Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Zwölftes Kapitel.

Beim ersten Morgengrauen war er wieder wach und stand rasch auf. Er hatte sich gewöhnt, mit wenig Schlaf vorlieb zu nehmen.

Dann ging er leise durch das Haus, in dem noch alles schlief, und stieg die Treppe zu der Mansarde hinauf. Die Mutter saß neben dem kleinen Bett und begrüßte ihn mit einem dankbaren Blick. Die Nacht sei ruhig vergangen.

Auch jetzt schlummerte das Kind, doch fand Helmbrecht, als er es untersuchte, daß es in der Tat die Influenza war, die es überfallen hatte. Der Mutter verschwieg er es. Es sei ein leichtes Erkältungsfieber, das bald vergehen werde. Aber Sie selbst, liebe Frau, haben ein ganz tüchtiges Fieber. Sie werden mir folgen und sich sofort aufs Bett legen. Das Pülverchen hier verschafft Ihnen wenigstens ein paar Stunden Schlaf, indessen übernehme ich die Wache, und für den übrigen Tag besorge ich eine Hilfe aus der Stadt, von wo ich schon öfter eine Pflegerin geholt habe. Denn Sie allein sind der Aufgabe nicht gewachsen und dürfen mir nicht auch krank werden.

Sie schüttelte finster den Kopf.

Wenn Sie wüßten, wie manche Nacht ich schlaflos zugebracht habe, und mußte dann am andern Morgen wieder an die Arbeit gehen! Wenn Sie überhaupt mein Leben kennten! Es kann Ihnen freilich nicht interessant sein. Ich hab' es nicht besser und nicht schlimmer gehabt als Unzählige, doch jetzt, wenn Sie mir mein Kind retten, will ich nie mehr klagen. Nicht wahr, Sie werden es retten? Es ist das einzige, was ich habe, mein ein und alles auf der Welt, aber ich brauche auch sonst nichts, um glücklich zu sein. Sie haben mich Frau genannt, ich bin es nicht und will mir einen Titel nicht anmaßen, der mir nicht zukommt. Freilich könnt' ich es sein, wenn ich es übers Herz gebracht hätte, einem Manne, dessen niedrigen Charakter ich zu spät erkannt habe, meine Hand fürs Leben zu reichen. Ich sah aber, daß er mich nicht liebte, daß er nur dem Andringen seiner vortrefflichen Mutter, seine Pflicht an mir zu erfüllen, da sie mich trotzdem schätzte, endlich nachgab, seiner Abneigung zum Trotz. Es war eine frevelhafte Laune gewesen, die ihn zu mir führte. Wie konnte er auch im Ernst mich begehrenswert finden? Ich aber, ein Mädchen, das nie Liebe erfahren, nicht von ihren Nächsten – ist es ein Wunder, wenn so eine dem ersten besten zum Opfer fällt, der ihr vorspiegelt, es sei ihm an ihrer Liebe gelegen? Und doch, so tief es mich beschämt, daß ich so dumm und leichtgläubig sein konnte, – nun ich mein Kind habe, bereue ich's nicht. Auch nicht, weil sich alle, die mich kannten, deshalb von mir zurückgezogen haben, mein eigner Vater mich verstoßen hat. Wenn das Lenchen mir bleibt, weiß ich, warum ich lebe, und entbehre nichts auf der Welt und kann's auch einmal vor ihm verantworten, wenn es zu Verstande gekommen ist und mich fragt, warum ich ihm keinen Vater gegeben habe, daß ich es lieber als vaterlose Waise durchs Leben gehn lassen wollte, denn als Tochter eines Mannes, den ich verachten muß!

Er brachte es endlich doch dahin, daß die tief erschöpfte Frau sich niederlegte. Doch nach zwei Stunden schon war sie wieder munter und litt nun nicht, daß er bei ihr blieb. Auch befand sich die Kleine leidlich, der Husten hatte nachgelassen, Helmbrecht streichelte das kleine blasse Gesicht und sagte ihr, er werde ihr einen guten Tee schicken, den solle sie recht warm austrinken, in ein paar Tagen werde sie wieder ganz munter herumspringen.

Unten in der Küche, wo die Dienerinnen sich inzwischen wieder eingefunden hatten, ordnete er das Nötige an und schrieb ein paar Zeilen an seinen Kollegen, mit der Bitte, die Krankenwärterin zu benachrichtigen. Das Billett sollte dann der lange Lutz hinuntertragen.

Er selbst kehrte zu seinem Zimmer zurück, wohin er sich das Frühstück bestellt hatte. An der Tür, die sich nach dem Garten öffnete, traf er mit Yvonne zusammen.

