Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Als nach langem Bemühen der treuen Dienerin dem unglücklichen Mädchen endlich das Bewußtsein zurückkehrte und der suchende Blick auf Cattinas Gesicht haften blieb, war ihr erstes Wort: Cattina – ist alles – wahr?

Sogleich aber, als jene die Lippen öffnete zu einer täuschenden Antwort, fuhr sie hastig fort: Antworte mir nicht! du würdest eine Lüge sagen, die ich doch nicht glaubte. Wenn es nicht wahr wäre, hättest du nicht – die andere sogleich Lügen gestraft? Nein, nein, es ist alles, wie sie gesagt hat. Es ist nur so grausam und ich werde daran sterben!

Dann, als die treue Seele in höchster Verwirrung nichts anderes zu tun wußte, als ihr armes Kind aufzurichten, und mit Liebkosungen, Tränen und Bitten sie bestürmte, sich zu beruhigen, stand sie plötzlich auf und sagte: Bring mich zu Bett, Liebe! Ich hoffe, ich stehe nicht wieder auf. Aber sag's dem Babbo nicht. Es bräch' ihm das Herz. Sag ihm, ich fühlte einen Schmerz, als ob mein Kopf in Stücken ginge. Daß es das Herz ist, braucht er nicht zu erfahren. O Cattina, solch ein himmlischer Traum und so daraus zu erwachen!

Als sie in ihrem Bette lag, schloß sie die Augen und sprach ein paar Stunden lang kein Wort. Auf alle Fragen, ob sie sich besser fühle, ob sie nicht Wein oder frisches Wasser trinken wolle, schüttelte sie nur still den Kopf. Der Vater, der nach ihr sehen wollte, erhielt keine Antwort auf seine angstvolle Frage. Sie hatte das Gesicht nach der Wand gekehrt und sich schlafend gestellt.

Es war zu spät geworden, um Helmbrecht herbeizurufen. Die Cattina beruhigte den Herrn, sie werde sich ausschlafen und morgen wieder wohlauf sein, worauf sie selbst freilich nicht hoffte. Da der Zustand aber vor der Hand nicht ärztliche Hilfe zu erfordern schien, auch kein Fieberzeichen sich meldete, ließ sie das stumme Kind endlich allein und bettete sich nur aus ihrer Kammer unten in Crones Wohnzimmer hinüber, dessen Tür nach dem Gang offen blieb, so daß sie jeden Laut von drüben vernehmen konnte. – –

Indessen hatte Helmbrecht, der Ahnungslose, den Tag in stiller Geschäftigkeit hingebracht, seine Abhandlung endlich abgeschlossen, den Koffer gepackt und dann länger als sonst mit Hänsel geplaudert, ohne ihn wissen zu lassen, daß es ihr letzter traulicher Abend sein sollte. Auch Frau Maria hatte über sein Vorhaben, am andern Tage abzureisen, nichts von ihm gehört, nur die Mutter des Lenchens war Mitwisserin, da er das Kind unter seiner Obhut nach der Stadt bringen wollte.

Der Zug ging um elf. Vorher blieb noch Zeit zu einem Besuch im Sternwartshause, und eine volle Abschiedstunde bei seiner Geliebten. Er fand aber Frau Agnes schon ausgegangen, nach dem Städtchen hinunter in häuslichen Geschäften, und den Professor noch nicht aufgestanden. Nur von Theodor nahm er Abschied, ohne daß der Knabe, als er ihm die Wange streichelte, verstand, daß er ihm lebewohl sagte.

Als er dann aber zum Stäudlinhause kam, erschrak er, die Cattina unter dem Balkon stehen zu sehn, mit einer Miene tiefster Verstörung. Was ist geschehen, Cattina? rief er. Doch nichts mit der piccina? – Statt der Antwort stürzten der Getreuen die Tränen aus den Augen, sie ergriff Helmbrechts Arm und zog ihn ins Haus hinein. Dann öffnete sie immer noch stumm die Tür des Wohnzimmers und lief laut schluchzend davon.

