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Achtes Kapitel.

Im Osten der Ebene und des Sees von Thingvellir führt ein Pfad über den Hengelberg nach der kleinen Seehafenstadt Eyrarbakki. Er läuft an einer Anzahl von Geysern und Mineralquellen entlang, die ihren Rauch unausgesetzt gegen die nackte Seite des Abgrunds zu werfen scheinen. Es sind kleine Pfuhle siedenden Wassers in der krustigen gelben Erde, einige weiß und wie die Sterne strahlend, andere rund und tiefblau wie das Auge einer Frau, noch andere oval und blutrot, wie das lebende Herz irgendeines ungeheuren Tieres.

Man hält vorsichtig den sie durchwindenden Pfad inne, denn die Erdkruste ist dünn und heiß unter den Füßen. Manchmal pocht sie wie der Deckel eines kochenden Kessels, und manchmal hört man ein unterdrücktes Getöse unter sich, als ob in den Tiefen der Erde gewaltige Schlachten geschlagen würden, und die Pfuhle beginnen zu brodeln und schäumende Wasserhosen und flüssige Feuerzungen auszuspeien und die Luft mit Schwefeldünsten zu erfüllen.

Ein entsetzlicher, grausiger, teuflischer Ort, einem über einem Kreis höllischen Feuers hängenden Kessel ähnlich. Höher den Pfad hinauf jedoch liegt der Schnee weiß und ruhig und hart, und noch höher hinauf sind die glitzernden Eisberge, und von ihnen kommt, während die Berge in ihren vulkanischen Wehen erschauern, im Winter die Lawine so plötzlich herab, daß kein Mensch sie hört oder sieht, weil sie laut wie die Posaune des jüngsten Gerichtes und schnell wie der Todespfeil ist.

Bei Tagesanbruch an diesem Morgen schritt Christian Christiansson auf seinem Wege nach Eyrarbakki, wo er ein Dampfschiff nach Norwegen nehmen wollte, auf diesem Pfade daher. Obgleich erst zwei Stunden verflossen waren, seit er das Fenster des Fremdenzimmers aufgestoßen und die Pachtausspannung verlassen hatte, war er schon ein kräftigerer und mutigerer Mensch. Dort hatte der Gedanke, allem ein Ende zu machen, ihn völlig beherrscht, und der Selbstmord ihn mit seinem Schatten umrauscht, nun aber war er sich ganz klar bewußt, daß seine Pflicht darin bestände, zu leben, bis Gott seinen Tod anordnen würde. Wie er gesündigt hatte, so mußte er leiden. Bis auf den letzten Tropfen, bis auf die letzte Minute mußte er die über ihn verhängte Strafe auskosten. Seine Strafe bestand darin, ohne die Liebe, die er verwirkt, ohne das Glück, das zu beanspruchen er das Recht verloren hatte, weiter zu leben. Es war hart, aber es war gerecht, und er mußte, ohne davor zurückzuschrecken, dem Leben bis ans Ende ins Auge schauen. Willkommen das Leben denn also, solange es währte! Willkommen der Tod, wann immer er zur Hand war!

Nachdem er die Hitze und den Rauch hinter sich gelassen und auf die klaren Höhen darüber hinausgelangt war, blieb er stehen, um zurückzublicken. Die Welt ringsum lag weiß und starr unter dem Schnee der letzten Nacht, ein roter Schaft der noch nicht aufgegangenen Sonne kreuzte die äußersten Gipfel und die Täler unten schliefen noch im Nebelschleier. Er glaubte die Kirchenglocken läuten zu hören, und dieser liebliche, menschliche Laut bahnte sich seinen Weg durch den Dunst der Schwefelgruben zu ihm hinauf, wie etwa der Gesang eines Sternes sich durch die Wolken dieser Welt zu den Ohren der im Himmel weilenden Seelen aufschwingen mag.

