Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Sechzehntes Kapitel.

Helmbrecht war in schweren Gedanken zurückgeblieben.

Wenn mit Crones Verzeihung das letzte Wort noch nicht gesprochen sein sollte, was war noch zu erwarten? Was hatte dieser eigenwillige junge Sausewind noch im Sinn, der sehr gewöhnt zu sein schien, daß alles nach seinem Kopfe ging? Nun, irgendeinem eigenmächtigen Streich, den er ins Werk zu setzen dachte, um sich vollends zu rehabilitieren und einen glänzenden»Abgang« zu verschaffen, konnte ja ein Riegel vorgeschoben werden. Das aber war nicht vorauszusehen: wie das Mädchen sich dazu stellen würde, ob es dieser Stimme und diesen Augen nicht doch am Ende gelingen möchte, einen tieferen Eindruck auf das unerfahrene junge Herz zu machen, der seinen Frieden auf lange Zeit gefährden könnte.

So viel stand jedenfalls fest: an die Abreise war fürs erste wieder einmal nicht zu denken. Wenn auch für ihn selbst nichts zu hoffen war, er mußte bleiben, bis die Luft wieder rein und sein Freundesbeistand den teuren Menschen im Stäudlinhause nicht mehr vonnöten war.

So wenigstens bemäntelte er vor sich selbst seine eifersüchtige Besorgnis. Es war nur schlimm, daß von einem tätigen Eingreifen keine Rede sein konnte, daß es nicht nur unedel, sondern auch unklug gewesen wäre, das Mädchen vor den unbekannten Absichten des reuigen Sünders geradezu zu warnen. Je weniger ihre Gedanken sich mit ihm beschäftigten, je besser. Und so mußte er in peinlicher Zurückhaltung der Dinge harren, die da kommen sollten.

Die Nebelschleier draußen, die den ganzen Talgrund füllten, hatten sich inzwischen verdichtet, ein feiner Regen rieselte herab, der allmählich zu einem massiven Landregen anwuchs. Der Wind heulte ums Haus, fuhr in die Kamine hinein und klirrte an den Scheiben. Vom Stall herüber klang das melancholische Brüllen der Tiere, die ihren Weidegang im Freien vermißten. Helmbrecht saß an seinem Schreibtisch, die Ellenbogen aufgestützt, eine kalte Zigarre zwischen den Zähnen. All seine Philosophie erlahmte gegenüber diesem beharrlichen Unwetter, das so hoffnungslos schien wie seine Zukunft.

An diesem und dem folgenden Tage, wo der Himmel mit kurzen lichten Intervallen seine triste Miene nicht änderte, war Helmbrechts einzige Erquickung der Verkehr mit dem lieben Jungen, der seine Insektenkasten zu ihm trug und mit großem Eifer die kleine Sammlung darin unterbrachte. Doch auch in diese Freude mischte sich ein schwermütiger Gedanke. Er würde den Knaben noch ein paar Jahre lang der Mutter lassen müssen, und da er selbst beschlossen hatte, dem Seehof fern zu bleiben, wie sollte er es anstellen, mit seinem Kinde den bisherigen Verkehr zu unterhalten?

Am vierten Tage, als das Wetter sich etwas zu bessern anfing, wurde ihm der Zustand seines einsamen Brütens unerträglich. Er verließ sein Zimmer und ging den in einen Schlammpfad verwandelten Fußweg zwischen den Wiesen hin nach dem Hause der Justizrätin, doch nicht zu dieser, sondern zu ihrem alten Freunde im Turm.

Er fand ihn in seinem gelben Schlafrock, ein schwarzes seidenes Käppchen auf dem kahlen Hinterhaupt, am Schreibtisch sitzend, über dem an der einzigen von Büchergestellen nicht eingenommenen Wand die Bilder der Astronomen hingen, die er besonders verehrte, Kopernikus, Laplace, Leverrier, Bessel, Encke, zwischen ihnen, von einem Efeukranz umgeben, das Pastellbildchen einer jungen Frau, deren blondes Haar nur auf den ersten Blick darüber täuschte, daß es einst das Konterfei der silberhaarigen Frau Agnes gewesen war.

Sieht man Sie endlich auch einmal wieder, Doktor? rief der kleine Mann, lebhaft aufspringend und Helmbrecht die Hand bietend, die noch die Feder hielt. Nein, Sie stören mich gar nicht. Vielmehr ist es selbst für einen halben Trappisten, wie mich, von Zeit zu Zeit Bedürfnis, ein Menschenwort, will sagen, Manneswort zu vernehmen. Kommen Sie, setzen Sie sich, und wenn Sie rauchen wollen – oder eine kleine Stärkung – aber ich weiß, auch Sie haben dem Alkohol wie dem leibhaftigen Teufel und seinen Werken abgesagt – eine der Extravaganzen unserer doktrinären Zeit. Und freilich, die neueste Räubergeschichte scheint Ihnen recht zu geben.