In höchster Angst trat er ein. Da saß der Maler in sich zusammengesunken auf dem Sofa und starrte ihm mit geisterhaft verdüstertem Blick entgegen. Crone? rief Helmbrecht. Wo ist Crone?

Der Alte deutete nach der Zimmerdecke, da über ihnen das Schlafzimmer des Mädchens war. Dann fing er an, mit gedämpfter, heiserer Stimme zu erzählen, was er selbst erst vor einer Stunde von der Cattina erfahren hatte.

Die Hoffnung, das Kind werde die furchtbare Erschütterung durch einen langen Schlaf überwinden, hatte sich nicht erfüllt. Als Cattina sehr früh an ihr Bett schlich, lag die Ärmste ganz wach in ihren Kissen und antwortete auf die Frage, wie sie sich fühle, nur mit einem schmerzlichen Lächeln. Sie wollte nicht aufstehen, war auch nicht zu bewegen, irgend etwas zu genießen. Cattina hatte sich endlich in ihrer ratlosen Angst entschließen müssen, den Vater zu Hilfe zu holen und ihm alles zu erzählen, was sich gestern abend ereignet hatte. Der Alte war von dem Bericht über die Tücke dieser vipera di Contessa wahrhaft niedergeschmettert, hatte sich kaum Zeit genommen, in seine Kleider zu fahren, und war atemlos ins Zimmer der Tochter gestürzt.

Sie hatte ihn mit einem kaum merklichen Kopfnicken begrüßt, dann aber sich nach der Wand gekehrt, und er merkte nur am Rucken ihrer Glieder unter der Decke, daß ein krampfhafter Anfall von Weinen sie erschütterte. Das dauerte jedoch nur ein paar Sekunden, dann lag sie wieder still.

Er hatte sich zu ihr ans Bett gesetzt und die liebevollsten Worte an sie hingestammelt. Daß er jeden Versuch aufgeben mußte, ihr einzureden, es handle sich nur um eine Verleumdung durch böse Zungen, begriff er trotz seiner völligen Verstörung. Das einzige, was ihren tiefen Gram vielleicht sänftigen konnte, war die Mitteilung, das alles habe ihr Bräutigam gestern schon ihr selbst sagen wollen und sie fragen, ob sie trotz dieser schweren Schuld, die er in leichtsinniger Jugend begangen, ihr Herz ihm nicht entziehen wolle. Er klagte sich seiner kurzsichtigen Klugheit an, ihm davon abgeredet zu haben, und bat sie unter Tränen, ihrem Ätti zu verzeihen. Sie nickte auch gegen die Wand hin, schloß dann aber die Augen und bat durch eine Gebärde, daß der Vater sie allein lassen solle.

Seitdem hatte sie still gelegen. Es war Cattina nur mit heißesten Bitten gelungen, ihr ein wenig Milch auszunötigen. Ihr scheine, sie fiebere. Ihre Wangen seien heiß und von einer fliegenden Röte durchschimmert.

Helmbrecht sprang auf. Wohin wollt Ihr? rief der Alte leise. Sie wird Euch nicht sehen wollen. – Ohne zu antworten hastete jener hinaus und die Treppe hinauf. Er fand Cattina oben im Gang an der angelehnten Tür hineinhorchend. Ich glaube, sie schläft, flüsterte sie. 'aben ganze Nacht nix geschlafen. Als aber Helmbrecht leise über die Schwelle trat, regte sich die zarte Gestalt in dem weißen Bette und hob, ohne sich umzuwenden, abwehrend den Arm. Ein kaum vernehmbarer aber dringender Ton kam von ihren Lippen: Nicht! nicht! O bitte, bitte! Dann sank das Haupt wieder auf das Kissen zurück.

Eine so tödliche Angst, er möchte trotzdem sich ihr nähern, hatte aus der Bitte herausgeklungen, daß er es nicht wagte, ihr nicht zu gehorchen. Ein lähmendes Gefühl übermannte ihn, der furchtbare Gedanke, daß er dieser reinen jungen Seele, deren Abgott er gestern noch gewesen war, heute Abscheu und Schauder einflößte.