Sie kam eben von ihrem Bade zurück. In dem hellen Morgenkleide, über das ihr noch feuchtes blondes Haar bis an den Gürtel frei herabhing, die Wangen von der Morgenfrische gerötet, sah sie ungemein reizend aus. Sie grüßte ihn mit einem mädchenhaft schüchternen Blick der blauen Augen und stand an der Schwelle still, als ob sie ihm den Vortritt lassen wollte. Als er den Hut lüftend rasch vorbeizugehen gedachte, sagte sie leise: Guten Morgen, Herr Doktor! Sie kommen schon wieder von Ihrer kleinen Patientin. Man hat Sie gestern abend noch spät zu Fräulein Unverhofft gerufen, die Arme scheint sich sehr geängstigt zu haben. Wie geht es heut dem Kinde? Ist der Fall wirklich bedenklich?

Er berichtete kurz, wie er es gefunden.

Ich werde, sobald ich angezogen bin, hinübergehen, zu sehen, ob ich mich nützlich machen kann. Ich habe herzliches Mitleid mit der armen Mutter.

Er erwiderte, daß ihre Hilfe nicht vonnöten sei, er habe schon für eine regelmäßige Pflegerin gesorgt. In acht Tagen, hoffe er, werde das Kind reisefähig sein. Er selbst werde es dann fortbringen und in seine Klinik aufnehmen, wo es eine Zeitlang unter ärztlicher Aufsicht bleiben müsse. Es sei sehr blutarm.

Ob denn die Mutter die Mittel dazu habe, die Kleine längere Zeit in der Klinik zu unterhalten? Sie wolle gern dazu beitragen.

Oh, es seien ein paar Freistellen darin, eine davon werde dem Lenchen zugute kommen.

Er hatte das auch der Mutter gesagt, um ihr die Einwilligung zu erleichtern. Es war aber nichts daran, er wollte nur nicht gestehn, daß er die Kosten auf seine Tasche nehme.

Unter diesen Reden waren sie an das Ende des Korridors gelangt und standen vor ihren Zimmern.

Also wollen Sie uns schon in acht Tagen verlassen, Herr Doktor? sagte Yvonne. Leugnen Sie nicht, daß es um meinetwillen geschieht, weil Sie mir nicht täglich begegnen mögen. Aber ich will Sie beruhigen. Da Sie gestern auch abends nicht zu Tische kamen – mittags waren Sie ja anderweitig versagt – ist Ihr Platz neben mir besetzt worden durch den halbtauben Major. Auf der andern Seite sitzt die Frau Rektorin, da können wir ja nach Herzenslust in der Chronique skandaleuse des Seehofs blättern. Nein, im Ernst gesprochen: ich begreife, daß meine Nachbarschaft Ihnen verhaßt sein mußte. Ich hab' es tausendmal bereut, über eine Person, die Ihnen teuer ist, mich so rücksichtslos geäußert zu haben. Es war schlecht von mir, ganz schlecht! Aber gestehen Sie nur auch, es war etwas viel von mir verlangt, anhören zu müssen, daß Ihnen alles an dieser anderen pures Gold erscheint, während Sie mir deutlich zeigten, daß ich Ihnen antipathisch bin, da ich Sie doch so unendlich hochschätze. Wie gesagt, es war grundschlecht von mir, obwohl ich nur sagte, was ich für Wahrheit halte. Aber sollte man einer schwachen Frau so schwer darum zürnen, daß sie einer eifersüchtigen Regung einmal nachgab?

Sie hatte das alles mit niedergeschlagenen Augen gesagt und stand ihm gegenüber wie eine arme Sünderin vor ihrem Richter. In diesem Augenblick tat sie ihm wirklich leid. Was konnte sie dafür, daß sie so einsam und haltlos durchs Leben ging und gegen kleinliche Instinkte und unerfüllte Wünsche keinen Schutz an einem wahrhaft vornehmen Charakter fand? Auch soll nicht verschwiegen werden, daß ihrer blonden Schönheit die Büßermiene sehr verführerisch stand.

Er bot ihr die Hand und sagte: Sie irren, Gräfin – pardon! Frau Yvonne, – ich bin nicht vom Tisch weggeblieben, weil ich nicht gern mit Ihnen plauderte. Nur eine eilige Arbeit, die noch in dieser Woche fertig werden soll, macht es mir unmöglich, so lange zu tafeln. Wenn ich hastig einen Bissen verschlungen habe, kehre ich an meinen Schreibtisch zurück. Darin dürfen Sie nichts Feindseliges sehen. Und nun guten Morgen, verehrte Nachbarin. Ich muß eilig ein Rezept schreiben, das sogleich in die Apotheke hinuntergebracht werden soll.