Plötzlich ging die Sonne auf und der Nebel fiel, und dann sah er im Tal die Kirche selbst und die Heimat, die er verlassen hatte. Er ließ Glück und Liebe und warme Behaglichkeit dort zurück, denn darin bestand die Genugtuung, die er den von ihm geschädigten Seinen geben wollte, und nun ging er als Sühnopfer gegen Gott allein, von allem entblößt und von allen ungekannt von dannen.

Dieser Gedanke überstieg fast seine Kräfte, doch lächelte er traurig für sich hin, als er glücklich die Freude und Überraschung sich ausmalte, wenn das Mädchen mit dem Taschenbuch zutage kommen und der Versteigerung Einhalt tun würde. Auch an seine Mutter dachte er, mit wie dankerfüllter Seele sie in der Kirche sitzen würde, und an Elins süßes, herzzerbrechendes Lächeln, wie ein durch das bleifarbene Fenster fallender Sonnenstrahl es verklärte. Nicht so hatte er sich seinen Abschied von den Seinen gedacht, als er zehn Jahre lang im Schweiße seines Angesichts und seiner Seele dafür gearbeitet hatte, daß er heimkehren und Vergebung finden möge. Nicht in dieser Welt jedoch sollte ein irdischer Vater ihm entgegeneilen und seine Arme um ihn schlingen. Wie er gesät hatte, so mußte er ernten, und alle seine Reue und Tränen konnten, was er getan hatte, nicht ungeschehen machen.

Es währte lange, ehe er sich entschließen konnte, seinen letzten Blick auf die Heimat, die er nun für immer verließ, zu werfen, und als er dann endlich mit einem tiefen Atemzug weiterschritt, konnte allein der Gedanke, daß Thora mit ihm zufrieden sein würde, weil er Magnus ihr Kind gelassen hatte, ihn aufrecht erhalten. Er glaubte, ihre Stimme von der andern Welt ihm zurufen zu hören: »Wohl getan! Armes, tapferes, verwundetes Herz, Gottes Engel frohlocken über dich!« Es war jedoch schwer, in dem Frohlocken der himmlischen Heerscharen Genüge zu finden, solange sein Blut noch warm in seinen Adern rann und sich nach menschlicher Gemeinschaft sehnte.

Ehe er dessen gewahr wurde, hatte er den Fuß der Gletscher erreicht, jener weiten, einsamen Ruhestätten der Natur, die nie ein menschlicher Fuß, nie ein Tier betritt, wo kein Vogel singt, keine Blume blüht, wo allein der Wind nur über regungslosen Eiswogen klagt, und die Sonne in nackter Öde über den Schlünden der gefrorenen Tiefen aufgeht. Von diesem Platz zurückblickend, konnte er von dem Tal und den menschlichen Wohnstätten nichts mehr sehen, nur ein weiter Umkreis schweigsamer weißer Berggipfel zeigte sich seinem Blick, zwischen denen er das einzige lebende Wesen war. Und dann berauschte der Gedanke, daß er, abgeschnitten von der übrigen Menschheit, allein zwischen dieser großartigen, aber schauerlichen Umgebung sich befände, seine Sinne und beeinflußte ihn wie Musik, wie Komponieren, mit einer Art von Begeisterung, die halb Entzücken, halb Schmerz war.

In diesem Sturm der Gefühle fragte er sich, ob sein Leben ein durchaus vergeudetes gewesen sei, ob das Glück sich für immer von ihm gewandt, ob, weil er gesündigt hatte, nichts als Entsagung und Leid vor ihm läge? Und dann kehrten die Lehren aus seiner Kinderzeit in einer neuen und erhabenen Auffassung ihm ins Gedächtnis zurück, und zum erstenmal enthüllte sich ihm die Aufgabe des Lebens, die Bedeutung des Todes. Die Aufgabe des Lebens war Pflichterfüllung – Recht zu tun, ohne an Belohnung oder Strafe zu denken; die Bedeutung des Todes war, der sündigen, reumütigen Seele die Vergebung zu bringen, die die Welt nicht gewähren kann.