In dumpfer Verzweiflung schritt er die Treppe wieder hinab. Dem Vater, der ihn unten im Gang erwartete, raunte er zu, es sei noch zu frisch in ihr, als daß sie es schon hätte überwinden können. Daß dergleichen unter dem armen sterblichen Geschlecht, wo niemand ohne Sünde sei, geschehen könne, darein werde sie sich erst langsam finden müssen. Daß es nie dahin kommen werde, das zu fürchten könne er nicht übers Herz bringen. Denn wie sie eben ein besonders feines Instrument sei, das darum auch am leichtesten und schlimmsten verstimmt werde, so sei sie auch aus zu gutem Stoff, um eine seelische Zerrüttung nicht endlich wieder auszuheilen. Zunächst solle sein Kollege, da sie ihm selbst nicht erlaube sie zu berühren, untersuchen, ob ärztliche Kunst bei dieser Wiederherstellung ihr nicht zu Hilfe kommen könne.

Veit Stäudlin hörte das alles, was tröstlich klingen sollte, in trostlosem Schweigen mit an. Helmbrecht selbst versuchte umsonst, seinen eigenen Worten zu glauben. So trennten sie sich mit einem schmerzlichen Händedruck.

Dem jungen Kurarzt, der eben zu seiner Sprechstunde nach dem Seehof heraufgekommen war, sagte Helmbrecht nur das Nötigste, daß eine aufregende Nachricht das Fräulein in diesen rätselhaften Zustand versetzt habe. Er wolle aber seinem Grundsatz getreu die Behandlung seiner früheren Patientin diesmal ihm allein überlassen.

Eine halbe Stunde später trat der Kollege bei ihm ein. Symptome einer bestimmten Krankheit habe er nicht entdecken können, vorläufig nur eine leichte Fieberbewegung konstatiert und etwas dagegen verordnet. Er hoffe morgen schon klarer zu sehen, vielleicht geh' es überhaupt mit diesem einen Tage vorüber.

Als Helmbrecht aber am Abend noch einmal nachfragte, war der Zustand unverändert geblieben, nur die Heftigkeit noch gesteigert, mit der Crone bei seinem schüchternen Versuch, sich ihr zu nähern, sich abkehrte, als ob sie vor einem glühenden Eisen erschauerte. Der Kollege, der noch einmal gekommen war, hatte keine Zunahme des Fiebers wahrgenommen. Die Gemütserstarrung aber hatte zugenommen, abwechselnd mit kurzen Intervallen, wo ein lichterer Gedanke sie plötzlich im Innersten aufregte, bis ihre Besinnung sich wieder umschleierte.

Helmbrecht hatte noch eine Stunde bei dem tiefgebeugten Vater gesessen, ohne viel zu reden, nur weil die Nähe dessen, der dies Schicksal ebenso schwer empfand, seinem blutenden Herzen wohltat. Als er dann in sein Zimmer zurückkehrte, verließen die Gäste gerade die Tafel, wo sie zu Nacht gegessen hatten. Er hatte schon den Türgriff gefaßt, da sah er vom Ende des Korridors Yvonne herankommen. Eine heiße Blutwelle stieg ihm gegen die Schläfe. Auch sie hatte ihn bemerkt, setzte aber ihren Weg scheinbar gelassen fort, bis sie ihn erreicht hatte, und wollte mit einem kalten Gruß an ihm vorbei in ihr Zimmer, als sie ihn sagen hörte: Sie geben mir wohl noch auf fünf Minuten Audienz, gnädige Gräfin. Ich hätte Ihnen eine Mitteilung zu machen, die Ihnen angenehm sein wird.

Sie neigte schweigend den schönen Kopf und schritt ihm voran über die Schwelle.