Er verneigte sich mit einem freundlichen Kopfnicken und ging in sein Zimmer. Sie sah ihm nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. In ihren Augen leuchtete es wie ein stiller Triumph, daß es ihr gelungen war, diesen Mann, der ihr schon unwiederbringlich entschlüpft zu sein schien, nun doch wieder festzuhalten. Denn gerade seine unverhohlen schroffe Zurückhaltung hatte das Gefühl für ihn, das schon im vorigen Jahr sich ihres sonst sehr untiefen Herzens bemächtigt hatte, zu einer wirklichen Leidenschaft gesteigert. Nur seinetwegen war sie nach dem Seehof zurückgekehrt, wo sie sich grenzenlos langweilte. Die Menschen hier erschienen ihr im höchsten Grade spießbürgerlich, und für die Natur fehlte ihr jeder Sinn. Und nun entzog sich ihr der einzige, um dessentwillen sie das öde Leben in dieser kleinbürgerlichen Sommerfrische ertrug.

Kein Wunder, daß sie auf das Mädchen, das, wie sie deutlich empfand, einzig daran schuld war, einen tödlichen Haß warf. Sie war Kennerin genug, um sich zu gestehen, daß diese ihre Rivalin in der Tat alle Eigenschaften besitze, einen Mann, wie Helmbrecht, zu fesseln, und sie selbst, so sehr sie andern gegenüber sich ihrer Macht bewußt war, könne den Vergleich mit ihr in seinen Augen nicht aushalten. Und doch sagte sie sich, daß sie ja gerade auf dem besten Wege war, durch ihr Gefühl für diesen Mann sich aus ihrer oberflächlichen Weltkindschaft herauszuretten und endlich zu gewinnen, was dem Leben wahrhaften Wert verleiht. Das Heimweh nach einem stillen, unscheinbaren, aber echten Herzensglück, wovon sie schon zu Helmbrecht gesprochen, hatte sie in der Tat erfaßt, und nun sollte sie es mit ansehen, daß der Mann, der ihr ein solches schaffen konnte, es für sich selbst bei einer anderen suchte.

Sie war aber entschlossen, dieser andern den Sieg streitig zu machen, den Kampf mit allen Mitteln durchzukämpfen. Einen Augenblick vorher war sie drauf und dran gewesen, die Hand, die er ihr bot, an ihre Lippen zu drücken und wie das Käthchen, das sie oft hinter den Lampen gespielt hatte: Mein hoher Herr –! zu stammeln.

Doch sobald sie mit sich allein war, war sie froh, daß sie dieser Regung widerstanden hatte. Es hätte ihn nur mißtrauisch gemacht und von neuem eine Kluft zwischen ihnen aufgerissen. Denn auch das war ja eine der seltenen Eigenschaften Helmbrechts, daß kein Funke von Eitelkeit in ihm glimmte, und was andere Männer angezogen hätte, ihn nur verstimmen und abstoßen konnte. –

Während dies alles der schönen Frau in ihrem einsamen Zimmer durch den Kopf ging, saß ihr Nachbar drüben, die Stirn in beide Hände gestützt, an seinem Schreibtisch und suchte sich in der neuen, durch die Erkrankung des Kindes veränderten Lage zurechtzufinden.

Daß von einer Abreise in drei Tagen nicht mehr die Rede sein konnte, war außer Zweifel. Die Mutter hatte ihn zu innig angefleht, sie nicht im Stich zu lassen, als daß er das Kind seinem Kollegen hätte anvertrauen können. Und doch, wenn vielleicht Wochen bis zur völligen Genesung vergingen, wie sollte er seinen Vorsatz durchführen, Crone fern zu bleiben!

Der Eintritt des Mädchens, das ihm seinen Tee brachte, unterbrach dies unfruchtbare Grübeln. Er ließ Frau Maria sagen, daß er auch heute und alle Tage nicht zur Table d'hote kommen, sondern mit Hänsel zusammen speisen wolle, und setzte sich, nachdem er gefrühstückt hatte, wieder an seine Arbeit.