Helmbrecht sah ihn fragend an.

Ich meine, fuhr der Alte eifrig fort, den Auftritt vom vorigen Sonntag, wo Sie als rettender Engel dazwischen fuhren. Aber sehn Sie, obwohl zunächst die Bowle daran schuld war – auch wir haben in unsern Brausejahren oft genug des Guten zuviel getan, und dann allerlei Unfug getrieben, auch wohl ein schönes Mägdlein erschreckt. So plump aber, wie dieser Junker, haben wir's nie getrieben, wenn besagte schöne Kinder uns nicht auf halbem Weg entgegenkamen. Daß dergleichen Impertinenzen heutzutage für kommentmäßig gelten, daran ist niemand schuld als der hochpreisliche Zeitgeist, der zum Motto hat: Erlaubt ist, was gefällt, scilicet jedem einzelnen Sterblichen, gescheit oder dumm, vornehm oder gemein, da das Evangelium von der schrankenlosen Selbstherrlichkeit des Individuums von allen Dächern gepredigt wird. Was ist die Frucht dieser Doktrin, als die Verachtung aller Zucht und Sitte, alles dessen, was die Gesellschaft bisher zusammengehalten hat, daß sie nicht wie ein Haufen zufällig zusammengewehter Atome auseinanderfällt und in alle Winde zerstiebt, damit nur ein paar Elitegeschöpfe, die sogenannten Übermenschen oder blonden Bestien, übrig bleiben und den Herrscherthron in dieser aufgelösten Welt besteigen? Nein, Freundchen, für den Durchschnitt der Sterblichen, sagen wir meinetwegen für die Herdenmenschen, sind die Gesetze gemacht. Wenn einzelne sich darüber erheben, so mögen sie's auf ihre Gefahr tun. Sie gehorchen ihrer Natur, wie alle anderen Lebewesen – übrigens ein abscheulicher Ausdruck! Aber sie sollen auch von uns andern vom philisterhaften Mittelschlage darauf gefaßt sein, daß wir sie nach unserm bürgerlichen Gesetzbuch dafür zur Verantwortung ziehen, um uns unserer Haut zu wehren!

Der kleine Mann war, während dieser Rede lebhaft gestikulierend, im Zimmer auf und ab gegangen, den weiten Schlafrock mit der linken Hand fest zusammenhaltend. Er blieb jetzt vor Helmbrecht stehen und sagte: Ich weiß, Sie sind auch ein Kind der neuen Zeit, Doktor. Sie haben sich neulich mit Unserer lieben Frau (so pflegte er seine Freundin zu nennen) über Moral und Unmoral gezankt, es lief ja wohl darauf hinaus, daß Sittlichkeit eine Frage des Klimas sei, daß man in unserer gemäßigten Zone nur darum nicht nackt gehen könnte, wie bei den olympischen Spielen in Griechenland oder den Negervölkern, weil die Witterung etwas rheumatischer ist, als unter dem Äquator. Das mag dahingestellt bleiben. Aber daß auch die Gefühle lieber nackend gehen sollten, jede seelische Selbstentblößung berechtigter sei als die Scheu, sein Inneres aufzudecken, die immer nur als Heuchelei betrachtet werden müsse, dagegen möcht' ich ergebenst protestieren. Freilich, ich bin ein Sohn des kalten Nordens, wo man sein Herz warm einwickelt, und die Stadt der reinen Vernunft hat das Ihrige dazu beigetragen, mich gegen die phantastische Zügellosigkeit der heutigen Welt in die Opposition zu bringen. Aber ihr Wilde seid darum doch nicht bessere Menschen, und wenn ihr auf das Naturrecht der Sinnlichkeit und das Recht der Leidenschaft pocht, werdet ihr euch nicht beklagen dürfen, wenn sich Natur und Leidenschaft eines Tags an euch rächen und die Geister, die ihr rieft, euch für genossene Freuden eine schwere Rechnung bezahlen lassen.