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte er: Es wird Sie freuen zu erfahren, daß das Gift, das Sie einem arglosen jungen Wesen ins Ohr geträufelt haben, seine Wirkung bereits getan hat. Das Kind ist in eine schwere Krankheit verfallen, von der es sich vielleicht nicht wieder erholen wird.

Sie sah ihm mit einer ruhig herausfordernden Miene gerade ins Gesicht.

Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor. Ich muß schon bitten, sich deutlicher zu erklären.

Oh, versetzte er, Sie verstehen mich ganz gut. Aber gleichviel, ich bin nicht hier, Sie anzuklagen. Sie haben nur getan, was nach Ihrem Charakter von Ihnen zu erwarten war. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß solche Untaten, wenn man sie auch nicht vor Gericht bringen kann, doch nicht ungesühnt bleiben sollen. Wenn jenes junge Wesen, dem Sie nicht wert sind die Schuhriemen aufzulösen, an Ihrer tückischen Feindschaft zugrunde gehen sollte, möchte ich Sie nur gewarnt haben, mir nicht wieder zu begegnen. Ich bin sonst ein ziemlich sanftmütiger Mensch. Aber gewisse Erlebnisse und gewisse Menschengesichter bringen mein Blut zum Sieden. Ich stehe nicht dafür, daß ich Ihren schönen weißen Hals nicht mit diesen Händen umklammern und Sie erwürgen würde, gleichviel wie das Gericht hernach darüber urteilte. Auf die Vernichtung von Giftschlangen ist ja sonst eine Prämie gesetzt. Die möchte ich mir wohl verdient haben, jedenfalls aber hätte ich eine sittliche Pflicht der Vergeltung erfüllt und würde die Folgen ruhig über mich nehmen.

Er machte eine Bewegung, als ob er sie verlassen wollte, ohne sie zu grüßen.

Bleiben Sie doch einen Augenblick, sagte sie, sich zwingend, in ihrer Stimme nichts von ihrer inneren Erregung zu verraten. Eine so freundliche Aussicht, wie Sie mir eben eröffnet haben, kann ich nicht hinnehmen, ohne meinen Dank dafür auszusprechen. Und nun wollen wir auch nicht länger Komödie miteinander spielen, so hübsch sich diese melodramische Rhetorik von Giftschlangen und Femgericht ausnimmt. Mein vielleicht sehr schlechter Charakter hat wenigstens das Gute, daß ich für alles, was ich tue, einstehe. So leugne ich auch nicht, daß es mir eine kleine Genugtuung war, dem »arglosen jungen Wesen«, wie Sie Ihr Fräulein Braut nennen, einen kleinen boshaften Stich zu versetzen. Denn ich finde es ungerecht, daß in dieser besten Welt einer alles in den Schoß fällt, was ihr Herz begehrt, während eine andere, die sich's im Leben viel saurer hat werden lassen, nicht nur leer ausgeht, sondern auch mißhandelt wird.

Sie schwieg einen Augenblick. Ihr Herz klopfte so stark, daß ihr die Stimme versagte.

Mißhandelt? versetzte er achselzuckend. Ich dächte doch, das Schicksal hätte Sie mit manchen Gütern und Gaben ohne Ihr besonderes Verdienst ausgestattet.

