lippen berührt. Dann flog sie aus dem Zimmer.

Drüben warf sie sich auf ihr Bett, drückte das Gesicht gegen das Kissen und verbiß darin ihren Schmerz und ihre Wut. Keine Träne trat aus ihrem Auge, aber ein dumpfes Stöhnen, wie ein verwundetes wildes Tier, dem die Sprache zur Klage fehlt, erschütterte ihre Brust. Es war nahe daran, daß der Herzkrampf, den sie nur vorgespiegelt, sie wirklich überfallen hätte. So vergingen ein paar Stunden, ehe der Sturm ihrer Gedanken sich zu legen anfing, die Schmach, daß sie sich ihm so offenbar preisgegeben und er sie doch verschmäht hatte, nicht mehr so wütend an ihr nagte. Wer weiß, sagte sie laut zu sich selbst, indem sie sich auf ihrem Lager aufrichtete, Männer sind zuweilen dumm, die tugendhaften, wie er einer ist, am meisten. Am Ende hat er nicht die leiseste Ahnung gehabt, für welches Herzweh ich Hilfe von ihm gehofft habe. Und vielleicht, wenn er erst sein ehrbares ärztliches Pflichtgefühl befriedigt hat und sich jetzt besinnt, was für Heilmittel seine Patientin brauchen könnte, und sich erinnert, was er gesehen hat – – –

Sie vertiefte sich in diese tröstliche Möglichkeit und schlief endlich darüber ein. Der Gegenstand ihrer leidenschaftlichen Betrachtungen schlief indessen schon stundenlang den Schlaf des Gerechten. So ganz wie »ein dummer Mann« hatte er die Konsultation nicht gerade durchgemacht. Aber obwohl er deutlich empfand, worauf es die schöne Zauberin dabei abgesehen hatte – er war einmal zu sehr an den Anblick unverhüllter weiblicher Reize gewöhnt, um dadurch verführt zu werden. Zudem war die dumpfe Spannung seines Gemüts, wie sein Schicksal sich noch wenden würde, so beherrschend in ihm, daß kein anderes Gefühl oder Interesse dagegen aufkommen konnte.


 << zurück weiter >>