Dann also Dank Gott für das Leben, aber ebenfalls Dank Gott für den Tod! Was immer eines Menschen Sünde sein mochte, die Natur konnte sie nicht vergessen; die Barmherzigkeit Gottes aber kannte kein Maß der Schuld und die Tore des Himmels waren weit!

Gott verhüllte Sein Antlitz vor Seinen Geschöpfen, und Seine unendliche Weisheit war dem fragenden Blick des Menschen ebenso unerforschlich wie diese weißen Wände von Eis und Schnee. Vor zweitausend Jahren jedoch hatte ein einfacher Galiläer das Lebensrätsel gelöst, wie es nie ein Mensch vor oder nach ihm getan hatte. Er hatte es für die ganze Menschheit, Gute oder Böse gelöst, besonders aber für alle lebensmüden Sünder wie er selbst, für die die Welt kein Erbarmen, keine Vergebung kennt. Und obgleich er auch der Schuldigste der Schuldigen sein mochte, und seine Sünde sich an ihm gerächt hatte, und er als Preis für seine Reue alles das aufgeben mußte, was er als Teuerstes im Leben erachtete – die Liebe seines Kindes und die Hoffnung auf Verzeihung und Versöhnung – so warteten seiner doch Liebe und Verzeihung und Versöhnung, wenn Gottes eigne Stimme ihn rufen und sein sterblicher Leib sich in Unsterblichkeit kleiden würde.

Zu dieser Zeit befand er sich in einer Stimmung, in der es einem Menschen seiner Gemütsart schwer wird, das Wirkliche von dem Eingebildeten zu unterscheiden, in der er die Stimmen der Natur hört und sie für Stimmen aus der andern Welt hält. Ohne es zu wissen, war er von dem Bergpfade, der durch aufrecht im Schnee stehende Steine bezeichnet war, abgekommen, als das vulkanische Feuer im Schoße der Berge dieselben mit mächtigen Pulsschlägen erschütterte, und die schauerliche Ruhe plötzlich durch ein Krachen und ein widerhallendes Grollen, einem von den schneebedeckten Gipfeln zurückgeworfenen, niederfahrenden Donnerschlag ähnlich, unterbrochen wurde.

Oskar Stephenson sah und hörte und fühlte nichts. Er war sich nur des Ausbruches einer himmlischen Musik bewußt, der Empfindung, als ob zehntausend Engel einen Wechselchor, einen triumphierenden, mit jeder Minute lauter und lauter werdenden Lobgesang anstimmten; der Empfindung eines blendenden Lichtes und eines entsetzlichen Dahinrasens, gerade in die Strahlen der Sonne hinein; der Empfindung vom Anbruch des Tages des jüngsten Gerichtes, vom Abschluß des Lebens dieser Welt mit seinem geschäftigen Treiben, seinen beendeten Schaustellungen, seinen in das Nichts versinkenden Ehren, Auszeichnungen, Standesunterschieden, seinem Gold, Reichtum und Ruhm; der Empfindung, sich mit einer unendlichen Schar von Königen und Bettlern, guten und bösen Menschen, Schuldigen und Unschuldigen außerhalb der großen Richterhalle zu befinden und dort unter den Geringsten und Beschämtesten niederzuknien; der Empfindung von einem zu ihm sich herabbeugenden und ihm »Komm« zurufenden Geiste, in dessen Zügen er beim Hinaufblicken Thora erkannte, bei der Hand erfaßt zu werden; und der Empfindung so beschleunigter und kurzer Atemzüge, daß sie ihn fast erstickten; der Empfindung, mit vorgebeugtem Kopf weiter zu taumeln und von dem beim Emporsteigen singenden Geiste aufwärts geleitet zu werden; der Empfindung einer überwältigenden Gegenwart, des Absterbens und Verhallens der Musik und einer darauf eintretenden schauerlichen Stille, in die hinein eine heilige Stimme ertönte und rief:

» Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, war verloren und ist wiedergefunden

Wenige Augenblicke später war niemand auf dem Hengelberge, die weite einsame Ruhestätte der Natur lag still und weiß und schweigend da.


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