Jawohl, brach es jetzt mit unverhaltener Leidenschaft von ihren Lippen, es ist schreiender Undank, wenn ich mich noch beklagen will. Schön und jung und talentvoll, und heirate mit zweiundzwanzig Jahren einen schönen jungen Grafen, der nur den kleinen Fehler hat, verrückt zu sein, und bringe ein Kind zur Welt, das mir den Gefallen tut, sich bald wieder zu empfehlen, statt erblich belastet eine Weile fortzuleben, bis auch bei ihm der Wahnsinn ausbricht. Und so als eine gefeierte Strohwitwe fahre ich drei Jahre durch die Welt und bemühe mich anständig zu bleiben, was nicht immer ganz leicht ist, und begegne endlich hier oben einem Manne, zu dem ich Vertrauen fasse, dieser Mann aber zeigt mir aufs Unverhohlenste sein Mißtrauen, seinen Widerwillen, da ein junges Ding, das noch die Kinderschuhe nicht ausgetreten hat und in seinem Köpfchen schon so viel geheime Weiberlisten und Gelüste verbirgt, wie irgendeine von uns, da dieses Wunderkind es dahin gebracht hat, wie die Krone ihres Geschlechts von ihm vergöttert zu werden. Oh, sehr geehrter Herr Doktor, glauben Sie nur nicht, ich hätte dies kluge Fräulein um eine solche Eroberung beneidet. Nur den sehr verzeihlichen Wunsch hatt' ich, sie merken zu lassen, daß ich von ihr Bescheid weiß und nicht daran glaube, so unschuldig sie sich stellt, sie wisse nicht sehr wohl, wie alle Welt, was der Herr Bräutigam auf dem Gewissen habe. Wenn sie mit den beaux restes vorlieb nehmen will, ist das Geschmacksache, und ich bin weit entfernt, es ihr zu verdenken, obwohl es mein Geschmack nicht wäre. Nur die Madonnenmiene und die Heuchelei, das arglose Kind zu spielen, die empörte mich, und darum wollte ich wenigstens ihr zu Gemüte führen als ehemalige Schauspielerin, daß mich solche Mätzchen nicht täuschen können.

Nun wandte sie sich ab, wie um anzudeuten, daß sie die »Audienz« zu enden wünsche. Er betrachtete sie mit einer Miene, aus der aller Haß von vorhin geschwunden und durch ein tiefes Mitleid verdrängt worden war.

Ich bedaure Sie von Herzen, Gräfin, sagte er. Wie unselig muß Ihnen zumute sein, daß Sie sich nur betäuben können, wenn Sie glücklichere Menschen durch dämonische Mittel aus all ihren Himmeln stürzen. Sie mögen es leugnen so viel Sie wollen: Sie haben keinen Augenblick gezweifelt, daß Ihr hämischer Glückwunsch ein weiches, unerfahrenes Herz tödlich verwunden würde. Über kurz oder lang werden Sie zur Besinnung kommen und – zu Ihrer Ehre nehme ich es an – sich selbst verachten, daß Neid und Eifersucht Sie dergestalt hat fortreißen können. Und so überlasse ich Sie Ihrem eigenen Urteil, das Sie nicht begnadigen wird, – wie ich es tue. Gute Nacht, Frau Gräfin, und Lebewohl für immer!

Er verneigte sich kalt und verließ das Zimmer.

Er fand aber noch nicht so bald den Schlaf.

Zwar die Wallung, in die sein Blut durch die Abrechnung mit der Feindin versetzt worden war, kühlte sich bald. Armes Weib! sagte er vor sich hin. In besseren Händen hätte etwas Besseres aus ihr werden können! – Dann kehrten seine Gedanken zu seinem eigenen Schicksal zurück, das wie eine dunkle Wolke, von keinem einzigen Stern erhellt, jeden Ausblick ihm hoffnungslos zu verschließen schien.

Er setzte sich endlich und begann einen Brief zu schreiben an seine arme Liebste, die ihm so plötzlich ihr Herz abgewendet hatte. Nicht um seine Schuld in ihren Augen zu mildern oder zu beschönigen. Er zweifelte aber, ob ihr Vater alles, was er selbst ihm gesagt, um wenigstens zu erklären, wie er sich in dies Irrsal hatte hineinlocken lassen, ihr vorgestellt habe. Er legte eine volle Beichte ab und fragte zuletzt demütig, ob alle Hoffnung verloren sei, jemals wieder zu Gnaden angenommen zu werden.

Das schrieb er in einem Zuge, ganz schlicht, ohne besonders eindringliche Worte zu suchen. Dann steckte er das Blatt ein mit der Absicht, es ihr durch die Cattina zukommen zu lassen, wenn sie sich so weit gefaßt hätte, um einen Brief lesen zu können. Noch hatte er nicht darauf verzichtet, ihr das alles mündlich zu sagen.