Sie glaubten hoffentlich nicht, fuhr er eifrig fort, als Helmbrecht etwas erwidern wollte, ich wüßte den Wert der Leidenschaft nicht zu schätzen. Sie ist die höchste Kraft, die Gott uns gegeben hat, und ohne sie ist nichts Großes, Bewunderungswertes, Unsterbliches durch sterbliche Menschen zustande gekommen. Aber es ist mit ihr wie mit dem Wasser. Pindar hat ganz recht, wenn er sagt: das Beste ist das Wasser. Aber wenn dieses sich auf sein Recht berufen wollte, sobald es alle Damme durchbricht, ganze Länder verwüstet und blühende Gärten unter einer Schlammdecke begräbt, so sagen wir: Holla! Gegen dein Recht, das ein bloßes Naturrecht ist, stellen wir unser Menschenrecht, Leben und Kultur zu schützen. Wir sind dir dankbar, wenn du elektrische Werke in Schwung bringst und stolze Flotten trägst. Aber als ungezogenes Wildwasser dulden wir dich nicht, und wo friedliche Menschen wohnen, mußt du dir gefallen lassen, zu dienen, statt deinen ungebändigten Willen zu unserm Unheil durchzusetzen!

Lieber Professor, versetzte Helmbrecht endlich, als dem Alten der Atem ausging, darf ich auch einmal zu Worte kommen? Erstens also: der Junker, der sich so übel aufgeführt hat, ist alles andere als ein Übermensch. Ich lieb' ihn nicht gerade, muß ihn aber doch gegen Ihre Anklage in Schutz nehmen. Am andern Morgen ist er in tiefer Zerknirschung zu mir gekommen, hat Reu' und Leid gemacht und sich zu jeder Sühne dem Fräulein gegenüber erboten. Daß er sich aber so weit hat fortreißen lassen, ist nicht auf Rechnung des sogenannten modernen Zeitgeistes zu setzen, sondern einfach auf ein Überschäumen seines Blutes, was zu allen Reiten junge Menschen zu frevelhaften Streichen verführt hat. Und glauben Sie wirklich, daß unsere Zeit, die ich wahrlich nicht loben will, einen bis dato unerhörten Grad sittlicher Verderbnis erreicht habe? Soll ich Sie erst an die Sittenfreiheit und -frechheit erinnern, die in unserer glorreichen Klassikerzeit im Schwange war, wo die trefflichsten Männer und Frauen unbedenklich das Recht der Leidenschaft für sich in Anspruch nahmen, wo es mehr noch als heutzutage für das Vorrecht des Genies galt, sich zu erlauben, was einem gefiel, trotz der Mahnung des alten Goethe, für erlaubt nur zu halten, was sich zieme?

Der Alte hatte nachdenklich zugehört. Lieber Freund, sagte er endlich, es würde schwer, ja unmöglich sein, dies auszumachen. Eine Sittenstatistik der verschiedenen Kulturepochen ist noch nicht geschrieben. Ein jeder denkt und urteilt einstweilen nach seinem Gefühl und seiner Erfahrung. Die meine hat mir gezeigt, wie gut ein rechtschaffenes Menschenherz dabei fährt, wenn es seine Wünsche und Sinnentriebe unter das Gesetz der bürgerlichen Sitte bändigt, statt sich auf das Recht der Leidenschaft zu berufen. Ich habe Unsre liebe Frau kennen gelernt, da ich noch nicht vom Frost des Alters angehaucht, sondern ein stürmischer junger Mensch war, der dieses holdselige junge Wesen vergöttern mußte, da er nicht nur von ihrem Liebreiz bezaubert war, sondern auch ihren Charakter aufs höchste verehrte. Und sie war unglücklich, wie Sie wissen, und dankbar für die warme Freundesteilnahme, die ich ihr widmete, und von Dankbarkeit zur Liebe ist nur ein kurzer Schritt, den sie dann auch getan hat. Denn damals, ohne Ruhm zu melden, war ich noch nicht eine so kahlköpfige alte Eule, wie heutzutage, und galt in der Gesellschaft für keinen verächtlichen Bewerber um Frauengunst. Wir waren todunglücklich, einander nicht besitzen zu sollen. Aber glauben Sie, daß wir jetzt in unsern alten Tagen so heiter und freudig nebeneinander hinleben könnten, wenn wir den Makel auf unser Gewissen geladen hätten, den arglosen Mann betrogen zu haben, der freilich ein schnöder Geselle und hin und wieder eine Bestie war, damit aber uns keinen Freibrief gab, uns jenseits von Gut und Böse zu dünken? Nein, Trautester, um diesen Preis hätten wir das kurze Sinnenglück zu teuer bezahlt und genießen nun unsern Abendfrieden in einer gegenseitigen heiteren Liebe und Treue, die so beseligend ist wie kein Taumel zügelloser Leidenschaft.

Er wandte sich ab. Helmbrecht bemerkte, daß es feucht in seinen kleinen scharfen Augen schimmerte. Er hätte mancherlei zu erwidern gehabt, ehrte aber die bewegte Stimmung, in der er den Alten zum ersten Male sah, und nahm mit einem stummen herzlichen Händedruck von ihm Abschied.


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