Paul Heyse
Crone Stäudlin
Paul Heyse

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Fünfzehntes Kapitel.

Als Helmbrecht am anderen Morgen später als sonst erwachte, sah ihm ein grauer Tag ins Fenster.

Über Nacht war ein schwerer Föhn aufgestanden und hatte dichtes Gewölk ins Tal hineingewälzt, das in weißen Fetzen sich an den Fichtenwipfeln verfangen und begonnen hatte, sich in schweren Tropfen zu lösen. Der dunkle Hügelstrich drüben am Horizont war völlig verduftet, die Ebene unten in einen Nebelsee verwandelt, der uferlos in die Ferne hinauszuschwimmen schien. Für die sommerliche Jahreszeit ein ungewohnter Anblick, der schon an den Herbst erinnerte.

Auch in Helmbrechts Innerem sah es grau und unheimlich aus. Was er am gestrigen Abend erlebt, hatte ihn lange wach gehalten, nicht sowohl die Szene mit dem jungen Menschen, dem er den Meister gezeigt hatte, als das Nachspiel mit Crone.

Denn nachdem sie eine Weile schweigend neben ihm hergegangen, war sie plötzlich stehen geblieben, wie wenn vor innerer Erschütterung die Kräfte sie verließen, und hatte einen tiefen Seufzer ausgestoßen, zugleich ihren Arm ihm entziehend.

Liebe Crone, hatte er gesagt, es hat Sie angegriffen. Aber werfen Sie's hinter sich. Es ist ja nichts Schlimmeres, als wenn ein wütender Hund Sie angefallen hätte, der noch zur rechten Zeit habe kuschen müssen. Kann so ein Mensch, den der Wein um seine Besinnung gebracht hat, Sie beleidigen?

O nein, sagte sie sehr ernst, beleidigt fühl' ich mich nicht, nur traurig. Ist es nicht furchtbar, daß ein Mensch, der so schön ist, der eine so wundervolle Stimme in der Brust und so viel Musik in der Seele hat, plötzlich zum Tier werden kann? Das hat mir so schneidend weh getan. Wenn es ihm gelungen wäre, mein Gesicht zu berühren, ich würde den Ekel und Schauder nie verwinden können. Ich kann Ihnen nicht genug danken, daß Sie mich davor verwahrt haben.

Und glauben Sie nicht, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, daß auch er es furchtbar empfinden und sich zu Tode schämen wird, wenn er zur Besinnung kommt? So schwer er sich auch an mir vergangen hat, ich kann mir nicht vorstellen, daß er eine niedrige Natur sei, sondern es haben ihn nur in einem unbewachten Augenblick, da der Rausch ihn übermannte, alle guten Geister verlassen. Während er sang, war er ein ganz anderer – ich habe nie so singen hören, auch nicht in Italien.

Ich freue mich, hatte er mit einiger Schärfe erwidert, daß Sie so milde über ihn denken, etwas milder als ich. Auch Fulvo, wenn er die Szene mit angesehen hätte, würde schwerlich um seiner schönen Stimme willen ihm alles verziehen haben, und mein Dazwischentreten wäre dann unnötig gewesen.

Ja, sagte sie, indem sie weiterging, ich bin froh, daß ich ihn zu Hause eingeschlossen habe, eh' mich die Musik hinüberlockte. Er ist unberechenbar und wird zuweilen durch irgendein Instrument oder eine Stimme gereizt bis zur Wut. Nur wenn ich spiele, hört er zu, als hätte er besonderes Vergnügen daran. Aber nun bin ich zu Hause. Nochmals innigsten Dank, lieber Freund, und gute Nacht!