So, mit Schreiben, Besuchen bei der kleinen Kranken und Plaudern mit dem Knaben brachte er sich über diesen und die nächsten Tage hinweg. Am vierten Tage, nachmittags, überraschte ihn der Besuch Stäudlins, der nachzufragen kam, ob Helmbrecht unwohl sei, da er sich all die Zeit über weder in ihrem Hause noch draußen im Freien habe blicken lassen. Es gelang dem sehr Verlegenen unschwer, bei der arglosen Natur des Malers, eine Ausflucht zu ersinnen, die, so unwahrscheinlich sie lautete, doch ohne Bedenken hingenommen wurde: er habe sich gelobt, kein bekanntes Gesicht aufzusuchen, ehe er unter seine Arbeit den Strich gemacht habe.

Veit Stäudlin war selbst in jede seiner Arbeiten so leidenschaftlich vertieft, daß er diese Welt- und Menschenflucht vollkommen begriff. Er wollte sogleich wieder gehn, aber Helmbrecht hielt ihn fest, gab ihm eine Zigarre und fühlte, wie wohl es ihm tat, neben dem Vater des geliebten Mädchens ein Stündchen zu sitzen und von gleichgültigen Dingen zu schwatzen.

Daß er die geschenkte Landschaft nicht neben die armseligen Öldruckbilder gehängt, sondern einstweilen in sein Schlafzimmer geborgen habe, fand der Maler nur natürlich.

Er ging endlich, mit Grüßen für sein Kind und auch für die Cattina beladen, und nahm das Versprechen mit, daß der erste Ausgang des Freundes nach Vollendung seiner Aufgabe zu ihnen sein sollte.

Doch schon am Abend des nächsten Tages zog es Helmbrecht nach dem Hause, das seine teuersten Menschen barg.

Nicht hinein wollte er treten, nur die grüne Jelängerjelieberlaube über dem Balkon und vielleicht ihr helles Kleid darunter schimmern sehen und Fulvos rauhes Bellen hören.

Als er sich aber heranschlich, hörte er aus dem Wohnzimmer unten Crones Geige und das Klavierspiel ihres Vaters, der ihr eine Bachsche Sonate akkompanierte. Der Maler hatte sein Klavierspiel, das er als junger Mensch betrieben, erst in späteren Jahren wieder aufgenommen, nur um sein Kind begleiten zu können. In dem geräumigen Zimmer zu ebener Erde stand noch von der Zeit seines Vaters her ein kleines Tafelklavier, das freilich nicht zum besten gestimmt war, doch für bescheidene Ansprüche genügte.

Jenes Bachsche Duett hatte Helmbrecht schon im vorigen Jahre gehört. Er fand aber, daß die Spielerin inzwischen an Sicherheit und auch an Größe des Tons sehr gewonnen hatte, und horchte, unter der Freitreppe stehend, mit Entzücken der herrlichen Musik, immer darauf bedacht, von drinnen nicht bemerkt zu werden. Da unterbrach plötzlich ein dumpfer Ton aus der Kehle des Hundes, mit dem er einen sich nähernden Bekannten anzumelden pflegte, das Spiel. Im nächsten Augenblick erschien der dunkle Haarbusch des Malers in dem offenen Fenster.

Also ist er es doch! rief der Alte hinaus. Das Chröneli hat Euch zuerst gehört und mir zugeraunt, Ihr stündet draußen, und gleich darauf hat auch Fulvo Euch gewittert. Aber warum tretet Ihr nicht ein? Entrée libre!

Helmbrecht stotterte etwas von seinem erfundenen Gelübde, verstummte aber, als das Mädchen neben ihren Vater an den Fenstersims trat. Sie war sehr ernst und blaß und grüßte den Freund nur mit einem leisen Wink ihrer hellen Augen.

Nein, sagte der Ertappte, dem das Blut ins Gesicht geschossen war, wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, so nehmen Sie keine Notiz von mir, sondern setzen das Spiel fort, als hörte niemand zu. Ich bin nur auf einen Moment ins Freie geschlichen und muß gleich wieder in meine Haft zurück. Aber diesen herrlichen Tönen konnt' ich nicht widerstehen. Bitte, erquicken Sie mich noch weiter!

Der Vater zuckte nur leicht die Achseln, Crone sagte kein Wort. Dann fuhren sie in ihrer Sonate fort und ließen noch ein anderes Stück darauf folgen. Als der letzte Geigenstrich verhallt war, trat das Mädchen, ehe sie das Instrument weglegte, an das Fenster und spähte hinaus. Sie sah nur den Freund sich entfernen und am Ausgang des Gärtchens sich noch einmal umwenden, um mit der Hand zurückzuwinken. Da trat sie mit einem Seufzer, den sie vergebens zu unterdrücken suchte, vom Fenster weg. Ätti, sagte sie, es ist ganz dunkel geworden, ich will die Lampe holen.


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