Aber der Bericht seines Kollegen am andern Morgen ließ ihn erkennen, daß er darauf noch lange werde warten müssen.

Der Zustand sei unverändert, das Fieber seltsamerweise in der Frühe lebhafter als gegen Abend. Es scheine die seelische Aufregung zu sein, die auf die Temperatur des Blutes wirke und in den ersten Tagesstunden, wenn der Geist wieder von neuem sich seinen quälenden Gedanken überlasse, stärker sei als gegen Abend, wo die körperliche Ermattung auch das Grübeln und Grämen beschwichtige. Was der Grund dieser Gemütsbewegung sei, habe er von der Kranken, die überhaupt stumm bleibe, nicht erfahren können. Der Vater scheine es zu wissen, wolle es aber auch nicht verraten. Übrigens sei noch immer eine eigentliche Krankheit nicht festzustellen, das Fräulein schlafe sogar manchmal bei Tage ein paar Stunden, nehme dazwischen ohne Widerwillen etwas Milch, wolle aber selbst ihre Nächsten nicht sehen. Nur der Hund dürfe neben ihrem Bette liegen.

So sei es auch überflüssig, die Krankenwärterin aus dem Städtchen heraufkommen zu lassen, zumal die treue Magd es überhaupt wie eine schwere Kränkung empfinden würde, wenn man ihr nicht zutraute, für die Pflege ihrer jungen Herrin allein einstehn zu können. Sie brauche wenig Schlaf und höre aus dem Zimmer gegenüber jede leiseste Regung der Kranken.

Ein paarmal am Tage ging Helmbrecht hinüber. Er wagte sogar, als er an der angelehnten Türe horchte und Crone gleichmäßig atmen hörte, sacht über die Schwelle zu treten. Sofort aber fuhr das Mädchen in die Höhe, wandte sich nach einem flüchtigen Blick des Schreckens mit angstvoller Gebärde wieder ab und hauchte kaum hörbar: O bitte, bitte! Worauf er tieferschüttert sich zurückzog.

Vom Vater hörte er, daß er sie gefragt habe, ob sie denn auf den Mann, den sie geliebt, einen unversöhnlichen Haß geworfen habe, um eines Vergehens willen, das er längst bereut. Sie hatte langsam den Kopf geschüttelt, dann aber in Tränen ausbrechend die Augen geschlossen und sie endlich wieder aufgetan mit einem irren Blick, wie wenn sie über ein Rätsel nachsinne, das ihr armer Kopf nicht zu lösen vermöge.

Es war kein Zweifel, daß sie sich in eine Welt nicht mehr zu finden wußte, in der so Unbegreifliches geschehen, der Mann, der ihr Abgott gewesen, sich auf einmal als ein Mensch ihr offenbart hatte, nicht fester gegen jede Versuchung gewappnet, als der erste beste schwache Sterbliche. Es war förmlich, als schäme sie sich vor ihrem eigenen Herzen, daß es sich so völlig habe betören lassen, und mehr noch, daß es trotzdem nicht aufhören könne, sich zu seiner Schwäche zu bekennen. Das alles aber, wenn sich's so verhielt, wogte und fieberte so übermächtig in ihr, daß sie sich nicht entschließen konnte, fortzuleben wie früher, und von irgendwoher die Rettung aus diesem Irrsal zu erwarten. Manchmal, wenn sie völlig hieran verzweifelte, schien ihr ganzes Wesen wie in einem lebendigen Tode zu erstarren. Dann erschrak die getreue Pflegerin über die fahle Blässe ihres Gesichts und den wilden Blick ihrer Augen. Zu andern Zeiten erschien sie kaum wie eine Kranke, dann lag sie mit einem lieblichen, fast heiteren Ausdruck, und man hörte sie vom Gang aus mit ganz leiser Stimme eines ihrer kleinen süßen Ritornelle vor sich hin singen, doch wie vor sich selbst erschreckend plötzlich abbrechen. Dann versank sie wieder in ihr stummes Brüten.


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