Sie hatte ihm ihr Händchen gereicht, das noch kalt war vom Schrecken und ein wenig zitterte. Als die Tür sich dann hinter ihr geschlossen hatte, stand er noch eine Weile unter dem dunklen Balkon. Es war ihm unselig zumut. Einen wie tiefen Eindruck mußte der Jüngling auf sie gemacht haben, wenn sie ihm seine brutale Beleidigung nicht schwerer nachtrug, sich nur um seinetwillen dadurch gekränkt fühlte! Freilich, ein so leuchtendes Augenpaar, eine »Siegfriedgestalt«, dazu diese herrliche Stimme – dergleichen war ihr in ihrem jungen Leben wohl noch nie begegnet, da sie selten in ein Theater gekommen war und vielleicht nie Gelegenheit gehabt hatte, wie andere Mädchen ihres Alters sich in einen schmucken Tenor zu verlieben. Und da von allen Künsten die Musik die größte Macht über sie hatte, war's ein Wunder, daß das Ereignis dieses Abends sie so tief ergreifen und wohl auch in anderem Sinne nicht so bald verwunden werden konnte?

Ein scharfer Schmerz stieg in ihm auf. Er hatte sich ja früher schon damit zu beschwichtigen gesucht, daß er darauf gefaßt sein müsse, eines Tages werde der kommen, der sie lehren werde, zwischen Dankbarkeit und Liebe zu unterscheiden. Doch so ernst es ihm damit war, aller Selbsttäuschung zu wehren, immer noch war im Grunde seines Herzens ein Funke von Hoffnung fortgeglommen, den nun dies Erlebnis erstickt hatte.

Als er sich so weit fassen konnte, mit gleichmütigem Gesicht zu den Leuten im Wirtsgarten zurückzukehren, fand er Tische und Bänke leer, nur wenige von den Kurgästen noch in der Halle, die die einzelnen Auftritte des Abends besprachen. Unter ihnen war auch Yvonne, die ihm mit einer freundschaftlich teilnehmenden Miene entgegentrat. Ob Fräulein Stäudlin auch gut nach Hause gekommen sei und den entsetzlichen Schrecken ohne böse Folgen überstanden habe? Sie sei freilich kein verzärteltes Mutterkind, sondern eine kräftige Schweizernatur. Aber immerhin – nun, so werde sie's wohl verschlafen. Schade um den schönen Abend, der so häßlich geendet, und schade um den reizenden jungen Menschen, den sein Rausch so entstellt habe! Aber großartig habe er, Helmbrecht, sich ausgenommen, wie ein Sankt Georg, der auf den Drachen herabfährt und die schöne Prinzessin befreit. Das Herz habe ihr stillgestanden im ersten Augenblick, da sie gefürchtet, es werde zu einem wütenden Kampf kommen, aber das Ungeheuer sei ja förmlich zusammengeknickt unter seiner Faust, und er, der nun wieder als Lebensretter erschienen, habe das so nonchalant behandelt wie der Heißsporn Percy – »Gebt mir Arbeit!« – es sei geradezu wundervoll gewesen, und er werde ihr bis an ihre letzte Stunde in dieser Pose vor der Erinnerung stehn.

Er hatte auf diesen Ausbruch schmeichelnder Begeisterung kaum eine Silbe erwidert und sich rasch in sein Zimmer zurückgezogen. Beim ersten Erwachen aber am anderen Morgen fiel ihm alles, was ihn gestern aufgeregt hatte, wieder frisch aufs Herz. Er erkannte mit bitterer Klarheit, wie notwendig es sei, daß er endlich Ernst mache mit der Trennung. Auch das Kind war so weit hergestellt, daß kein Grund mehr zur Verzögerung der Abreise vorlag. Er war's sich selbst, seiner Ruhe, seiner Selbstachtung schuldig, keinen Tag länger zu warten und ob auch hinter ihm die Sintflut hereinbrechen möchte.

Als er sich angekleidet hatte und beim Frühstück saß, brachte ihm das Mädchen eine Visitenkarte. Er las den Namen Fritz Freiherr von Dürenstein, stud. jur. Ich mußt' es ja erwarten, sagte er bei sich selbst. Auch kommt mir's gerade recht. Vielleicht ist das die beste Lösung – Lassen Sie den Herrn eintreten.

Er war schon auf der Universität ein Gegner des leichtsinnigen Duellzwangs gewesen. Doch einen ernstlichen Kampf mit einem hämischen Feinde auszufechten, Rache für eine blutige Kränkung eines ihm teuren Wesens zu nehmen, würde er sich nie geweigert haben, nicht bloß wegen der konventionellen Ehrenvorurteile, sondern weil in gewissen Fällen eine gesetzliche Genugtuung für schwere Unbilden nicht zu erlangen ist. Ein solcher Fall schien ihm hier vorzuliegen. Dabei verhehlte er sich freilich, daß nicht sowohl die rohe Beleidigung des geliebten Mädchens nach einer Züchtigung mit der blanken Waffe verlangte, als sein stachelnder Schmerz, den Beleidiger an verführerischen Gaben sich überlegen zu sehn.

Zu seinem Erstaunen aber war in der Miene und Haltung seines Besuchers, als dieser mit höflicher Verbeugung ihm gegenübertrat, nichts Herausforderndes zu entdecken.

Das Gesicht des jungen Herrn war bleich, die Augen, die gestern von Übermut geleuchtet hatten, trübe und zu Boden gesenkt. Er hatte den Hut abgenommen, und Helmbrecht sah, daß sein Haar zerwühlt und seine Stirn wie von einem düsteren Mißmut gefurcht war.

Entschuldigen Sie, Herr Professor, sagte er mit stockender Stimme, daß ich mir erlaube, Sie so früh zu stören, indessen –

Ich bitte, mein Herr, unterbrach ihn Helmbrecht, ich bin nicht Professor, nur Doktor. Darf ich fragen, was Sie zu mir führt?

Nun denn – Herr Doktor – ich wußte nur, daß Sie an der Universität – übrigens, wenn es mir schwer wird, mich korrekt auszudrücken, ein furchtbares Kopfweh –

Im Fall Sie mir als Arzt die Ehre Ihres Besuchs erweisen, versetzte Helmbrecht mit schneidender Kälte – ich praktiziere hier oben nicht und muß bitten, sich an meinen Kollegen, den Kurarzt, zu wenden. In allem übrigen stehe ich durchaus zu Diensten.

O Herr Doktor, sagte der andere, es ist nicht der massive Katzenjammer, der mich zu Ihnen führt, wenigstens nicht der körperliche, sondern der moralische. Erst heute früh habe ich aus dem Bericht meiner Kameraden erfahren, in wie hohem Grade blamabel ich mich gestern abend aufgeführt habe. Zunächst fühle ich das Bedürfnis, mich bei Ihnen, Herr Doktor, zu bedanken, daß Sie noch zur rechten Zeit dazwischen gesprungen und noch Ärgeres verhütet haben, etwas unsanft allerdings, aber ich hatt' es nicht besser verdient. Es war eine grobe Eselei, der viele Wein war dran schuld und dann – das muß ich als mildernden Umstand für mich anführen – das Gesicht dieses Fräuleins, das mich zu gleicher Zeit bezauberte und durch seine kalte Miene rasend machte. Sie sind ja kein junger Mensch mehr, Herr Doktor, doch erinnern Sie sich vielleicht aus Ihren jungen Tagen, daß mit so einer verwünschten Hexe einem so was passieren kann, und daß Kalt und Heiß eine solche Wirkung auszuüben pflegt, daß ein schwacher Mensch aus der Haut fahren möchte. Nein, ich will mich damit nicht weiß waschen. Was ich getan habe, war trotz meiner Unzurechnungsfähigkeit unverzeihlich, und wenn das Fräulein mir dennoch verzeihen will, läßt sie eben Gnade für Recht ergehen. So, nun hab' ich's vom Herzen. Sie gestatten wohl, geehrtester Herr, daß ich mich einen Augenblick setze. Ich befinde mich, wie gesagt, nicht sehr wohl, und der Weg hier herauf war steil.

Er ließ sich auf einen Sessel nieder und starrte trübsinnig vor sich hin.

Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte Helmbrecht: Ich danke Ihnen für Ihre Mitteilung, die ich zu schätzen weiß. Ich war auf eine ganz andere Eröffnung gefaßt. Es macht Ihnen Ehre, daß Sie Ihr Betragen selbst beurteilen, wie es verdient, denn allerdings sollte ein Kavalier auch im schwersten Rausch nie so weit kommen, eine anständige junge Dame mit einer Kellnerin zu verwechseln. Wenn Sie mir aber sonst nichts zu sagen haben, Herr Baron, möchte ich höflich bitten, da ich gerade sehr beschäftigt bin –

Der Jüngling sprang hastig auf. Verzeihen Sie, sagte er, ich hätte noch – ich danke Ihnen, daß meine Erklärung so freundlich von Ihnen aufgenommen worden ist. Daß sie mir trotz alledem nicht leicht wurde, dürfen Sie glauben. Ich spreche sonst lieber eine andere Sprache, eine blankere und schneidigere, auch wo ich im stillen fühle, daß ich unrecht habe. Ihnen gegenüber – aber Sie haben zu tun – also will ich gleich meine Bitte vorbringen: daß Sie bei dem Fräulein meinen Fürsprecher machen möchten. Ich war eben an ihrem Hause, wurde aber nicht angenommen. Es ist ja auch noch keine richtige Visitenstunde. Ich konnt's aber nicht länger auf mir sitzen lassen, und so – ich würde Ihnen unendlich verpflichtet sein, wenn Sie das Fräulein befragen wollten, welche Genugtuung ich ihr geben solle. Ich bin zu jeder, die sie verlangen kann, bereit.

Eine Genugtuung? Wie meinen Sie das?

Nun, ich dachte, da ich das Fräulein öffentlich beleidigt habe, würde sie vielleicht wünschen, daß ich ihr vor dem nämlichen Publikum Abbitte leiste. Ich würde nicht glauben, mir damit etwas zu vergeben, vielmehr den Makel, den ich gestern an mein altes Wappen gespritzt, abzuwaschen.

Er sagte das so ernst und treuherzig, daß Helmbrecht sich in seinem Innern nicht enthalten konnte, ihn in der Tat liebenswürdig zu finden. Doch erwiderte er nur mit trockenem Ton: Ich glaube nicht, daß dem Fräulein an einer solchen »Genugtuung« gelegen ist. Doch da ich nun einmal an der ganzen Sache beteiligt bin, kann ich es Ihnen nicht abschlagen, die diplomatische Vermittlung zu übernehmen, und will sogleich hinübergehen. Ich denke, für meinen Besuch wird die Stunde nicht zu früh sein. Wenn Sie hier auf meine Rückkehr warten wollen – da sind Zeitungen und Zigarren. Auf Wiedersehen also!

Damit ließ er den jungen Mann allein.

Als er nach einer halben Stunde sein Zimmer wieder betrat, fand er ihn noch auf demselben Fleck, wo er ihn verlassen hatte. Er hatte offenbar in seiner ungeduldigen Spannung an nichts anderes denken können, als welcher Bescheid ihm zuteil werden würde.

Fräulein Stäudlin, sagte Helmbrecht, läßt Ihnen für Ihren guten Willen, das Geschehene wieder gutzumachen, danken, sie habe Ihnen aber schon verziehen und wünsche keine andere »Genugtuung«, als daß Sie ihre Bitte erfüllen, sich nicht mehr vor ihrem Angesicht blicken zu lassen.

Der junge Mann hatte sich bei Helmbrechts Eintritt erhoben und die Botschaft mit einer demütig ergebenen Miene angehört. Er verneigte sich jetzt gegen den Doktor und sagte: Meinen verbindlichsten Dank. Sie werden mir aber gestatten, hochgeehrter Herr, diese Antwort nicht als das letzte Wort zu betrachten, das in meiner Sache gesprochen wird. Ich habe die Ehre –

Damit verneigte er sich und verließ das Zimmer.


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